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Der Leib der zerteilen will den Geist oder: Der radikale Zyniker ist der Sadist

Ich bin gestolpert. Buchstäblich bin ich gestolpert über Worte, die mir Worte abverlangen. Jean Améry hat sie geschrieben, nachdem seine Schultern krachten. Im Stolpern regt sich der Knacks, der hallt, da sich die Dinge wandeln. Zuzeiten wandeln sie sich mit einem Schlag – ins Gesicht etwa, der Améry im Juli 1943 im Gefängnis der Brüsseler Gestapo traf. Kurz darauf und andernorts krachten und knackten und splitterten seine Schultern, als ihn ein Offizier der SS an den Haken hing. In diesen Tagen, in denen überall wieder die Gewalt anschwillt, erinnere ich mich, was diese letztlich ist: die Kontrolle, die Unterwerfung des Leibes am extremsten praktiziert in der Tortur. Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich tragen kann, schreibt Améry in seinem gleichnamigen Essay und wohl ist das In-Sich-Tragen dieses Eingriffes wörtlich zu nehmen. Er ist der Quell des Traumas. Mit einem Schlag zwingt der Folternde dem Gepeinigten seine Körperlichkeit auf, quält der Rassist den Fremden mit der Angst vor dem Ausbruch der Gewalt, der er unterläge, hegt der Herrschende den Körper des Kolonialisierten ebenso ein, wie den Körper der Frau.

Man hat mir ein Leids getan. Ich werde geschlagen. Mich durchfährt der Schreck. Auf das, was mir jetzt, in diesem Augenblick, geschieht, war ich nicht vorbereitet. Es hat mich schlicht übermannt. Es zernichtet mir jegliches Vertrauen (1), wirft mich aus der Welt, entstellt mich schlagartig als Gegenmenschen.

Der Geschlagene erschrickt nicht vor dem Schmerz allein. Nicht fassen kann er, dass eine Grenze übertreten wurde, dass man ihn berührt, in ihn eindringt. Bis ins Mark trifft die Gewissheit und drückt sich dort als Alp ein: Die Gewalt ist, das Schrecken kennt keine Grenzen, „Man is the animal.“ Und er, der ihm gegenüber steht, der sich die Freiheit nimmt, die Hand gegen ihn zu erheben, ihn an den Haken zu hängen, bis die Gelenke nachgeben, er ist der Sadist.

Doch seine Visage ist nicht die des Satans. Améry erschrickt über die „Dutzendgesichter“ seiner Peiniger, die wir nicht in den Folterkellern der SS suchen müssen. Ich schließe meine Augen und folge den Gewaltphantasien eines Mannes, der nicht mehr schlafen wolle, gäbe man ihm noch einmal eine Kalaschnikow in die Hand. Ich öffne meine Augen und finde mich in einer Straßenbahn wieder.

Den Sadisten auf das Moment der Geilheit zu reduzieren, wäre zu kurz gefasst. Unter diesem Blickwinkel würde ich den Mann, der jene Gewaltfantasien in der Straßenbahn äußert, übersehen. Er schaut etwas müde… Gerade deshalb erschrecke ich. Der Sadist kann jeder sein.

Blackout hearts with skull designs upon their shoes. (2)

Dieser Sadismus, um den es mir geht, ist fern der Pathologie. Wie auch sollte eine Krankheit des Geistes untersucht werden, wenn der Mensch seinen Geist überwindet? Der Sadist, schreibt Améry, schert sich um den Fortbestand der Welt nicht. Er hebt sie ganz einfach auf und berauscht sich an dem Triumph seines Willens über den Geist, die Vernunft, die Moral.

Der Sadist ist Zyniker im Radikalen. Er praktiziert seinen Zynismus. Der Abi-turient glänzt im Unterricht – vornehmlich in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Nach dem Unterricht quält er seinen Mitschüler. (3) Der Vernünftige, der Gepeinigte, kann das nicht fassen. Es kommt mir darauf an, hier den Worten von Jean Améry zu entsprechen: „Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewehrten Hand reicht aus, den anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien und die Welt als Wille und Vorstellung aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen. Der Peiniger selbst kann dann, wenn es geschehen ist und er sich ausgedehnt hat in den Körper des Mitmenschen und ausgelöscht hat, was dessen Geist war, zur Zigarette greifen oder sich zum Frühstück setzen oder, wenn es ihn danach gelüstet, auch bei der Welt als Wille und Vorstellung einkehren.“

Die Fragen wird der Gequälte, die Geschlagene, der Gedemütigte, die aus der Stadt Getriebene nicht mehr los: Woher rührt es? Wie ist es möglich, dass der Leib den Geist zerteilt? (4) Das Entscheidende ist die Willkür. (5) Der Sadist ist gewalttätig, weil er es will. Am Ende ist es seine Entscheidung. Er entscheidet sich für die Umwertung aller Werte.

Sowieso ließe sich ja alles umwerten. (6) Es gibt keine allein gültige Wahrheit über die Dinge, weil sich bereits das Ding als solches uns nie auf eine nur einzige Weise, nie präzise zeigt. Die Vertreter des Spekulativen Realismus schlagen daher auch vor, die Philosophie als Wissenschaft durch eine Philosophie als kraftvolle Kunst zu ersetzen, die sich den Dingen auf eine ebenso vage wie liebende Weise nähert. (7)

Gerade jedoch das offenbare Fehlen einer einzigen Wahrheit versetzt den Menschen ebenso in die Lage, die Dinge willkürlich auszulegen und daraus seine Wahrheit zu formulieren, wenn er es will. Es ist ihm ein Leichtes, kalt lächelnd das Andere, den Anderen zu negieren. Jean Amérys Peiniger war ein kleiner Mann. Es genügte ihm, zu sagen: „Jetzt passiert‘s.“ Dann hing er ihn einfach an den Haken. Vielleicht schaute er dabei in die Leere und pulte an dem Ochsenziemer in seiner Hand.

Das Ausüben von Gewalt erfreut. (8) Es versetzt den kreativen Geist des Führenden in höchste Gefilde. „Wo man sich der Folter zuwendet, kann man der menschlichen Phantasie bei der Arbeit zuschauen“, schreibt Roger Willemsen. Und in der Tat – wo die Schranken des Geistes geöffnet werden, kann sich die Fantasie frei entfalten und das tut sie auch – imaginär und wirklich.

Der einzigen Logik, der der Sadist folgt, ist die des Schmerzes. Ich muss ihn am Haken die Kette hinaufziehen, dann werden seine Schultergelenke brechen. Der Sadismus befähigt den Menschen zur außermoralischen Schöpfung. Der Mensch, der die Welt außer Acht lässt, wird so ganz Kreator. Und darüber erschrak Améry ebenso: Dass es nämlich Momente gab, „wo ich der folternden Souveränität, die sie über mich ausübten, eine Art von schmählicher Verehrung entgegenbrachte.“ Lautréamont schuf seinen Maldoror, den „Vergolder des Bösen“, um der Schöpfung ihr absolutes Gegenstück zu präsentieren und beide – den Schöpfer, wie den Menschen – zu verlachen…

 

Übrigens, wozu betreibe ich denn diese Jonglage der Namen?

Es zeigt gewissermaßen die Willkür meiner „Arbeit am Wortwerk“, wie es Dylan Thomas nennt. Ich sitze daheim in meiner wohlbeheizten Mansarde, am Mahagonimundstück meiner Pfeife kauend und greife mir willkürlich Bücher aus dem Regal. Ich sage: Die Worte münden dorthin, wo ich sie münden lassen will. Ihr Quell ist ja derselbe. (9) Natürlich ist es mir eine Freude und natürlich wollt ich es noch viel ärger treiben. Ich sage aber auch: All diese Worte sind! Tausende und Millionen haben sie gelesen, haben sie gedacht. Sie sind eingeflossen in das Bewusstsein der Menschheit. Und dennoch verhindern sie nicht, dass der Mensch haut, sticht, hinein schießt, dass jetzt, in diesem Augenblick, ein Mensch verfolgt und gefoltert wird, dass Kretins wie Gelehrte gleichermaßen das in Brand gesteckte Haus des Fremden beklatschen oder dass ein Kritiker des Zynismus selbst zum Zyniker wird. Ich denke mir aus: Amérys Peiniger greift nach dem Frühstück zur Zigarette und kehrt bei der Welt als Wille und Vorstellung ein. Natürlich tut er das! Und danach gelüstet es ihn, einen Dissidenten mit dem Ochsenziemer zu bearbeiten. Beides – die Lektüre und die Tortur – geht zusammen. (10) Vielleicht befriedet jener SS-Offizier damit seinen eigenen Pessimismus. Vielleicht ist es seine Art, Schopenhauer beizupflichten, dass es ihn gibt: den Willen. Jedoch: Der Philosoph lässt sein Werk in die Ethik der Askese münden. Dem Sadisten könnte man den ganzen Schopenhauer wechselseitig um die Ohren hauen und damit dennoch nicht garantieren, dass er es lässt, sich an dem Menschen zu vergehen. Es ist ja sein Wille…

Und so vermögen tausende Schriften alles und nichts, nichts und alles, wenn der Mensch, in Überheblichkeit oder in Demut, es will. Wir sind in der Welt, die jedermanns Werk ist, diejenigen, die darüber entscheiden, was uns heilig ist und was nicht, wo wir beginnen, wo wir enden.

Olav Amende

 

(1) Mit Jean Améry gesprochen: Zusammen bricht das „Weltvertrauen“.

(2) Ich sah den Teufel einst auf Facebook. Sie trug das anverwandelte Lächeln meiner ersten Liebe.

(3) Die Figur Herbert aus Max Frischs Requiem Nun singen sie wieder: „Ich werde töten, bis der Geist aus seinem Dunkel tritt, wenn es ihn gibt, und bis der Geist mich selber bezwingt. Man wird uns fluchen, ja, die ganze Welt wird uns fluchen, jahrhundertelang. Wir aber sind es, die den wirklichen Geist ans Licht gezwungen, wir allein – gesetzt den Fall, dass nicht die Welt mit uns zugrunde geht, weil es den Geist, den unbezwinglichen, nicht gibt.“

(4) Freud und die Zentrifugalkraft des Todestriebes…

(5) „Es lässt sich begreifen, dass es nie darum ging, Menschen zur Wahrheit oder zum Sprechen zu bringen, sondern dass es um die Willkür einer Zerstörung der Körper und Seelen ging, die ihre Logik ausschließlich in der Fabrikation der größten, dem Menschen erreichbaren Schmerzen besaß.“ (Roger Willemsen – Der Knacks)

(6) Es genügt, auf Derridas Konzeption der Différance oder auf Friedrich Nietzsches Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ zu verweisen.

(7) Diese Gedanken finden sich auch bei Martin Bubers „Ich und Du“ wieder.

(8) Das Tier zeigt die Zähne und greift an. Der Mensch zeigt die Zähne und lacht.

(9) Walter Benjamin und die Adamitische Sprache

(10) Ich nehme an, dass das Kapitel „Geistige Elite“ immer noch zu den Tabus in der Aufarbeitung der NS-Geschichte zu zählen ist. Freilich, es zermürbt den Geist ebenso, wie die Namen Horst Mahler oder Jürgen Elsässer, weil viele der gängigen Argumentationsmuster hier eben nicht mehr greifen.