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Die Großstadtindianer (Folge 8)

Ein Brief

An meine Mutter,

hörst Du noch? Siehst noch? Sprichst? Ich höre Deine Stimme, wie sie zu mir spricht, Deine Augen sehen auf mich herab. Sieh mich nicht an, bitte. Ein Gedanke huscht voller Scham durch meinen Kopf. Ich spreche ihn nicht aus, schreibe ihn nicht auf, ich höre weg … ganz schnell. Nimm die Puppe weg. Sieh mich an! Diese Augen… diese Stimme. Tief in meiner Erinnerung fühle ich ihre Nähe. Ich denke selten daran, während die Welt wie ein tumber Kreisel vor meinen Augen tanzt. Es schmerzt. Immernoch. Vielleicht will ich Dich wiedersehen, Deine Stimme hören … vielleicht. Du fragst Dich sicher, warum ich Dir schreibe, schließlich hast Du nie verstanden, was ich tat. Wie solltest Du auch … Sie übermannte mich unbemerkt, schlich in meine Gedanken, fesselte mein Herz, die Erinnerung – als würde sie dem Vergessen fliehen. Hörst Du noch? Ich spreche … ich schreibe zu Dir, weil ich am Schweigen satt geworden bin. Die erinnerte Nähe treibt mich zu Dir zurück. Warum? Schlußstrich? Neuanfang? Nicht für dieses Mal. Lassen wir es bei dem, was es ist, ein Zwischenspiel.

Über meine Kindheit

Ich hasse Puppen, ein für alle Mal! Diese toten Stoffleiber, denen selbst die unkonkreteste Phantasie kein Leben einhauchen konnte. Du hast es mir nie nachgesehen, wenn ich ihnen die Arme, Beine zuweilen auch den Kopf abriß. Wie solltest Du auch, sie waren ja Dein Ersatz für mich. Daß Kinder durch ihre Puppen die Welt entdecken, daran konntest Du noch glauben, Deiner Mutter dann, die von wichtigen frühen Rollenerfahrungen sprach, nicht mehr. Im Übrigen mit dem gleichen Recht, wie ich Deine Puppen zerriß. Als Du mich das erste Mal fragtest, woran ich glaube, hätte ich Dir die Antwort schon diktieren können. Auch ich hatte Fragen, soviele Fragen, Du keinen Reiz, mir zu antworten. Was soll’s, ich ging ja irgendwann zur Schule. Dort lernte ich nicht nur, die richtigen Antworten zu den richtigen Fragen zu sortieren, sondern auch Kratzen, Beißen, Spucken – gegen die lästernden Rotzlöffel half nur die geballte Faust. Du hast Dich nie gefragt, sicher, Du hättest antworten müssen. So sehr ich Deiner Nähe entstieg, nach welcher ich durch das Puppengrab griff, so sehr verzehrte sich mein erwachendes Herz nach jener Stimme, jenem Augenpaar. Gehört und gesehen, so oft. Ich glaube, Mutter und Kind wachsen voneinander weg, sobald sich der Nabel für jeden verschließt. Woran das Kind gesundet, krankt die Mutter – Erfahrung, die sich nicht von selbst versteht. Mein Weg führte geradeheraus aus Deinen Ansichten, Vorstellungen, Überzeugungen, Gewohnheiten. Heraus aus der Welt Deiner Notwendigkeiten in die Weiten meiner Möglichkeiten. Daß Du mich nur eine kurze Weile noch begleiten konntest, lag an Deinem Horizont, meiner Eile. Die Geister, die Du angebetet hast, kamen mir vor wie die nächtlichen Schatten trauernder Weiden, so fremd und übermächtig, so fern und ohne Halt. Du konntest mich halten, kurz, so kurz. Als ich das erste Mal darüber weinte, war ich kein Kind mehr. Aber wie solltest Du – wie soll das eine Mutter verstehen.

Über die Jugend

Wer ist ein Vater? Der Mann, mit dem Du damals geschlafen hast? Der, mit dem Du heute schläfst? Diese lästigen Blicke, Dein Neid. Ich glaube, ich hatte keinen. Nur frühe Freunde, die mir weis machen wollten, Rock und Knicks wären anständig, Prügeleien nichts für Mädchen und ihr Schwanz die letzte Granate vorm Pazifismus. Du hast nicht verstanden, warum ich so selten daheim war. Der Freiheit seltenes Glück. Ich schweifte umher, probierte mich an Drogen und dem Küssen von Mädchen, prügelte und litt, jauchzte und war betrübt. Du hast immer daran geglaubt, daß Dein rosa Gefängnis mir als sich’rer Hort erschien. Wie solltest Du auch anders. Schließlich lagen alle Deine Hoffnungen dort begraben. Nein, der Verführer lauerte nicht im dunklen Busch am See, er war überall, lockte mich weg mit all dem, von dem Du hättest lesen können, wenn Du gelesen hättest. Mit den Wünschen und Träumen, die in Deinem engen Heim erstickt wären. Mit betörenden Düften, betäubendem Lärm, mit dem flotten Schritt einer Walzerdrehung. Ich habe damals alles umschlungen, was versprach, mich davonzutreiben, hinaus aus den in Stein gegossenen Wänden Deiner Phantasie. Weg, nur weg. Von Dir? Nein, sooft ich der Nähe erinnerte, warf mich der Gedanke zu Boden, eingekauert in der Ecke einer Diskothek, zitternd auf der nächtlichen Bank, die Knie mit meinen Lippen liebkosend oder mit weitausgestreckten Beinen auf dem Bürgersteig, während das Erbrochene meiner Brüder und Schwestern unter meinen Schenkeln Rinnsale bildete. Manchmal meinte ich, Deine Stimme zu hören, wenn sich mein Mund bewegte, traf mich vom Spiegel her Dein Blick. Ich lief und lief, lief und lief, sah mich nicht mehr um, lief und lief. Bist Du mir gefolgt? Wie solltest … wie konntest Du. In der Jugend schließlich bleiben die Mütter als erste auf der Strecke. Bei Dir zumindest war es so.

Über das Altern

Wenn ich mich heute frage, ob hinter der ausgewachsenen Brust ein Mutterherz schlägt oder immer noch das unstete Zittern jugendlichen Überschwangs, sehe ich anstelle einer Antwort Deine Blicke, höre den sanften Ton Deiner Stimme. Ein wenig Angst kommt mir dabei. Doch beruhigt es mich zu wissen, daß nicht jeder Baum dem anderen gleicht, die Geschichte keine Kreisel zieht, weil jeder von uns sie mitbestimmt, mancher Apfel weit vom Stamm getragen wird, Männer sich bisweilen Jungfrauen nennen und nicht jede Frau gleich eine Mutter ist. Heute weiß ich, nicht jedes Zuhause ist ein Gefängnis, zwischen Leben und Leiden liegt das Glück, so wie ich damals, zwischen Dir und einem Mann. Ich weiß, daß ein Kind weder Mutter noch Vater braucht, sondern Menschen, die sich sorgen, lieben, wünschen, träumen. Altern bedeutet doch nicht, in seinen Rollen zu erstarren, aufzugeben, zu verlieren, sondern nach den Träumen zu greifen, sich die Wünsche zu erfüllen, deren unerbittliches Drängen Dich aus der Jugend befreit. Mein Trauern ist mit Dir, weil Du Dich schon so früh von Deinen Möglichkeiten verabschiedet hast. Aber wie solltest … wie konntest Du auch anders, hast Du doch an fast alles geglaubt, was man Dir erzählte. An den Mythos vom Kampf der Geschlechter, an die bürgerliche Beschränktheit im Wünschen und Träumen, an die einzige wahre Liebe, die Dir immer wieder mißriet, die zwischen Mann und Frau; und dabei hast Du all zu oft vergessen, wie nah Dein Glück bei Dir weilte, wenn auch kurz, so doch zum Greifen nah, wie sehr mein Herz Deiner Nähe sehnte. Bitte Mutter, vergiß mich nicht, solange ich Deine sanfte Stimme höre, das Leuchten in Deinen Augen spüre, erinnere ich mich an das, was ich für Dich war, Dein Kind. Moni

(Fortsetzung folgt.)

(clov)

…eine Geschichte

Albrecht Paluttke – Folge 3

Block-Schnäppchen

Puh – das wär’s. Jetzt noch den Krempel zur S-Bahn und dann geht’s ab. Früh um 5 is ja auch wirklich ne blöde Zeit um in Urlaub zu fahren, aber ich bin froh, daß wir überhaupt noch ´nen Flieger gekriegt haben. Bulgarienurlaub – Mann, wenn ich mir das früher nur vorgestellt hätte! Da hätt´ ich doch´n Jahr lang Sonderschichten schieben müssen. Heutzutage ist das ja der Billigurlaub schlechthin und dabei gar nicht mal schlecht. Ich krieg´ ja immer feuchte Augen, wenn ich seh´ wie da unten teilweise noch der Osten pur herrscht. Dass die das nicht aus Spaß machen, ist natürlich noch ne ganz andere Geschichte; da geht’s uns noch richtig gut, im Vergleich zu denen. Da würde sogar Dieter das Jammern vergehen. Aach, jetzt bloß nicht mehr an Dieter denken. Da kann ich ja gleich hier bleiben! Was mich das beschäftigt hat die letzte Zeit – und schlafen konnt ich auch wieder nicht! Alles fing an, als wir letzte Woche im Garten saßen. Ich hab ja gleich gemerkt, dass mit dem Dieter was nicht stimmt. Wenn man so lange zusammen den Leipziger Nahverkehr bedient hat, merkt man doch gleich, wenn einer was aufm Herzen hat. Nicht dass ihm das Bier nicht geschmeckt hätte – da war er wie immer Top in Form. Aber ziemlich abwesend und wortkarg halt, und trotzdem, als ob er mir irgendwas zu sagen hätte. Irgendwann als er dann seine Kippe im Geranientopf ausdrückte, ist mir der Geduldsfaden gerissen: „Mensch Dieter hör auf – die Rita macht mich doch rund! …und jetzt lass endlich mal die Katze aus´m Sack – was is´n heute mit dir los?!“

Na ja“, fing er an zu stammeln, „Palluttke, ich wollt´s dir ja schon lange mal erzählen, aber ich weiß ja gar nich´ wie ich’s dir erklären soll – du wirst das eh nich´ so gut finden. Ich kenn ja deine Meinung zu solchen Gegenden. Aber es gibt nun mal driftige Gründe… Na jedenfalls ziehen wir um! Natürlich in was Billigeres – was richtig Billiges. Inge und ich ham´s satt ständig immer nur mit so paar Kröten in der Tasche rumzuhängen und ab nächstes Jahr soll´s ja noch enger werden mit der Stütze. Natürlich sind wir dann nicht mehr in Stötteritz, sondern… in Grünau halt. So, jetzt isses raus Pallutke… jetzt kannste von mir denken, was de willst, aber wir geh´n demnächst in einen von diesen Billigblöcken, die erst abgerissen werden sollten und jetzt unsaniert angeboten werden.“

Ich dacht ja erst mir bricht der Gartenstuhl weg, (nun gut, die alten Alu-Teile sind zwar noch ausreichend, bei solchen Hiobsbotschaften, kann man aber mittlerweile schon mal kurz die Orientierung drin verlieren) „Mensch Dieter“, fing ich an zu stammeln, „doch nicht etwa diese ollen Blöcke, wo die LWB jetzt an sozial schwachen Leuten Kohle verdienen will, wenn nächstes Jahr mit dem Hartz IV, dieses Arbeitslosengeld 2 eingeführt wird. Da kommt doch nichts Gutes bei raus – das wird doch´n einziges Elends-Getto! …und da wollt ihr hin?“

Problemkind war er ja schon immer unser Dieter. Aber bei uns in der Brigade war das damals nie´n Thema; der Dieter der gehört zu uns, haben wir letztendlich immer gesagt, wenn´s mal wieder schlecht lief mit ihm. Irgendwie haben wir´s immer geschafft ihn mit durchzuschleifen und seine kleinen und großen Eskapaden zu deckeln. War ja auch sonst ´n feiner Kollege und irgendwie hat er´s ja fast immer wieder ausgebügelt. Klar war´n wir manchmal sauer, aber wer konnte dem schon lange böse sein? Wenn ich nur an Geschichten, wie Dieter als steppender Straßenbahn-Entertainer, denke… Der hat´s mal drauf gehabt, mitten in der Hauptverkehrszeit total besoffen die Fahrgäste mit Showeinlagen zu Klassikern aus dem Kofferradio zu unterhalten, anstatt die verdammte Bimmel endlich Richtung Taucha zu bewegen. War natürlich nicht so toll für den Fahrplan…, aber die Massen haben getobt und geklatscht und so mancher hat dabei seinen Alltagsstress vergessen und mitten im öden Feierabendtrott mal wieder ein Leuchten in die Augen gekriegt.

Ich meine, er hat sich ja nun ganz schön gefangen im Laufe der Jahre. Vor allem Inge hat da auch ´ne große Rolle gespielt. Aber von diesem schmalen Grat kurz vorm sozialen Absturz, da isser irgendwie nie ganz weggekommen. Die letzten Jahre, nachdem wir alten Säcke alle abgewickelt worden waren, ging’s ihnen dann wohl eh ´ne Weile nicht so gut, aber dass es schon so weit ist, hätt ich ja nun nicht gedacht. Und wenn gerade der jetzt noch in so ´ne Gegend kommt… Vor allem ist ja dann abzusehen, dass dann dort massenhaft richtig verkrachte Existenzen landen – da kriegt der doch gar nichts mehr auf die Reihe!

Ich hab ihm dann versucht klar zu machen, dass ich ja nicht grundsätzlich gegen Grünau bin. Klar, wer dort wohnen möchte – wäre ja auch blöd, wenn alle nach Stötteritz gehen würden. Aber ich weiß doch auch, dass er sich dort auf keinen Fall wohlfühlen würde und letztendlich werden ihm die paar gesparten Kröten wohl kaum sein vertrautes Umfeld ersetzen. Na ja, wir haben uns dann noch ziemlich lange unterhalten, was man sonst so machen könnte und auch paar gute Ideen gehabt. Irgendwie schien er dann schon bisschen erleichtert zu sein und hat mir dann versprochen noch mal drüber zu schlafen und auch mit Inge zu reden.

So, jetzt muss ich noch mal kucken, ob hier auch alles aus ist. Na ja, Olaf wird schon mal nach dem rechten schauen kommen. Der ist doch eh froh, wenn er die Bude mal für sich und seine „Revoluzzer-Freunde“ hat. Solange die hier alles wieder aufräumen… Bloß dass mir hinterher nicht noch mal irgendwelche komischen Kekse rumliegen und Rita kichert wieder die ganze Nacht.

Was? Nein nein, ich träume nicht rum. Klar hab ich die Pässe… und die Tickets auch, ja. Jawoll Rita – kann losgehen!

lydia

früh um 5 in stötteritz

Die Großstadtindianer (Folge 0)

Ich erinnere mich noch als wäre es heute. Kalle und ich, wir waren wieder einmal unterwegs auf einem unserer Streifzüge durch die Städtische Bibliothek. Mit einiger Not hatten wir uns an den gestrengen Blicken der bebrillten Damen am Empfang vorbeigedrückt. Kalle war es zuvor gelungen, den Wachmann gleich neben der Eingangstür mit seinem altbewährten Trick abzulenken. Und da standen wir nun, inmitten der unzähligen Regale, die im schmalen Licht der Fenster unter der Last der Bücher gedankenschwer ächzten. Während ich unschlüssig meinen Zeigefinger über die Bücherrücken gleiten ließ, hatte sich Kalle sofort auf das Regal mit den Piratengeschichten gestürzt. Er liebte diese Erzählungen über raubeinige Seeleute. Das Meer als letztes Reservat von Freiheit und Müßiggang, das war Kalles Lieblingsgedanke. Ich blätterte etwas lustlos in Godwins Roman über den Bauernsohn Caleb Williams. Doch konnte ich mich nicht so recht entschließen, es einzustecken, und schob das Buch deshalb zurück ins Regal. Als plötzlich Kalles Warnruf neben meinem Ohr raunte: „Achtung, Aufsicht!“ Blitzschnell verschwanden wir über die nächste Treppe Richtung Keller. Ich spürte Kalles gefaßten Atem hinter mir, stieß die hindernde Tür vor uns mit dem Fuß auf und wir drückten uns hindurch.

„Materiallager“ hatte in fetten Lettern auf der Tür gestanden. Das matt zuckende Licht mehrerer defekter Neonlampen ließ die Ausmaße des Raumes nur schwer erkennen. Über die Regale zogen endlose Schlangen eingestaubter Bücher, auf dem Boden türmten sich Berge von Zeitungen und Papier. „Mann, das ist ja ein richtiger Freibeuterschatz!“, entfuhr es dem staunenden Kalle. Er rammte mir seinen Ellenbogen in die Seite und ging zu einem der Regale, „Sieh dir das an, Finn! Marx, Engels, Lenin, ganze Regale, und ein Haufen Literatur dazu.“ Er drehte sich zu mir: „Warum die das wohl hier horten?“ Ich zuckte etwas ratlos mit den Schultern: „Vielleicht hoffen sie auf bessere Zeiten.“ Kalle schmunzelte: „Mit Marx und Engels? Und Lenin??“ Im Vorbeigehen strich er über die Bücher. Ich folgte ihm und brummte: „Immerhin ein Anfang.“ Dabei blieb mein Fuß an einem der Papierberge hängen, die sich auf dem Boden stapelten, und riß ihn zur Hälfte um. „Paß doch auf!“, zischte Kalle, „Muß ja keiner merken, daß wir hier rumgeschnüffelt haben.“ Ich beugte mich über das lose Papier. Es waren Manuskripte, manche handschriftliche Kopien alter Zeitungen. Einige auch geheftet und gebunden. Beim Überfliegen las ich Titel wie: „Sozialist“, „Der arme Konrad“, oder „Die Revolution“. Als ich tiefer kramte, entdeckte ich zwischen den Seiten einer Ausgabe von 1895 ein kleines, schwarzes Büchlein mit rotgefärbten Seiten. Ich schlug es auf, doch die meisten Seiten waren leer, nur am Anfang waren einige Sätze in feiner Handschrift eingetragen. Ich begann zu lesen: „Für den Finder. Dieses Buch ist kein gewöhnliches. In seiner Entstehungszeit wurden nur wenige Dutzend von ihm angefertigt. Damals, es waren unruhige Zeiten, ging die Sage von einer neuen Zeit, die anbrechen sollte. Die Diener der dunklen Macht sollten endlich geschlagen und vom Erdenball verdrängt werden. Ein jeder mit reinem Herzen wartete auf jene Helden der neuen Zeit, doch sie kamen nicht. Von Jahr zu Jahr geriet jene alte Sage mehr in Vergessenheit, bis nur noch wenige Gelehrte sich an sie erinnerten. Aus jener Zeit stammt dieses kleine Büchlein …“, ein Geräusch ließ mich hochschrecken. Kalle stürzte um die Ecke und fiel beinahe über mich. Er presste hektisch zwischen seinen Zähnen hervor: „Sie haben uns entdeckt! Da hinten! Eins, zwei drei Leute, der Wachmann ist auch dabei. Los schnell! Wir hauen ab!!!“ Schon stob er in wilder Panik Richtung Tür. Schnell stopfte ich das Büchlein zwischen Gürtel und Hüfte und stürmte Kalle hinterher, der zielstrebig, zwei Stufen in einem nehmend, Richtung Hauptausgang flüchtete. Hinter uns hörte ich noch den Wachmann fluchen: „Verdammtes Pack!“ Dann waren wir durch die aufheulenden Kontrollsperren ins Freie gelangt. Die Sonne empfing uns herzlich warm. Es war ein später Frühlingstag im Jahre 1999. Ich lege den Stift beiseite und schlage das kleine, schwarze Buch mit den roten Seiten zu.

(Fortsetzung folgt)

clov

…eine Geschichte

Die halben Menschen

Der ganze Schlamassel begann damit, dass einige Menschen bemerkten, dass sie anders waren als andere Dinge, wie z.B. Bäume oder Hunde.

Das war als die ersten Mensch entdeckten, dass ein Baum partout nicht auf Menschenkinder aufpassen will und dass ein Hund nicht das bellt, was er (vom Standpunkt der Menschen aus) soll.

Das brachte die Menschen ins Grübeln. So erkannten sie, dass sie noch etwas von den anderen Dingen und Lebewesen unterschied, nämlich dass sie denken konnten und sich die utopischsten Sachen ausdenken konnten.

Sie konnten sich beispielsweise vorstellen auf den Mond zu fliegen oder furchtbar reich zu werden, wenn sie nur genügend Hilfsmittel dazu erfinden würden. Diese Ideen fanden alle Menschen ganz toll und viele von ihnen machten sich, da sie gerade nichts anderes zu tun hatten, gleich an die Arbeit. Es wurden eine ganze Menge Sachen erfunden, die mensch meist auch gut gebrauchen konnte.

So eignete sich eine Hacke viel besser als die eigenen Hände oder ein einfacher Stock dazu, den Boden umzugraben. Oder etwa Autos, die die Menschen die Entfernung vergessen ließ.

Sie setzten sich alle begeistert in ihre Autos um dem langweiligen Leben zu Hause zu entfliehen und endlich die schöne Welt zu sehen.

Ärgerlich war nur, dass weit von ihrem zu Hause auch Menschen waren, die geglaubt hatten woanders wäre das Paradies zu finden.

Schließlich einigten sie sich darauf, dass das Paradies wohl nach dem Leben kommen müsste.

Um sich das hier und Jetzt aber doch zu erleichtern, hatten die Menschen ja sehr viele Dinge erfunden: Scheren, Kondome, Rasierer, Druckmaschinen, Eisenbahnen, Mikrowellen, Fahrräder, Füller und vieles mehr.

Überall verbreitete sich das Gefühl, wenn die Menschen nur genug erforschen, entdecken und erfinden würden, brauchten sie irgendwann einmal keinen Finger mehr zu rühren und hätten das Paradies auf der Erde erschaffen. Jedoch merkten die Menschen, die genau in einer solchen Lage waren sehr schnell, dass dieses Leben tödlich langweilig war.

Jedenfalls war das ganze Leben der Menschen viele, viele Monde später voller Technik und Hilfsmittel und Maschinen. Wenn mensch die Maschinen richtig bediente, ging alles viel schneller und einfacher. Nur dass die Menschen jetzt ihr ganzes Leben damit zubrachten, die Maschinen zu verstehen und sie den Eindruck gewannen, die Maschinen würden über sie herrschen. Da sie die Maschinen aber nicht entmachten konnten, da die Menschen schon zu abhängig von diesen waren, machten sie einfach weiter wie bisher und verschwiegen das Problem.

Ausserdem fiel inzwischen sowieso nur noch einigen Menschen auf, dass sie nicht bloß eine Gehirnhälfte zum Denken hatten und die zweite sich vielleicht vernachlässigt fühlen könnte und dass alles einmal mit gänzlich unrationellen Vorstellungen angefangen hatte.

Einige halbe Menschen begannen ihre andere Hälfte inmitten der Rationalität, die sich überall schrecklich breit gemacht hatte, zu suchen.

Freilich konnten sie, sie dort schwerlich finden, da die andere Hälfte sich völlig irrational, wie sie nun mal ist, beleidigt in eine Ecke verkrochen hatte, in der keiner mehr die Irrationalität suchte.

Warum schaute dort niemand nach?

Weil die ganzen anderen schlauen Menschen, die vorher gesucht hatten, auch nicht geglaubt hatten, das die Irrationalität dort sein könnte.

Ausserdem waren sich die Menschen rational noch nicht einig, ob sie die Irrationalität überhaupt noch brauchen konnten.

lotte b.

Prosa

Die Großstadtindianer (Folge 1)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser I

„Ist das das Buch aus der Bibliothek?“ Kalle war hereingekommen und hatte sich das kleine, schwarze Büchlein vom Tisch geangelt. „Ja, steht aber nicht viel drin, nur die ersten paar Seiten sind bedruckt.“, ich verdrehte etwas die Augen, „Ziemlich mystisch.“. Kalle blätterte nachdenklich durch die rotschimmernden Seiten: „Merkwürdig!?“ „Ja, der Autor wartete wohl auf irgendwelche Helden, die alles Böse für immer vernichten würden.“ „Hmm.“ „Vielleicht wollte er ja ihre Taten aufschreiben, und die Helden sind nicht gekommen.“, ich lächelte Kalle etwas ungläubig zu, „Komische Vorstellungen hatten die damals – ach, wenn das alles so einfach wäre.“ Er brummte wenig überzeugt und vertiefte sich in die wenigen Zeilen.

Ich ließ ihn lesen, ging zum hinteren Fenster und sah hinaus. Von hier konnte man die Ausmaße unseres kleinen Fleckchens Erde nur erahnen. Der Blick fiel geradewegs auf die langsam vor sich hin bröckelnden Ruinen des zusammengesackten Fabrikgebäudes von Gegenüber. Nur die Backsteine erinnerten noch an den einstigen Reichtum. Davor hatten wir mit viel Mühe einen winzigen Acker aufgeschüttet. Es reichte zumindest für das Notwendigste – Kartoffeln, Mohrrüben, ein paar hochgeschoßene Bohnenranken, allerei Gewürze und einiges mehr. Die Vielfalt ließ den Boden gesund bleiben und der eigene Schweiß sorgte für den doppelten Genuß. Wenn man die Nase an dem Fenster nach links plattdrückte, sah man noch geradeso die Verschläge fürs Holz, das Werkzeug und Anderes. Rechts blies der Wind kraftlos in die Wäsche. Die Sonne lachte. Zwischen den Bohnen tauchte kurz ein rot-schwarzer Haarwuschel auf. Mir fiel ein, daß sich Moni ja heute um die Pflanzen kümmern wollte. Ich spähte nach unserem Gartenengel, aber sie war schon wieder zwischen den Pflanzen verschwunden.

Kalle räusperte sich in meinem Rücken und ich drehte mich zurück zu ihm. Er hielt das Buch mit einer aufgeschlagenen Seite über eine der Kerzen. Mir fiel es schwer, nicht lauthals loszulachen. Mein Glucksen schien ihn ein wenig zu ärgern. „Man kann ja nie wissen, vielleicht hätte sich irgendein Hinweis versteckt, Wachsstifte waren einmal sehr beliebt!“, rechtfertigte er sich vorwurfsvoll. „Du bist aber auch immer auf Schatzsuche“, ich nahm ihm das Buch aus der Hand, „Das wird mein neues Notizbuch.“ Kalle starrte mich kurz an, aber dann gefiel ihm plötzlich die Idee. „Genau Finn, du wirst unser Chronist. Die Schreiberei lag dir ja schon immer nah. Wir reißen die beschriebenen Seiten einfach raus und schreiben unsere eigenen Taten hinein. Unsere Geschichte …“ Seine Augen blitzten auf und glitten über die sieben Weltmeere seiner Phantasie. „Das wird aber dann keine Piratengeschichte.“ Ich versuchte seine aufkeimende Euphorie ein wenig zu bremsen, weil ich mir über die Idee selbst noch nicht ganz im Klaren war, aber Kalle sah schon die Lagerfeuer vor sich, an denen unsere Taten erzählt würden: „Naja, ein kleinwenig wie Piraten sind wir schon. Los, Finn, die Idee ist gut. Schlag ein!“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Ich probier mal ein wenig herum, aber versprochen ist nichts, ok.“ Kalle wollte gerade zu einer seiner fünfminütigen Predigten ansetzen, über die Notwendigkeiten, die Dinge beim Schopfe zu packen, Ideen immer sofort in die Tat umzusetzen, den Zweifel zu überwinden … als Boris in eiligem Schritt durch die Tür trat. „Kalle? Finn? Es ist soweit.“ Sein Atem war noch auf dem Weg zu uns. „Der Buggemüller ist losgefahren – das Tuch – das Tuch hängt am Wagen …“ Er verschnaufte kurz. Wenn Buggemüller das Zeichen gegeben hatte, dann blieb uns noch gut eine Stunde, dachte ich, er würde warten. Sein Ehrgeiz war unersättlich. Ich sah zu Kalle. „Du bist unser Mann für die Springerzange.“ Er grinste. „Kein Problem. Den Buggemüller steck‘ ich noch im Halbschlaf weg.“ „Na dann los, wir nehmen den Wagen, die Kiepen und vielleicht noch ein zwei Leute und dann holen wir uns die Gläser!!“ Über unsere Gesichter huschte ein Hauch von Vorfreude und wir stoben in drei Richtungen auseinander, um alles vorzubereiten.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

Die Großstadtindianer (Folge 2)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser II

Nachdem Kalle die Idee meines neuen Amtes als Chronist geboren hatte, war es Boris gewesen, der mich vor einer alle Zweifel vertilgenden Predigt Kalles bewahrte. Freilich, seine Euphorie hatte mich angesteckt: Eine Geschichte unserer eigenen Taten. Aber ich scheute gerade vor den unumgänglich selbstreflexiven Zügen solch einer Unternehmung. Schließlich würde sie ohne kritischen Selbstbezug aus der Feder eines einäugig Blinden stammen. In dererlei Zweifel war Boris mit seiner Nachricht von Buggemüller gestürzt, jenem fettleibigen Fuhrunternehmer der Stadt, und hatte jedwede tiefergehende Diskussion just abgeschnitten. Wollten wir unseren rasant abnehmenden Vorrat an Einweckgläsern wieder mit Nachschub versorgen, mußte sofort gehandelt werden. Buggemüller war der (vertraglich abgesicherte) Entsorger der kleinen Fast-Food-Fabrik am östlichen Ende der Stadt. Sein Job bestand einfach darin, den in der Fabrik anfallenden Müll an die entsprechenden Stellen zu entsorgen. In der Fabrikleitung hatte man unsere Bitten nur mißmutig angehört. Satzfetzen wie: „Wenn da jeder kommen würde.“, „Das geht einfach nicht!“, oder „Der Herr Buggemüller würde anfangen, um seinen Job zu bangen. Und das wollen wir doch alle nicht.“ Ja, ja! Noch immer spukten sie durch meinen Kopf. Dabei wäre alles so einfach gewesen. Ein Anruf und wir hätten die Gläser abgeholt, direkt vom Fabriksgelände und ohne Kosten!? Doch der Mythos vom Fortschritt durch Kostenminimierung hatte einen zutiefst konservativen Kern: Hauptsache alles bleibt, wie es ist! Wegen dieser Halsstarrigkeit mußten wir einen anderen Weg finden, um an die für uns so wichtigen Gläser heranzukommen. Unser Obst war schließlich in der ganzen Gegend beliebt. Nicht nur weil niemand mehr so leicht an Eingewecktes herankam, sondern vor allen Dingen weil jeder es bei uns so ziemlich gegen alles eintauschen konnte: Ob gegen eine überflüssige Packung frische Eier, ein loses Stromkabel oder ein paar saubere Mauersteine. Zum Verkauf sollte nur im äußersten Notfall gegriffen werden, dieser Vorsatz galt wie Ungeschriebenes. Von Geld konnte mensch zwar alles kaufen, was es eben gab, aber selten das, was mensch wirklich brauchte. Daraus mußte man keine Theorie machen, das wußte jeder.

Am Anfang dachten wir daran, in die Deponie einzusteigen und die Gläser einfach zu mopsen. Doch der Stacheldraht der Halde lag hoch, die Hunde gehörten dringend in die Therapie und es wäre auch schwierig gewesen, die Kameras auszuschalten. In einem Wort, der Müll der Stadt war zu gut bewacht und außerdem mußte man davon ausgehen, daß ein Großteil der Gläser beim Entladen schon zerbrochen war. Wie also an die Gläser herankommen? Die Lösung hieß: BUGGEMÜLLER. Während ich darüber nachdachte, wie wir auf Buggemüller gekommen waren, hatten sich meine Schritte denen Kalles und Boris‘ angeschlossen, doch kurz vorm Schuppen wandte ich sie noch einmal Richtung Feld. „Moni!?“ Sie war nirgends zu sehen, nur das Gartengerät faulenzte träge in der Sonne. „Au!!“ Ein Apfel traf mich zielgenau am Hinterkopf und purzelte vor meine Füße. Ich drehte mich jäh herum, doch niemand war zu sehen. Aus der Baumkrone über mir kicherte es leise. „Moni?“

Ihr Wuschelkopf erschien zwischen den Ästen. „Suchste mich?“ „Äh, ja.“, ich rieb mir die kaum noch wahrnehmbare Trefferstelle am Hinterkopf, „Du, der Buggemüller ist mit Gläsern unterwegs. Will’ste mitkommen?“ Moni hangelte vom Baum. „Nee. Laß mal. Das Feld ist fertig und jetzt mach‘ ich gar nichts mehr. Ich leg‘ mich nur noch in die Hängematte und genieße die Sonne.“ Sie wollte an mir vorbeigehen, überlegte, und sagte dann noch: „Außerdem mag ich den Buggemüller nicht!“. Sie blies in meine Haare an der Stelle, wo mich der Apfel getroffen hatte und flüsterte: „Ich mache jetzt die Beine lang, er hebe hoch, der Müßiggang!“ Noch ehe ich reagieren konnte, war sie schnell zwischen die Bohnenranken abgetaucht.

Ich zuckte etwas hilflos mit den Schultern und ging zurück zum Schuppen. In meinem Rücken hörte ich Moni noch rufen: „Du Finn, ihr wascht mir die Gläser doch hinterher noch aus. Die stinken immer so nach saurer Gurke. Pfui, Pfui.“ Ich mußte lächeln. Dieses ‚Pfui, pfui‘ – so wie Moni es sagte – das war Moni. Und sie wußte das. Es erinnerte an die unzähligen Male zuvor, an gemeinsam Erlebtes, an Moni und ihr ‚Pfui, pfui.‘. „Hallo, Herr Tagträumer!“ Ich stolperte fast über Kalle, der mit den Holzkiepen aus dem Schuppen kam. „Nimmst du den Wagen? Boris ist zum Wohnhaus. Er will fragen, ob noch jemand mitkommt. Wir treffen uns vorn, an der Ecke.“ „Gut.“ Ich griff nach der Achse des Wagens. „Und was ist mit Moni?“ „Sie will …“, ich erinnerte mich an ihren Flüsterton, „ …müßiggehen.“ „Aha, soll sie mal. Soviel ist nun auch wieder nicht zu tun. Na dann los.“ Als wir die Ecke erreichten, kam uns Boris mit Schlumpf und Schmatz entgegen. ‚Die beiden …‘, dachte ich und sagte zu Kalle: „Für den Spaßfaktor ist damit auf jeden Fall gesorgt.“ Er lachte nur und gemeinsam gingen wir den Berg hinab, von dem sich die Straße zwischen die städtischen Viertel schlängelte; unsere Heimat im Rücken und unsere Aufgabe weit voraus.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

Die GroßstadtIndianer (Folge 10)

Kein Krieg, Kein Gott, kein Vaterland I

Etwas kitzelt mir die Nase, ‚verdammt‘, ich muß niesen. Ganz kurz, aber der Moment reicht und mein Traum hat sich verkrochen. Da hilft auch kein Suchen mehr. Durch meine verquollenen Augen blinzelt mich der Tag an. Ich zwinkere zurück: ‚Auch noch nicht so alt, Bursche‘. Meine großen Zehen tasten nach den Latschen. ‚Und so schön bist du auch wieder nicht!‘ Mißmutig schiebt er sich eine handvoll Wolken vors Gesicht und macht einen sehr unentschlossenen Eindruck. Morgentoilette – alltäglich, unaufgeregt. Erst als ich über den Platz zum Frühstück trotte, spüre ich, wie einer meiner Lebensgeister aus seiner Flasche kriecht. Aber die anderen, die sind dann echt das Morgengrauen. Finn nagt versunken an einem Kanten Schwarzbrot, Kalle ist früh morgens sowieso kaum ansprechbar und Moni und Schlumpf kann ich an den Augenringen ablesen, wie wenig sie letzte Nacht geschlafen haben. Beim genauen Auszählen der Falten trifft mich Monis Blick, etwas vorwurfsvoll. Ich sehe verlegen zu Schmatz, der im Moment nur Augen für seinen Napf hat. ‚Na wenigstens einer ist heut gut drauf‘, als ich über sein Fell fahre, knurrt er versunken, aber bestimmt. ‚Der will also auch nicht gestört werden!‘ „Na, guten Morgen!“ Der Gedankenfetzen rutscht mir einfach so raus und meine Zunge ist sein williger Helfer. Plötzlich sitze ich im Kreuzfeuer. Alle starren mich an, als würde ich ihnen gleich erklären, warum ihr Tag so scheiße begonnen hat. Ich lasse das aber lieber und entscheide mich stattdessen für einen positiven Ausblick. „Mensch Leute, mit der Einstellung, da kann die Demo ja nur ein Reinfall werden!“ Finn winkt zwar ab, scheint mir jedoch etwas dankbar für den Versuch der allgemeinen Aufmunterung. Kalle macht eine Mundbewegung wie ein Karpfen und will gerade ansetzen, mir auseinanderzunehmen, warum er diese Demo gerade so blöd und unsinnig findet, aber Moni schneidet ihm aber erstaunlich geistesgegenwärtig das Wort ab. „Laß mal gut sein, Kalle, das hatten wir doch gestern schon alles.“ Schlumpf nickt. „Wir ziehen das jetzt einfach durch. Die anderen verlassen sich schließlich auf uns.“ Kalle verzieht sein Gesicht: „Ja, ja und kuscheln sich jetzt noch in ihre Betten. Das ganze Pack von Meuterern. Und auf welchen Schultern lastet wieder die ganze Verantwortung? Na, na?“ Aufreizend blickt er in die Runde. „Steck den Muffel wieder weg, du Seeräuberhauptmann.“ Tatsächlich, Finn grinst ein wenig. „Freibeuter, bitte!“ Alle nicken verständnisvoll. Wenig später sind wir dann auch schon unterwegs: Finn und Moni vorneweg, das Transparent geschultert, ich und Schlumpf hinterher – er hatte Schmatz aus technischen Gründen, mit den Worten: „Streunender Hund von Polizei totgetrampelt, nein Schmatz, das ist denen keine Schlagzeile wert. Du paßt hier auf und sicherst uns den Rückzug.“ gebeten, auf dem Hof zu bleiben – und Kalle trabt etwas abseits, von Zeit zu Zeit einen Kieselstein traktierend. Er hat ja auch Recht, eine Demonstration gegen die Kürzungen und Sparpläne von oben, initiiert von ein paar Bürgervereinen, den Gewerkschaften und der Kirche ist nicht gerade das, von dem sich unser jugendlicher Idealismus eine substanzielle Veränderung der Verhältnisse erwartet. Und schließlich werden wir allenorten wieder den naiven Nationalismus zu hören kriegen, nach dem Motto: „Deutschland muß es wieder besser gehen.“, die banale Logik, den eigenen Landstrich als wirtschaftliche Einheit, als Standort in Konkurrenz mit anderen zu sehen. Aber es werden auch sicher einige Leute mehr kommen als sonst und diese Möglichkeit, auf der ohne Zweifel politischen Veranstaltung, für unsere Ideen, Aktionen und Projekte zu werben, vielleicht die eine oder den anderen aus seinem Taumel zu reißen, dies durften wir uns nicht entgehen lassen, eben wegen unserer politischen Verantwortung. Auch wenn es schwerfallen wird. Ein Sixpack kommt den Berg hinaufgeknattert. Schlumpf pfeift betont und rammt mir den Ellenbogen in die Seite. „Die hatten den Kofferraum voll! Was meinst du, wie die heute drauf sind? Ich hab gestern von Puschel und Locke gehört, daß die Polente schon den ganzen Abend angereist ist. Hamburg, München, Stuttgart, Rostock, Frankfurt Oder, Leipzig, von überall. Die haben angeblich ein Flugblatt abgefangen, in dem zum schwarzen Block aufgerufen wird.“ Ich kratze mir das Haupthaar, „Naja, soviele Militante gibt‘s in unserem Städ‘le ja nun auch nicht. Hoffentlich sind die nicht gestern schon angereist, in den selben Autos wie die Polizei, meine ich.“ „Scheiß Strategie!“ flucht Schlumpf und versucht grimmig dreinzuschauen. Ich muß lachen, „So bist du aber noch einfacher zu provozieren.“ Er starrt mich leicht irritiert an, läßt sich dann aber von meinem Grinsen anstecken. „Du hast recht.“ und beginnt eine tiefergehende Konversation über die Geschichte der Provokateure, einen Monolog eher, den ich nur mit einem Ohr verfolge. Ich blicke zu Kalle. Der doziert, einen Stein mit kleinen Tritten vor sich her treibend, wahrscheinlich eben jenem, noch einmal ausführlich seine Gründe gegen die überhobene Vorstellung nationaler Kollektive und Borniertheit der Standortideologie. Hofft er in dem jahrtausendealten Stein einen ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden zu haben? Ich verwerfe den Gedanken und laufe prompt auf Finn und Moni auf. „Autsch.“ Beide drehen sich um. Während der Schmerz aus Finns Gesicht huscht, lächelt Moni mich an. Das Licht hat die Müdigkeitsfalten geglättet und frische Farbe in ihre Wangen getrieben, „Nicht so stürmisch. Du kannst wohl die Demo kaum erwarten, wie?“ Ich muß einem gezielten Schlag von Finns Transparentstange ausweichen und ziehe mich „sorry, sorry“ murmelnd hinter Schlumpf zurück. Der plustert auch sofort seine schmale Brust auf und geht in Kampfhaltung, bereit seinen Kumpel gegen den Angriff zu verteidigen. Doch bevor die Situation überhaupt die Chance hätte zu eskalieren, ist es Kalle, der ruft: „Hey seht mal, da laufen die ersten mit Transparenten. Kennen wir die nicht?“ Ja sicher, es sind die Leute vom Wohnprojekt und wenig später biegt auch noch ein Dutzend vom Jugendclub um die Ecke. Moni und Finn entrollen unser Spruchband. „Kein Krieg, Kein Gott, Kein Vaterland“ …

(Fortsetzung folgt.)

clov

Lyrik & Prosa

Die GroßstadtIndianer (Folge 9)

Tischlein deck dich, Menschlein streck dich – frei nach Schlumpf

Es war einmal ein kleines Häufchen Menschen, die abseits des großen Trubels und doch irgenwie mittendrin ihr karges Leben den ungestümen Naturlaunen abzutrotzen wagten. An sich noch keine Ungewöhnlichkeit. Für sich genommen allerdings überwogen die Ungewöhnlichkeiten derart, daß selbst die tiefsten Gewohnheiten erschaudern mußten. Naja, ich gebe zu, so manche Angewohnheit ließ sich auch durch Außergewöhnlichstes nicht beeindrucken und wohl gerade deshalb oder vielleicht auch völlig unabhängig davon trug es sich zu, daß äußerst gewöhnliche Dinge an einem ungewöhnlichen Ort durch außergewöhnliche Menschen geschahen.

Wann immer Dingen magische Eigenschaften zugeschrieben wurden, beruhte dies auf dem Glauben der Menschen, die schwer Erklärbares nicht kritisch aufklären, sondern sich am blinden Walten von Kräften ausser ihnen ergötzen wollten. Nun ist die kritische Haltung den Dingen gegenüber keine bequeme, denn sie erfordert das Zu- und Eingehen auf etwas, das Nach- und Hinterfragen, aber sie ist nichtsdestotrotz eine notwendige, um die Dinge, wie die Alten sagen, in die Hand zu nehmen. Als Kalle eines Tages auf die Idee kam, wie schön, bequem und frei doch das Leben wäre, wenn mensch ein Tischchen hätte, welches sich, wie im Märchen, jedes Mal von neuem eindecken würde, sofern wir es ihm nur aufgetragen hätten*, mußten Moni und ich über soviel Naivität derart lachen, daß mir ein folgenreicher Einfall kam. Der Spötter kann dem naiven Gedanken nicht fliehen und wir ersannen einen Plan. Zuerst mußten wir Boris überzeugen, uns einen Tisch zu zimmern, der nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu neu und nicht zu alt war. Als Moni ihm erzählte, wie wir Kalle an der Nase herumführen wollten, grinste er verschmitzt nach Boris-Art und kramte nach einigem Suchen eine Tischruine aus dem Holzlager. Er versprach, ihn bis zum nächsten Tag wieder herzurichten. Als nächstes mußten wir Finn überzeugen. Er teilte sich schließlich mit Kalle eine der Wohnungen im Haus, und wir würden ihn brauchen, damit der Schwindel nicht all zu schnell aufflog. Die Überzeugungsarbeit überließ ich getrost Moni. Finn konnte ihr einfach nichts abschlagen und war zudem immer für solche Späße zu haben. Nun fehlte nur noch jemand, der Kalle den Tisch zukommen ließ, ohne daß er Verdacht schöpfte. Unsere Wahl fiel auf Oma Lotte. Kalle hatte ihr versprochen, am nächsten Tag ihren Dachboden aufzuräumen. Eine gute Gelegenheit. Charlotte Götz war zwar skeptisch, versprach aber, Kalle den Tisch zu überlassen, falls er danach verlangte und seine wahre Herkunft zu verbergen. Wir deponierten das Tischchen auf dem Dachboden, an die Unterseite hatten wir eine Quasi-Gebrauchsanweisung geheftet: „Dieses Tischlein-deck-Dich ist nur für den Nachtgebrauch bestimmt. Vor dem Einschlafen den magischen Vers: ‚Tischlein, liebes Tischlein, deck Dich in der Nacht brav ein‘ dreimal wiederholen und der Besitzer kann sich am nächsten Morgen an den köstlichsten Speisen und Tränken laben.“

Der Plan ging voll auf. Ich beobachtete am darauffolgenden Tag vom Ausguck, wie Kalle abends mit unserem Tisch auf den Schultern in seine Wohnung schlich. Später dann tauchte Finn in der Küche auf und grinste über beide Ohren. „Stellt euch vor, er hat sich eingeschlossen, vor den Tisch gekniet, ganz komische Verrenkungen gemacht und sage und schreibe neunmal ‚Tischlein, liebes Tischlein, deck Dich in der Nacht brav ein.‘ gesäuselt, in unterschiedlichen Tönen, versteht sich.“ Finn zwinkerte, „Aber jetzt schläft er, laut schnarchend.“ Wir machten uns daran, ein Tablett mit allerlei Köstlichkeiten und einem frischen Tischtuch zu füllen. Dann folgten wir Finn leise in die Wohnung. Er schloß Kalles Zimmer auf und wir breiteten das Tuch mit dem ganzen Futter auf dem Tisch aus. Als wir dann noch vergnügt bei einem Gläschen eigenem Obstler zusammensaßen, versprach Finn, während Kalles obligatorischem Klogang am Morgen, alles wieder abzuräumen, um den „magischen Effekt“ noch zu verstärken. An Kalles Verhalten am nächsten Tag konnten wir ablesen, wie sehr er in unsere Falle getappt war. Er machte die ganze Zeit seltsame Anspielungen und seine Überheblichkeit penetrierte derart, daß ich nah daran war, ihm alles zu eröffnen. Doch Moni hielt mich zurück und wir beschloßen, das Spiel noch einmal zu wiederholen. Nach seinem zweiten mystischen Erlebnis war Kalle von den magischen Fähigkeiten seines Tischchens so überzeugt, daß er uns einweihte. Am Abend bestellte er alle in sein Zimmer, sprach den Vers, jetzt nur noch dreimal, und versprach uns für den nächsten Morgen ein üppiges Frühstück. Unsere skeptischen Bemerkungen und ungläubigen Gesichter ließen ihn vollkommen kalt. In dieser Nacht rührten wir selbstverständlich keinen Finger. Als wir uns am Morgen trafen, stürmte Kalle mit puderotem Gesicht durch die Wagentür und keifte völlig entgeistert: „Schöne Freunde seid ihr! Beklaut habt ihr mich!!! Finn, Du steckst da auch mit drin! Das vergeß‘ ich euch nicht!! Da könnt ihr einen drauf lassen! Ihr, ihr … ihr seid nichts als Seeteufelschiß!“ Die Tür flog mit einem lauten Knall zu und Kalle war verschwunden. Finn machte ein Gesicht, als hätte er seine Zahnbürste verschluckt. Moni versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. „Da haben wir ja was angerichtet. Und nun?“ Die beiden hefteten ihre Blicke auf mich. Ich zuckte mit den Schultern. „Am besten erzählen wir ihm alles.“, sagte Moni und Finn nickte hilflos zustimmend. Gesagt getan. Naja nicht ganz. Kalle hatte sich den ganzen Tag in seinem Zimmer eingeschlossen und es dauerte eine ganze Weile, bis wir ihn alle zusammen überzeugen konnten, uns anzuhören. Als er dann auf den Hof trat und wir ihm alles erklärten, sah er uns erst einen Moment versteinert an, spannte dann seine Mundwinkel, griff an den Jutesack, den er sich merkwürdiger Weise an den Gürtel geschnallt hatte und schrie „Knüppel aus dem Sack!“. Noch eh wir uns versahen, sprang ein Stück Holz heraus und hüpfte vor uns auf und ab. Wir stoben in wilder Panik auseinander, während sich Kalle vor Lachen bog. Feixend schrie er uns hinterher: „Ihr seid wohl abergläubisch was?“ – Und die Moral aus der Geschicht‘, Selbstzufriedenheit lohnt nicht. –

clov

(Fortsetzung folgt…)

* für Trekkis sei an die Replikator-Problematik erinnert

Lyrik & Prosa

Wer nicht kämpft, hat auch nichts zu lachen!

Als ich ein kleiner Junge war, glaubte ich an die parlamentarische Demokratie, so unerschütterlich wie ich an die Allwissenheit meiner Eltern glaubte. Ich wuchs. Und mit jedem Zentimeter sammelten sich Zweifel. Skepsis gegenüber den Konventionen, den Normen, Regeln und gegenüber den Gesetzen. Ich traute meinen Augen nicht. Der Widerspruch zwischen dem Idealismus meiner Jugend und den Erfahrungen, die ich zwischen Gesellschaft und Staat lebte, schwoll langsam und grub eine erste Falte in meine Stirn. Mißtrauen geriet mit zwischen Selbsteinschätzung und elterliches Wissen. Ich emanzipierte mich von ihrer Autorität.

Kein Verdruss, denn ich konnte ja bald wählen gehen. Ja was? Was eigentlich? Meine Lebensform in ihrem Verlauf? Die Rahmenbedingungen meiner Projekte und Taten, meines Handelns? Nein. Die Möglichkeiten meiner Wünsche, Träume und Bedürfnisse? Nein. Spielräume und ihre Sanktionen? Territorien und ihre Verfassung? Zeiten und ihre Gesetze? Nein. Nein. Nein. Nicht mal Staat und Status konnte ich wählen. Sondern lediglich eine der dutzend konkurrierenden Parteien und ihre ListenkandidatInnen. Von denen lediglich zwei überhaupt in der Lage (also mit der Macht ausgestattet) schienen, die Durchsetzungsgeschichte meiner Ideen zu schreiben. Die Autorität dieser Gegenüber wirkte wie ein Anachronismus, ein Überbleibsel einstiger Frontlinien, wie ein zahnloser Dinosaurier. Eher lächerlich denn ernst zu nehmen. Mein junges Blut stürzte sich in das Getümmel und kochte dann sehr schnell über. Jedes Kreuz stimmte verdrießlicher. Die Tatenlosigkeit bewirkte schlechtes Gewissen. Die Pandemie* des Parlamentarismus.

Der Traum war aus. Keine dieser Parteien und Koalitionen war willens und mächtig, meine Vorstellungen ins Werk zu setzen. Im Gegenteil! Ein neuer Widerspruch erwachte. Der zwischen den Versprechen der parlamentarischen Politik und der Wirklichkeit derselben. Ich rieb mir einen zweiten Faltenberg auf die Stirn und überlegte lange, bis ich mich entschloss, dieses Spiel nicht mehr weiter mitzumachen – mitzuwählen, als ginge es darum, den neuen Superstar des allerneusten Hollywood-Streifens zu bestimmen. Nein Schluß! Ich war reif genug, für mich selbst zu stehen. Der Weimarer Putsch wär wohl auch gelungen, hätten noch mehr gewählt. Das war einfach nicht das Problem. StammwählerInnen und Überzeugungstäter hielten den Status quo.

Doch konnte ich denn allein Rahmenbedingungen setzen, Möglichkeiten ausschöpfen – Territorium und Spielraum, Verfassung und Verlauf meiner Lebensform bestimmen? War ich überhaupt allein? Ich schaute mich um, in Geschichte und Gegenwart und musste nicht lange suchen. Überall lebten Menschen, die so dachten und fühlten wie ich. Mein Vertrauen wuchs mit dem Tatendrang. Wir machten gemeinsame Sache, direkt und gegenseitig. Wir verzichteten auf Päpste und Könige, Politiker, Bürokraten und Polizisten. Wir setzten Rahmen, griffen nach Möglichkeiten und bestimmten deren Verlauf. Insoweit es gelang, fühlte ich mich frei und mir war wohl. Doch ich musste auch feststellen, dass der Parlamentarismus mit all seinen Organen viel viel mächtiger war als wir, die WählerInnen weit in der Überzahl. Die süße Verführung der parlamentarischen Versprechen umspielte immer wieder meine Sinne und Gedanken, benebelte sie. Ich blieb standhaft gegen diese Altersschwäche, auch wenn meine ganze Generation zu kippen schien. Meine Freunde gaben mir Kraft. Auf meiner Stirn indes entstand eine dritte Hautverwerfung, die von dem Widerspruch rührte, nicht mit der größten verfügbaren Macht zu kooperieren (und deren Versprechen zu glauben), um meine Ideen durchzusetzen, sondern mit der sehr kleinen (der nicht institutionalisierten). Daß zudem sich beide Mächte nicht nebeneinander durchsetzen ließen, ohne alle Vorstellungen besserer Verhältnisse aufzugeben. Und trotzdem! Die Hoffnung wurde stets durch die kleinen Erfolge der Selbstbestimmung genährt. Durch symbolische Siege und handfeste Feiern, durch gelungene Aktionen und erreichte Ziele. Durch ernsthafte Kritik, Ironie, Sarkasmus und auch heilsamen Zynismus.

So fahre ich im hohen Alter selbstbewusst über meine dritte Falte auf der Stirn, streiche sie liebevoll in Richtung der Grübchen über meinen Mundwinkeln und beginne in glücklicher Erinnerung still zu lächeln. Kämpfe!

clov

* Pandemie – weitreichende Epidemie

Politik & Prosa

Albrecht Paluttke – Folge 4

Dies war das letzte Mal!

Wollt Ihr wohl aufhören?! Ist ja wirklich schön, dass ihr jetzt nicht nach Grünau zieht, aber müßt ihr deswegen auch noch „Wir bleiben hier!“ auf der Montagsdemo brüllen?

Ja, ja Dieter und Inge haben letztendlich eine andere Lösung gefunden als ins „HartzIV-Gettho“ (die LWB dementiert ja mittlerweile, dass es so was wie Wohnungen für „HartzIV-Opfer“ gäbe) zu ziehen, und ich muß sagen, daß ich heilfroh darüber bin. Hatte ja wirklich glatt vergessen, wie wichtig mir Dieter, dieser alte Penner, immer noch ist. Mein Ding ist das ja nicht, jetzt nach all diesen Jahren wieder Montags mit diesen ganzen Schreihälsen durch die Stadt zu rennen, aber nachdem ich so lange Überzeugungsarbeit bei den zweien, von wegen „Nicht resignieren“ und „Es gibt immer einen Weg“, geleistet habe, sind die jetzt dabei ihr Leben völlig umzukrempeln und ich habe den Dreck. Dieter und Inge hat´s auf einmal voll gepackt und jetzt muß ich sogar mit auf diese Anti Hartz-Demos rennen.

Irgendwie ist mir das Ganze echt suspekt. Auf der einen Seite ist das sicher gut, wenn die Leute endlich mal ihr Maul aufkriegen, aber was da teilweise bei raus kommt… Überhaupt scheint da fast jeder sein eigenes Süppchen zu kochen. Jedes Grüppchen, das sich irgendwie einbildet auf Sozialabbau beziehen zu können, versucht hier was abzuziehen. Na ja, immer noch besser, als wenn Dieter und Inge wieder auf so einen Resignations-Trip kommen, oder wie das heißt.

Dieter, jetzt halt aber mal die Klappe! „Arbeit für alle – und zwar umsonst!“ – Was soll´n der Quatsch? Musst Du alles mitbrüllen? Wenn´s dir zu bunt geht, kannste gern morgen zu mir in Garten kommen und dich dort beschäftigen. Jetzt hab ich aber die Faxen dicke!

Puh! Mann, bin ich froh endlich zu hause zu sein. Da hätt ich auch in Ellys Bier-Pub gehen können, bei dem Niveau, wäre das wenigstens noch die ehrlichere Variante von ´nem scheissprolligen Abend gewesen! Vielleicht geh ich wirklich noch bisschen Frustsaufen… ? Ah nee, das pack ich heut nicht mehr, so krocky wie ich jetzt bin. Nee, ich leg jetzt lieber erst mal schön die Beine hoch und versuch das Ganze zu vergessen, sonst sitz ich spätestens um 5 wieder in der Küche und kann nicht schlafen. Nur mal paar Minuten entspannen, dann mach ich uns das Abendbrot fertig. Rita wird sich freuen, wenn sie nach hause kommt…

Was ist denn da draußen los? So ein Lärm unten von der Papiermühlenstraße. Schon wieder Gebrülle… HimmelArsch&Zwirn das ist die Montagsdemo! Was wollen die denn jetzt auch noch hier in Stötteritz?! Na, jetzt muss ich doch noch mal fix da runter – denen werd ich was erzählen…

Herr Bayer vom Zeitkaufhaus steht auch schon vor seinem Laden. „Hallo Herr Paluttke! Hah, ich dachte ja schon jetzt gibt’s endlich mal ´ne Revolution, aber kuck´n se mal, für was die hier rumlaufen…!“

Ein hektischer Typ am Rande, mit verblichener Jeansweste, der entweder ein 80er Jahre Bürgerrechtler oder ein Zivilpolizist sein muß, fällt mir sofort auf. Er schimpft heftig auf eine andere komische Gestalt ein: „…Wenn ich das vorher gewußt hätte! Da kuckt man mal eins, zwei Demo-Serien nicht auf die Transparente und dann wird man soo mißbraucht. Wie ich mich schäme! Ich als Initiator von Montagsdemos für Olympia und anderen Humbug! …und jetzt auch noch für den Ausbau der Stötteritzer Schrebergärten. Aber jetzt ist Schluß! Dies war das letzte Mal!“

Der Andere windet sich und versucht ihn zu beschwichtigen. Ich höre phrasenhafte Wortfetzen wie: „Aber Herr Pfarrer … mein Führer! Schließlich wollen wir ja… Ich weise allerdings entschieden zurück, daß ich hier das einzige schwarze Schaf, quasi DAS schwarze Schaf bin…“

Die beiden kommen an mir vorbei. Der Schwätzer redet sich in (G)eifer und nun kann ich ihn richtig verstehen: „…alles in allem eine Kleinigkeit in Anbetracht von so vielen Jahren erfolgreicher Arbeit, die jedem von uns eine Menge Kraft gekostet haben. Diese wenige Ausnahmen sollten weder dazu dienen, das Erreichte grundsätzlich in Frage zu stellen, Inhaltliches mit Persönlichem zu verwechseln, noch unsere Vertrauensbasis erschüttern, die sich nach nun fast 15 Jahren gemeinsamer politischer Entwicklung doch von einer solchen „Krise“ nicht in Frage stellen läßt, oder?

Endlich verschwinden die zwei aus meinem Blickfeld. Ich sehe nur noch wie die Jeansweste einen Tobsuchtanfall und von der Polizei ordentlich was auf die Mütze kriegt, und sodann in Gewahrsam genommen wird. Na, hier is schon was los.

Weiter hinten kommt jetzt eine Art Sekte mit „DAS ENDE IST NAH!“-Schildern, gefolgt von ein paar wie narkotisiert wankenden Nachzüglern und dann ist wirklich Schluß mit dem Spuk.

Aah! Wie – was?! Ach so …. Mann, so ein Scheiß aber auch … Montagsdemo in Stötteritz… Oh je, Rita ist schon lange zu hause und im Bett. Jetzt aber ab in die Heia.

Was?! Nee, ´schuldigung, dass ich dich geweckt hab – schlaf weiter Rita. Ich bin nur auf der Couch eingepennt und hab komisches Zeug geträumt. – Oh, schon früh um 5…

lydia

(alle Folgen auf www.paluttke.de.vu)

früh um fünf in stötteritz…