Genau genommen ist es nicht richtig, wenn immer wieder behauptet wird, Deutschland habe auch in der zweiten PISA-Studie unterdurchschnittlich abgeschlossen. In einer Rubrik zählt es sogar zu den drei Spitzennationen. Nur Ungarn und Belgien erzielen höhere Werte in der Frage, wie stark der Zusammenhang zwischen schulischer Leistung und sozialer Herkunft ist. Laut Statistik trifft in allen drei Ländern die schlichte Rechnung zu, daß Kinder armer Eltern über eine schlechte, und Kinder aus reichen Familien über eine gute Bildung verfügen. Selbst die USA, nicht eben berühmt für ein sozial ausgewogenes Bildungssystem, finden sich erst etliche Plätze hinter Deutschland in der Tabelle.
Nachdem in Brandenburg die „Oberschule“ eingeführt wird, die die Selektion in verschiedene Schulformen abmildern soll, und Schleswig-Holstein gar die Schaffung einer Einheitsschule bis zur 10. Klasse plant, haben sich CDU-Politiker beeilt, die PISA II-Ergebnisse als Bestätigung für den Erhalt, ja Ausbau des Dreischulensystems zu deuten. Entsprechend ihres sozialen Hintergrundes und ihrer daraus resultierenden Bedürfnisse, so die christdemokratischen Bildungsexperten, müßten die Kinderlein gezielter gefördert werden, und das gewährleiste das Modell Haupt-, Realschule und Gymnasium ja nun am besten. Dringend erforderlich sei, das zeige PISA II, eine verstärkte Elitenförderung.
Genau das sieht die PISA-Kommission der OECD dezent anders. In jenen Schulsystemen mit niedriger „Steigung des sozialen Gradienten“ und schwachem „Zusammenhang der Varianzaufklärung“ – wie die PISA-Studie soziale Chancengleichheit verklausuliert benennt – ist gerade die Förderung von Schülern mit Lernproblemen stark ausgeprägt, gibt es ein gefächertes System aus Erziehern, Nachhilfelehrern und Therapeuten, das bereits im Vorschulalter ansetzt und Defizite der sozialen und sozio-kulturellen Herkunft ausgleichen soll. Spezielle Elitenförderungen dagegen sind hier weitestgehend unbekannt. Aber es ist natürlich die Frage, worauf man hinaus will. Die PISA-Kommission bewertet eine möglichst geringe Streuung des Leistungsniveaus einer Vergleichsgruppe positiv, das Gros der Schüler eines Jahrgangs soll also nicht zuweit auseinander liegen; Verteidiger des deutschen „Standorts“ hingegen ist mehr an einer großen Bestengruppe gelegen, und da landet Deutschland mit 4,1% genau im Durchschnittsbereich (der sich aus einem Feld ermittelt, zu dem, wohlgemerkt, auch Mexiko gehört, das hier auf ein klares Ergebnis von 0,0% kommt). Daß die PISA-Studie 21,6% der getesteten deutschen Schüler zur „Risikogruppe“ zählt, deren Leistungen in Schulnoten ausgedrückt irgendwo zwischen 5 und 6 schwanken, stört hierzulande Kapital und Politik kaum. Aber daß diese Gruppe zum Großteil aus sozial benachteiligten Haushalten kommt und so der Eindruck entsteht, im deutschen Bildungssystem herrsche keine Chancengleichkeit, die doch als kapitalistische Urtugend gilt, wurmt. Knapp 45% der Kinder, deren Elternhaus dem ärmsten Viertel der Gesellschaft angehört, besuchen die Hauptschule. Umgekehrt genießen über 52% jener Kinder, deren Eltern das vermögenste Bevölkerungsviertel unter sich aufteilen, den Drill des Gymnasiums. In allen Testkategorien schneiden HauptschülerInnen am schlechtesten, Gymnasiasten am besten ab, und Realschüler liegen in der goldenen Mitte.
PISA II bestätigt damit eine Reihe älterer Studien zum deutschen Schulsystem, die wiederholt auf den alarmierenden Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildung hinwiesen. Durch den internationalen Vergleich mit anderen Schulsystemen, die auf eingleisiger Schulform und Förderung der Schwächeren statt Eliten setzen, erfährt die Studie der OECD jedoch eine besondere argumentative Schärfe. PISA-Koordinator Andreas Schleicher stellt fest, daß „schwache Schüler nur abgeschoben“ werden, wenn sie in Haupt- bzw. Realschule landen. Das dreigeteilte Schulsystem erklärt er glatt für „gescheitert“.
Das deutsche Schulsystem folgt zu aller erst dem Prinzip der Selektion, was in letzter Konsequenz bloße Wissensabfrage statt -vermittlung bedeutet. Typisch hierfür erweist sich die PISA-Erhebung zu Computerkenntnissen der 15jährigen. Obwohl bei Interesse und Können ganz vorne mit dabei, geben nahezu 80% der deutschen SchülerInnen an, ihre Fähigkeiten außerhalb des Unterrichts erworben zu haben. Es scheint, die Schule funktioniert tatsächlich allein nach dem Konzept, daß sie nur abfragt und bewertet, was ihre Schützlinge privat beigebracht bekommen, bzw. sich selbst angeeignet haben. Es wird viel geprüft und wenig gelehrt. Das verdeutlicht auch das insgesamt schwache Abschneiden der Gymnasiasten. Niederschmetternd fällt schließlich auch das Ergebnis für die Gesamtschule aus. Dessen Pennäler schneiden in allen Kategorien schlechter ab als RealschülerInnen. Schleicher führt das darauf zurück, daß, wer die Wahl hat, im Zweifel das Gymnasium bevorzugt und die Gesamtschule kaum weniger soziales Abstellgleis ist als die Hauptschule. Das Modell der drei, bzw. vier Schulformen nützt offenbar niemandem so recht.
Allerdings bedeutet die Einheitsschule keine Patentlösung des sozialen Problems. Die meisten der getesteten Staaten weisen in diesem Punkt ein nur um weniges besseres Niveau als Deutschland auf. Nur wenige Länder (darunter Island, PISA-Primus Finnland und Mexico) weisen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Können und sozialer Herkunft der getesteten SchülerInnen auf – wobei im Falle Mexikos zu ergänzen bleibt, daß auch Kinder aus reichem Hause bei den Testergebnissen ziemlich arm aussehen. Der enorme Aufwand, der nötig ist, um eine relative Chancengleichheit in der Ausbildung herzustellen, verdeutlicht die soziale Kluft, die der Kapitalismus erzeugt. Da gibt es nichts zu deuteln.
Matti
Bildung