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Zeckenrap: tight oder whack?

Rap als Mittel, um politische Inhalte zu vermitteln? Die Verbindung zwischen beiden ist sicher nicht neu – schon Public Enemy haben den Sprechgesang als Transportmedium für gesellschaftskritische Botschaften genutzt. Neu ist dagegen das Stichwort „Zeckenrap“, unter der diese Verbindung heute verstärkt verhandelt wird und mediale Aufmerksamkeit erfährt. Künstler_innen wie Neonschwarz, Sookee, Refpolk und andere texten gegen die herrschenden Verhältnisse, gegen Sexismus, Homophobie, Nationalstolz und alles Schlechte in der Welt. Natürlich ist solche klare Positionierung und das politische Engagement der Zeckenrapper_innen allemal sympathisch. Aber ist nicht ein wenig zu verbissen? Kommt dabei nicht die Sprachkunst zu kurz, der Flow, oder vielleicht auch die politischen Inhalte selbst, wenn aus jedem Refrain eine Parole wird? Logisch – das mag letztlich reine Geschmacksfrage sein, und über Geschmack lässt sich bekanntlich endlos streiten. Also machen wir das einfach mal! Willst du Battle, kriegst du Battle!

PRO:

„Zeckenrap“. In letzter Zeit hörte man diese Bezeichnung durchaus öfter – gerade in der linken und anarchistischen Szene. Aber auch auf Seiten wie rap.de gewinnt er langsam an Aufmerksamkeit. Aber was ist es und warum sollte man es hören? Sind es nur gerappte Parolen und ist das immer schlimm? Mehrmals hörte ich auch Stimmen, welche die Qualität des Gehörten kritisierten. An dieser Stelle möchte ich einmal auf gestellte Fragen eingehen.

Die Schlange ist lang. Alles läuft ein wenig unorganisiert, aber irgendwann ist man doch drin. Anfang des Jahres im SO36 in Berlin. Dort fand sie statt – die erste Zeckenrap-Gala. „Wir wollen der Szene nicht die Hand reichen – wir sind mehr so anschleichen, angreifen, brandzeichen tick tick boom!“ Da wird der/die geneigte Höhrer_in doch aufmerksam. Aha, was ist denn das? Und hört man weiter, kommen schnell Antworten. Es sind Leute wie Sookee, Johnny Mauser und Kurzer Prozess, welche dort auftreten. Die Texte sind vielfältig. Gesellschaftliche Missstände, wie die Vereinsamung von Individuen durch den Arbeitswahn (z.B. „Rain“ von Neon­­schwarz) oder Rassismus. Auch Anti­homophobie und Antisexismus sind Themen. Aber ebenso ganz anderes, dem Leben entsprungenes. Zeckenrap bietet also die ganze Palette an, und das Vorurteil, dass nur Parolen gerappt werden, kann sehr schnell behoben werden.

Natürlich werden Themen klar und unmissverständlich angesprochen, das ist langsam aber sicher auch mal bitter nötig bei einer Hip-Hop Szene, die leider immer noch sehr stark von Sexismus, Rassismus, Homophobie und Ähnlichem dominiert wird. Dass man dadurch bei manchen Menschen aneckt, ist unausweichlich. Aber was wäre der andere Weg? Die Themen weiterhin totschweigen? Wohl eher nicht. Ich höre schon die Stimmen der Menschen, die nun einwerfen: „Aber man muss es doch nicht so deutlich sagen und einfach besagte -ismen nicht gebrauchen, und außerdem darf doch die Sprache nicht derart eingeschränkt werden, nur weil manches plötzlich nicht mehr PC ist.“

Nun – zum Einen: Ja sicher, das gehört auch dazu und das muss auch nicht bei jedem Song immer gesagt werden. Aber es braucht meiner Ansicht nach auf jeden Fall Texte, bei denen Thematiken direkt kritisiert werden, um ein Umdenken anzuregen, auch wenn sich dadurch erst mal Einige „auf den Schlips getreten fühlen“. Und zum Anderen: Wenn man es für einen Verlust hält, wenn Bezeichnungen wie „Hurensohn“ u.ä. nicht mehr verwendet werden und man sich dadurch in seinem/ihrem Sprachgebrauch behindert sieht, dann sollte man vielleicht mal die eigene Einstellung überprüfen und überlegen, warum einem das denn so wichtig ist und ob es nicht andere Wege, Begriffe und Arten gibt, etwas auszudrücken.

Die Entwicklung schreitet schnell voran. Und Zeckenrap ist durchaus nicht immer gleich. Die Bezeichnung „Punk-Rap“ ist auch bereits gefallen, z.B. Special K. Marie Curry singt und rappt gleichermaßen. Die Beats sind wechselnd, mal an den klassischen Rap angelehnt, mal mit Electroklängen versetzt. Natürlich gibt es immer Menschen, denen dies und das nicht zusagt. Dafür ist Musik einfach auch Geschmackssache und über Geschmack lässt sich natürlich immer streiten.

Meiner Ansicht nach ist Zeckenrap eine echte Bereicherung für die „Rapszene“ – er wühlt auf, eckt an und regt Debatten an. Von mir gibt es ein eindeutiges PRO.

R!

CONTRA:

Rap als Mittel der Meinungsäußerung – eingängig, wirksam, mit viel Potential, nicht nur, was die Textfülle betrifft. Kein Wunder also, dass soziale Konflikte nicht nur in der Hip-Hop-Kultur immer wieder mittels Rap thematisiert wurden. Seien es Rassismus, Polizeigewalt oder die üblichen Probleme, die so ein Kapitalismus mit sich bringt.

Doch was heutigen deutschsprachigen „politischen Rap“ vom ursprünglichen, in der Hip-Hop-Kultur angesiedelten veränderungswilligen Sprechgesang unterscheidet, ist die soziopolitische Verortung der Musiker_innen und die damit einhergehende linksradikale Attitüde. Gerade in einem Land wie der BRD, in der die deutsche Vergangenheit tiefgehende politische Beschäftigung und ebenso tiefe Gräben zwischen linken Spektren ausgelöst hat, ist Rap kaum mehr ein Mittel, mit dem Unüberzeugte agitiert werden können. Im Gegenteil sind mit Beats unterlegte Kampfparolen ein noch schlechteres Mittel als Flugblätter auf Demonstrationen. So wie die Demos, die von massiver Staatsgewalt umrahmt nicht nur räumlich vom Rest der Gesellschaft isoliert werden, so isolierten sich über die Jahre auch linke Rapper_innen, die sich textlich radikalisierten. Anarchist Academy hätte schon in den 90ern als warnendes Beispiel dienen sollen. Den Mangel an Flow und Rhythmusgefühl mit dem aggressiven Style brennender Barrikaden zu ersetzen, führte nicht zum erhofften revolutionären Anstoß. Im Gegenteil, die Combo stieß damit in der Rap-Szene auf Widerstände, die eine Rezeption ihrer im Grunde inhaltlich wertvollen Texte behinderten. Die rebellische Attitüde, die Public Enemy noch zum Welterfolg verhalf, ist in Zeiten der immer stärkeren musikalischen und politischen Ausdifferenzierung eher ein Stein im Weg der „Aufklärung“ der Massen. Und sei es nur der jugendlichen Massen.

Doch nicht nur für agitatorische, aufklärerische Inhalte sollte gelten, sie besser in vermittelbare Form zu bringen. Auch das klassische Empowerment in Texten, die auf’s erste Hören unpolitisch daherkommen, birgt ein weitaus größeres emanzipatorisches Potenzial als der radikale Duktus, mit dem mitunter gegen Bullen und Kapital angesungen wird. Lieber guter Rap mit Liebe zum Hip Hop und dem ein oder anderen gesellschaftskritischen und politischen Einschlag als politischer Rap, bei dem die Form um den Text herum austauschbar geworden ist und lediglich dem Zeitgeist folgt.

Wie auch die Bezeichnung „Zeckenrap“, die mittlerweile als probate Eigen­beschreibung einer subkulturellen Identität zu Selbstvertrauen verhilft, gleichermaßen ein Symbol für das abschreckende Moment heutigen politischen Raps ist. Die meisten Menschen wollen nicht agitiert werden, sie wollen die Wahrheit nicht übergeholfen bekommen. Auch nicht mit musikalischen Mitteln. Es sollte eher gelten, Rap als Mittel zu erkennen, mit dem Inhalte vermittelt werden können, nicht vertont. Es sollte gelten, in erster Linie Musik zu machen. Musik, die durch ihre Authentizität den Themen Gehör verschafft, da wo eine politische Überladung nur den Zugang versperrt. Freilich nicht für die linksradikale Szene, die gern Rap hört, selbst. Dort funktioniert Zeckenrap als identitätsstiftendes (sub)kulturelles Medium hervorragend. Aber es wird aus diesem Sumpf heraus niemand in die Breite der Gesellschaft, und sei es nur der Hip-Hop-Kultur, Botschaften senden können wie einst Looptroop mit „Fort Europa“ oder KRS One mit „Sounds Of The Police“. Übrigens kein Zufall, dass KRS auf dessen B-Seite mit „Hip Hop vs. Rap” den grundlegenden kulturellen Punkt gleich mit ansprach: Rap will gelebt werden. In einer Kultur, die dieser Ausdrucksform einen sozialen und künstlerischen Rahmen bietet. Daher ist dies weniger ein Contra politischer Rap, als vielmehr ein Pro Rap und Pro Hip Hop.

shy

Nebenwidersprüche

E-Petitionen: Fluch oder Segen?

Im World Wide Web stolpern wir inzwischen ständig über die verschiedensten Petitionen. Mit unserer Unterschrift können wir fast gleichzeitig gegen Schulschließungen protestieren, versuchen konkrete Abschiebungen zu verhindern und uns gegen die GEMA stark machen. Petitionen liegen irgendwie im Trend, durch ihr „Mitmachelement“ Unterschrift sind sie Medium und Startegie zugleich. Doch ihre zweifelhafte Wirksamkeit befördert auch ihre Kritiker_innen. Entwaffnen sich damit linke Initiativen und soziale Bewegungen selbst? Oder sind E-Petitionen zur Beförderung ihrer Sache nicht doch eine (neue) Chance?

PRO:

Wer sich heutzutage erfolgreich gegen konkrete gesellschaftliche Missstände einsetzen will, kommt an Online-Petitionen nicht vorbei. So naiv eine Überschätzung der Wirkung von Petitionen zwar wäre, so fahrlässig wäre auch die generelle Ablehnung selbiger.

Ihr größtes Potential liegt in ihrer Beliebtheit, denn dadurch werden verschiedenste, aktuelle Themen und konkrete Belange in die breite Öffentlichkeit getragen. So können innerhalb kürzester Zeit Infos gestreut und Menschen mobilisiert werden – mit einer Pressemitteilung hingegen wird heutzutage kaum noch jemand hinterm Ofen vorgelockt. Zudem sind Petitionen ein Handlungsmittel „von unten“, denn jede_r kann eine Petition einrichten; dafür braucht mensch nicht einmal eine Organisation im Rücken.

Qualitativ unterscheidet sich die Petition vor allem durch ihr Unterschriftselement von der klassischen Pressemitteilung. Während man letztere lesen und wieder vergessen konnte, regt die Petition zur eigenen Positionierung an. Wird das Anliegen für unterstützenswert gehalten und die Unterschrift gesetzt, dann ist schon ein erster Schritt getan, weil Auseinandersetzung bzw. Bewusstwerdung passiert ist. Natürlich dürfen Petitionen nicht mit Engagement verwechselt werden und ersetzen dieses mitnichten. Wohl aber muss mensch diejenigen, die eine Petition unterstützen, nicht mehr vom Anliegen überzeugen – sondern kann darauf aufbauend zur weiteren Aktivierung, z.B. durch direkte Aktionen anregen, um wirklichen Druck für das konkrete Anliegen aufzubauen.

Die Petition selbst wird ja als Zeichen des Protestes und mit der konkreten Aufforderung, bestimmtes Handeln zu unterlassen/zu verändern o.ä., an den entsprechenden Schaltstellen der Macht eingereicht. Selbst wenn die Hoffnung auf Veränderung dann meist enttäuscht wird – vor allem, wenn keine begleitenden Massenproteste und Aktionen stattfanden – so hat sie dennoch einen wichtigen Effekt: Ihre Empfänger setzen sich (mehr oder weniger intensiv) mit dem Gedanken auseinander, dass ihr Handeln auf breite Gegnerschaft in der Bevölkerung stößt. Bestimmte Institutionen, wie die Ausschüsse im Bundestag, sind darüber hinaus verpflichtet aufgrund von (erfolgreichen) Petitionen den Sachverhalt erneut zu prüfen und eine weitere Stellungnahme im Bundestag abzugeben. Vor allem auf lokaler Ebene erzielen sie auch öfter ihre gewünschte Wirkung, bspw. bei der Verhinderung von konkreten Abschiebungen (1). Vor allem aber können Petitionen für uns selbst nützlich sein: zum Beispiel, um die eigene Argumentation in Alltagsdiskussionen zu untermauern. Denn es wirkt schon verstärkend, wenn nicht nur ich aus guten Gründen die EU-Richtlinie zur Wasserprivatisierung scheiße finde, sondern mit mir noch über eine Million Andere. Kurzum: selbst wenn auf die Forderungen der Petitionen nicht eingegangen wird, so spiegeln sie dennoch verbreitete Protesthaltungen und Meinungen wider und machen Stimmungen in Teilen der Bevölkerung präsent. Diese zu kennen ist wiederum eine wesentliche Voraussetzung, um nicht über sondern mit den Menschen Politik zu gestalten – egal auf welcher Ebene.

Schlussendlich fördern Petitionen auch ein allgemeines kritisches Bewusstsein. Denn es gibt auch viele im Netz kursierende Petitionen, die inhaltlich fragwürdig oder problematisch sind. Angesichts ihres „Trends“ werden es sogar zunehmend mehr. Wo mensch seinen „Otto“ drunter setzt, sollte daher wohl überlegt sein.

Festzuhalten bleibt: Petitionen sind sicher nicht DAS Element, um die Verantwortlichen zu Veränderung zu zwingen, wohl aber sind sie DAS Element, um heutzutage an der Basis ansetzend viele Menschen zu erreichen und im ersten Schritt zu aktivieren. Darüber hinaus geben sie uns und den Verantwortlichen einen Einblick in die Stimmungslage der Menschen, die nicht am Machtschalter sitzen. Petitionen daher nicht als Türöffner für weiterführendes (direktes) Engagement zu nutzen, bedeutet v.a. sich viele Chancen zu vergeben.

momo

(1) Im Sommer 2012 erwirkte eine Petition, einhergehend mit Schüler-Demonstrationen, Lichterketten und Mahnwachen das unbefristete Aufenthaltsrecht von drei jungen, aus Honduras stammenden Hamburgerinnen. www.ndr.de/regional/hamburg/fabiola117.html

Pro, weil:

# schnelle & weite Infoverbreitung „von unten“

# Positionierung und erste Aktivierung von Menschen

# Bevölkerungsmeinung wird sichtbar

CONTRA:

E-Petitionen, also Petitionen, die online eingereicht und unterschrieben werden können, sind zwar Werkzeuge des digitalen Zeitalters, doch in ihrer Organisations- und Wirkungsform nicht grundlegend anders als das analoge Pendant. Die „Petition“, vom lateinischen Substantiv „petitio“ (Verlangen, Bitte, Gesuch) und dem Verb petere (zu erreichen suchen, greifen, bitten), zeugt schon in ihrer Wortherkunft vom Wesen als reines Bittwerkzeug. Eines von Bittsteller_innen also, die sich in einer Sache an den jeweiligen Souverän richten, der darüber entscheidet. So wie das landläufige Volk früher ab und an eine Audienz beim Fürsten bekam, der sich gnädig die Sorgen und Nöte anhörte und ab und an mal ein paar Krümel seiner Gnade verteilte, so darf heute jede_r deutsche Bürger_in mit einer Petition den deutschen Bundestag, genauer gesagt seinen Petitionsausschuss beknien. Und darauf hoffen, dass der sich ab 50.000 Unterzeichner_innen die jeweilige Sache zumindest einmal anhört. Und dann meist in der Schublade verschwinden lässt.

Sich einzulassen auf diese Logik von Bitten und Gnade bedeutet schließlich, den eigenen Einfluss selbst auf genau den Rahmen zu beschränken, den der Souverän ihr einräumt. Die sprichwörtliche Macht des Volkes wird also von vornherein im Sinne der Herrschenden beschränkt und dient ihnen so als antiemanzipatorisches Ventil im Dampfkessel der stetigen Interessenkonflikte. Vorrangig die, zwischen der Bevölkerung und Staat bzw. Kapital.

Seien es Widerstände gegen Überwachungs- und Zensurmaßnahmen der Bundesregierung, wie etwa die (mittlerweile wieder zurückgenommene) Sperrung von Webseiten oder die Vorratsdatenspei­cherung, oder Petitionen gegen bestimmte Wirtschaftszweige, wie bspw. eine E-Petition zur Einhaltung der Verträge zur Abschaltung der Atomkraftwerke bis zum Jahr 2023 oder zur Abschaffung der sog. GEMA-Vermutung (1) – regelmäßig werden erfolgreiche E-Petitionen (also solche mit über 50.000 Unterschriften, die überhaupt erst vor den Bundestag kommen) von den Mächtigen abgewiesen. Besonders letztes Beispiel zeigt, dass ein mehr als dubioses Geschäftsmodell wie das der GEMA (2), solange es ins politische Konzept (hier der Urheberrechtsver­wertung/des (geistigen) Eigentums) derkapitalistischen Verwaltung, also der parlamentarischen Demokratie hierzulande, passt, auch vom Gesetz geschützt ist und sich von Petitionen nichts anhaben lässt. Bei der grandiosen Zahl von 1.863 Anti-GEMA-Petitionen, die in den letzten 14 Jahren beim Bundestag eingingen, waren nur wenige Ausnahmen, wie der Widerstand gegen die zum Scheitern verurteilte 700%ige Gebührenerhöhung für Diskotheken und Clubs, erfolgreich. Warum auch? Grundsätzliches ändert sich dadurch nichts. Nur gegen übertriebene Forderungen wird – weil unpopulär und standortschädigend – vorgegangen. Da helfen auch 62.842 Unter­zeichner_innen der GEMA-Vermutungs-Petition eben nichts, wenn der politische Wille fehlt. Erfolg sollte ja kein Argument für oder gegen die Richtigkeit einer Sache sein, bei einer konkreten Hand­lung(sstrategie) jedoch sollten wir diesen Maßstab durchaus mit anlegen. Vor allem dann, wenn Zeit, Kraft und vor allem Glaube an Veränderung anders wesentlich besser angelegt wären.

Durch die „Leichtigkeit des Klicks“ kommt noch ein anderer Effekt negativ zum Tragen. Mussten Petitionen früher mühselig mit kopierten Listen in Fußgängerzonen gesammelt werden, so hatte dies auch einen entscheidenden Vorteil, der bei Online-Petitionen fast völlig wegfällt – das persönliche Gespräch und die inhaltlichen Diskussionen der zu mobilisierenden Menschen. So wurde der öffentliche Diskurs befeuert, ein Problembewusstsein bei vielen Menschen geschaffen, wo viele Themen heute oft nur noch in den sozialen Netzwerken des Internets an den Menschen vorbeiscrollen, ohne inhaltlich geschärftes Bewusstsein zu schaffen. Zwar gibt es die Möglichkeit, in angeschlossenen Petitionsforen zu diskutieren und wird diesen Beiträgen auch eine hohe Qualität bescheinigt. Doch finden die themenbezogenen Diskussionen dort fast ausschließlich unter schon überzeugten Petitionsnerds statt. Die sich dann mehr mit sich selbst und ihrer vermeidlichen Mitbestimmungsmöglichkeit beschäftigen, anstatt Menschen wirklich zu mobilisieren und Bewegungen zu schaffen. Und vor allem alternative Strukturen aufzubauen, die das Bitten der hohen Politik irgend­wann überflüssig machen und lernen, sich ihrer Interessen selbst anzunehmen.

shy

(1) Durch die Umkehr der Beweislast müssen Internetdienste, Konzerte, Clubs und Bars die GEMA-Vermutung widerlegen, um von jeglichen GEMA Gebühren befreit zu sein.
(2) DIE „SOLIDARPRINZIPIEN“ EINER SOLIDARGEMEINSCHAFT – Das geheime Finanzierungsumverteilungssystem der GEMA (bit.ly/YwJaWZ)

Contra, weil:

# Schein von Mitbestimmung, wirkt Selbstermächtigung entgegen

# Inhaltliche Oberflächlichkeit statt tieferer Beschäftigung

# Zeit- und Ressourcen wären anders wesentlich besser angelegt

Pro & Contra: Schick ich mein Kind auf eine staatliche Schule?

Für politisch interessierte Eltern ist die Entscheidung über die Schulform des Nachwuchses sicher keine leichte. Denn diese hat nicht nur ganz individuell etwas damit zu tun, was mensch sich bei Themen wie Freundschaften, Umfeld, Lernerfahrungen, zukünftige Perspektiven und die Vorbereitung auf die sog. „reale Welt“ für das Kind verspricht, sondern ist auch eine kollektiv-politische Frage. Denn welche Chancen haben noch die Kinder staatlicher Schulen, wenn sich alle engagierten Eltern (sofern es die geografische Lage und der Geldbeutel zulässt) auf Privatschulen wie bspw. Freie Schulen zurückziehen? Aber muss deshalb das eigene Kind zum Märtyrer werden? Wäre es das überhaupt? Diesen und weiterführenden Fragen widmen sich im Folgenden unsere Pro&Contra-Kontra­hent_in­nen:

PRO:

Spätestens mit dem Infobrief zur Schulanmeldung wurde mir klar, dass nun eine neue Epoche beginnen wird, unser Sohn wird bald ein Schulkind sein. Aber dann stand da: Einzugsgebiet Ernst-Pinkert-Schule, Martinstraße. Ich hatte von dieser Schule schon gehört, ihr schlechter Ruf eilte ihr bereits meilenweit voraus. So ging ich mit gemischten Gefühlen auf Argu­mentsuche und schaute mir die Schule mal an.

Nach eingehender Recherche und meinen bislang gesammelten Erfahrungen habe ich mich gegen den Besuch einer staatlich anerkannten Ersatzschule (Freie Schule) und für die Martinstraße entschieden, und zwar aus folgenden Gründen: Freie Schulen haben ein bestimmtes Klientel. Selbst wenn freie Schulen nicht teuer sein müssen, erfolgt dennoch eine Art soziale Segregation. Die Eltern entscheiden sich bewusst für eine freie Schule und nehmen den Mehraufwand von Zeit (Suche, Anmeldung) und Kosten in Kauf. In der Regel gehen Kinder aus sozial schwächeren, ‘bildungsfernen’ Schichten seltener auf freie Schulen. Dies fördert die Spaltung der Gesellschaft.

Doch soll mein Kind nur auf eine staatliche Grundschule gehen, um meine gesellschaftliche Idealvorstellung zu befriedigen? Nein, denn der Besuch einer freien Schule in Leipzig bedeutet nicht gleichzeitig eine bessere Lernatmosphäre.

Freie Schulen werben z.B. mit kleinen Klassen, Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung, teilweise mit altersdurch­mischtem Stammgruppen­unterricht. Schaut man allerdings genauer hin, so schneiden staatliche Grundschulen diesbezüglich nicht unbedingt schlechter ab.

Die durchschnittliche Klassenstärke liegt in Sachsen bei 19,6 Kindern. Freie Schulen haben ähnliche, u.U. sogar größere Klassen, da sie meist, trotz großer Nachfrage, einspännig laufen (z.B. Waldorfschule). Damit fällt das Kriterium der Klassenstärke bei der Entscheidung, ob freie Schule oder nicht, für mich weg.

Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung spielen auch mittlerweile in staatlichen Schulen eine große Rolle. Ein wichtiges Argument für die Wahl einer freien Schule wäre für mich tatsächlich ein klassenübergreifender Unterricht, der Stammgrup­pen­unterricht. Al­ters­gemischter Unterricht ist eine große Herausforderung für alle Teilnehmer und eine tolle Möglichkeit zum Wissenserwerb. Thüringen (z.B. Jena-Plan-Schulen) hat gezeigt, dass dieses Konzept durch­aus auch staatlich konfiguriert werden kann.

Die freie Schulszene bietet für mich in Leipzig diesbezüglich keine echte Alternative. In unserer Stadt gibt es al­ler­dings nur genau zwei Ersatzschulen, die einen Stamm­gruppen­unterricht anbieten. Die Grundschule des evangelischen Schulzentrums unterrichtet die erste und zweite Klasse gemeinsam. In der kleinen Grundschule Auguste lernen sogar insgesamt 47 Kinder der Klassen 1-4 gemeinschaftlich.

Ein weiteres Kriterium für den Besuch einer staatlichen Schule ist die Motivation bzw. Qualifikation der Lehrkräfte, denn ich behaupte, dass die Qualifikation der Lehrer an staatlichen Schulen oftmals besser ist als an staatlich anerkannten Ersatzschulen. Für viele frisch examierte Anwärter ist eine Stelle an einer freien Schule nur zweite Wahl. Stellen an staatlichen Schulen sind rar und heißbegehrt. Lehrer an freien Schulen erhalten nur 80% des staatlichen Lehrertarifs. Ich kann mir schon vorstellen, dass sich das auf die Motivation der jeweiligen Lehrkraft auswirken kann. Dies führt u.a. dazu, dass freie Schulen häufiger von Lehrerwechsel betroffen sind als staatliche Einrichtungen.

Nun, nach diesen ganzen Überlegungen wird mein Sohn auf die Martinschule gehen, ich werde mich aktiv am Elternrat beteiligen und versuchen den Schulalltag mit anderen gemeinsam mitzugestalten. Nach wie vor finde ich altersgemischten Stammgruppenunterricht gut, und ich bin durchaus der Überzeugung, dass auch in Sachsen ein derartig alternatives Schulkonzept staatlich realisiert werden könnte.

molly

# Soziale Segregation verhindern

# Qualifikation der Lehrer_innen ist gesichert

# Motivation der Lehrkräfte höher durch tarifliche Löhne

# Auch Stammgruppenunterricht und kleine Klassenstärke ist organisierbar

CONTRA:

Anweisungen, Abfragen, Lob, Tadel, Drohungen, Strafmaßnahmen, Beurteilungen, Beschimpfungen – ca. 90 % einer Schulstunde in einer dauernden Endlosschleife… Während diverser Praktika und Hospitationen im Leipziger Grundschullehramts­ studium hatte ich mehr und mehr das Gefühl, per Zeitmaschine in die schönsten wilhelminischen Jahre abzutauchen – wenn sich die Klassenzimmertür hinter den versammelten Kindern schloss und die Reglementierungen, Zurechtweisungen und sonstigen Monologe der Lehrkraft wieder losgingen. Ein paar Jahre Unterricht dieser Sorte hatten sich erkennbar bei den Kindern ausgewirkt: Unterwürfigkeit gegenüber den Lehrerinnen, Unehrlichkeit in Bezug auf Regeln und latente Mobbing-Atmosphäre gegenüber Schwächeren herrschten vor. Genau die Stimmung also, die auch das Arbeitsleben so vieler Erwachsener prägt, hier wurde sie in ihrer Entstehung sichtbar – der Unterwerfung der Subjekte quasi.

Nachdem ich ähnliche Beobachtungen von autoritärem und langweiligem Unterricht an immer mehr Schulen gemacht hatte, beschloss ich das Berufsziel „Lehrer“ zu streichen. ReferendarInnen und junge LehrerInnen können zwar immer wieder versuchen das System Regelschule zu reformieren, erwartet wird in der Praxis aber ihre lückenlose Anpassung. Die reformorientierten Ansätze im Lehramtsstudium werden nämlich größtenteils im praktischen Teil der Ausbildung fallen gelassen. Sprüche wie: „Jetzt vergessen Sie mal was Sie im Studium gelernt haben!“ kennen wohl die meisten jungen Päda­gogInnen. Und mensch passt sich dann eben doch an.

Die Zusammenfassung von Otto Herz, an deutschen Regelschulen würden Kinder des 21. von Lehrkräften des 20. in einem System des 19. Jahrhunderts unterrichtet, ist also naheliegend. In diesen Schulen wird allzu oft die kollektive Resignation des Kollegiums während des Unterrichts auf die sonst so lebendigen Kinder übertragen, bis diese, kurz gesagt, der Mehr­heits­gesellschaft angepasst sind.

Es wäre sicher ungerecht, der Regelschule jede Reformierbarkeit abzusprechen. Viele engagierte LehrerInnen arbeiten teils seit Jahrzehnten daran und es wurden und werden durchaus Fortschritte erzielt. Leider werden diese Ansätze oft verwässert – so bedeutet „Freiarbeit“ meist nur noch, dass Arbeitsblätter „frei“ ausgefüllt werden dürfen, bis alle Kinder dieselben Blätter bearbeitet haben – oder können durch simple Ge­gen­re­for­men wie­der aufgehoben wer­den. Ein Beispiel für ein solches roll-back ist die Einführung des ADH-Syndroms (1): Kinder die sich ungenügend dem Frontalunterricht fügen, sind dann eben krank. Kein Wunder dass ein solches Modell in den altmodischsten Schulen am eifrigsten zur Rettung und Modernisierung althergebrachter Diszi­plinierungspraxis aufgegriffen wird. (2)

Wenn ich also nicht 20 Jahre warten will, bis die sächsische Regelschule vielleicht mal erträglich geworden ist, weil ich jetzt ein Kind im schulpflichtigen Alter habe, bleibt nur eine alternative, freie bzw. demokratische Schule übrig.

Diese Schulen sind bestimmt keine paradiesischen Inseln und laborieren seit eh und je an diversen Problemen, wie zum Beispiel Leistungsnachweisen. Es scheint nicht leicht zu sein, den Bildungserfolg von Kindern objektiv zu messen, wenn keine Lehrplaninhalte anhand von benoteten Tests abgefragt werden können. Die Vorteile äußern sich eher subjektiv:

Dadurch, dass die Kinder keinem fremden System unterworfen werden, sondern Räume, Inhalte, Zeitplan und Methoden selber beeinflussen können, werden andere Kompetenzen erlernt – nicht Anpassung, sondern Selbstwirksamkeit, nicht Konkurrenz sondern Kooperation, nicht Befehls­ ausübung sondern Mitbestimmung. Diese Unterschiede sind nicht deshalb so drastisch, weil in freien und demokratischen Schulen die besseren Leh­rerInnen oder Kinder wären, sondern weil ihre Struktur auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit ausgelegt ist und sich damit den Bedürfnissen der Menschen anpasst.

Zwar wird freien Schulen oft vorgeworfen, einer gewissen bildungsaffinen Schicht eine Wohl­fühleinrichtung zu bieten und alle anderen in der Regelschule allein zu lassen. Aber was soll daran elitär sein, wenn ich meinem Kind jahrelangen autoritären Unterricht ersparen will? Die Perspektive einer demokratischen Schule ist es ja gerade, offenen Unterricht exemplarisch vorzuleben und damit langfristig auch die Reform der Regelschule zu beeinflussen.

Um diese Entwicklung voranzubringen und gleichzeitig eine allgemeine Bildungsgerechtigkeit herzustellen wäre es natürlich wichtig, Schulen in freier Trägerschaft den staatlichen Schulen rechtlich und finanziell gleichzustellen. Dadurch gäbe es keine „alternativen“ oder „Regelschulen“ mehr, sondern alle Eltern und Kinder hätten die freie Wahl der Bildungseinrichtung. Bis es soweit ist, müssen sich Leute wie ich eben gegen die Mehrheitsgesellschaft entscheiden.

soja

(1) Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperakti­vitäts-Syndrom. Mit Aufmerksamkeits-Defizit ist aber nicht gemeint, dass die Kinder zu wenig Aufmerksamkeit bekämen, sondern aufbringen würden.
(2) Die so abgestempelten Kinder können dann wieder speziell „integriert“, sprich diszipliniert, werden. So kann sich der Unterricht „integrativ“ und die Schule „Integrationsschule“ nennen, aber das ist wieder eine andere Geschichte…

# Förderung von Haltungen der Unterwürfigkeit, Unehrlichkeit und Ungleichwertigkeit

# Als Lehrkraft wenig Gestaltungsfreiheit beim Unterricht

# Freie Schulen setzen auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit

# Alternative Schulen zeigen Reformmöglichkeiten für staatliche auf

ERSTER MAI – Ein Tag zum Feiern oder Kämpfen?

Am 01.05.1890 verweigerten erstmalig Belegschaften und gewerkschaftliche Gruppen verschiedener Länder gleichzeitig die Arbeit und forderten den 8h-Arbeitstag, das Ende des para/staatlichen Terrors gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung und Schluss mit der globalen kapitalistischen Ausbeutung. Heute, fast 120 Jahre später, kann weder von verkürzten Arbeitszeiten noch vom Ende des Raubbaus an Natur und Körpern die Rede sein. Ist also der 01. Mai 2xxx ein Tag zum Feiern, um Kräfte zu sammeln für den alltäglichen Kampf gegen die Mühlen, eine Zeit der Besinnung auf vergangene Siege? Oder ein Kampftag, den mensch dazu nutzen sollte, die Streiks und Arbeitsverweigerungen der nächsten Tage zu planen, und den Ausbau gegenseitiger solidarischer Assoziationen voranzutreiben? Brauchen wir den Ersten Mai noch? Und ist er überhaupt noch anschlussfähig für eine gegenwärtige soziale Bewegung? Einige Argumente und Schlüsse tragen die Diskutanten hier vor. Die Rolle des Weiterdenkens fällt dagegen Euch zu.

PRO:

Wenn die Rede davon ist, einen Feiertag zur Finanzierung von Steuerlöchern abzuschaffen, geht immer ein großer Aufschrei durchs Land. Und das zu Recht, denn wer lässt sich schon gern ein Privileg wegnehmen. Und trotz dieser Empörung muss es nach Ansicht der „Finanzexperten“ von Bund und Ländern doch manchmal sein. Dann geht das große Rätselraten los: „Welcher Feiertag entspricht am wenigsten unserer Kultur und ist ohne Identitätsverlust am ver­schmerz­barsten?“ Bis jetzt waren es immer die kirchlichen Feiertage. Betrachtet, welche Feiertage es gibt, sind es bis auf den National-Feiertag am 3.10. und eben dem „Internationalen Tag der Arbeit“ , nur solche. Dass die Kirchenoberhäupter das Abschmelzen der heiligen Tage nicht begrüßen, ist nachvollziehbar, aber sie haben die Streichungen hingenommen, denn ihr Einfluss ist be­grenzt. An die Streichung des 1.Mai hinge­gen hat sich noch keine deutsche Regierung gewagt, geschweige denn überhaupt nur diesen Gedanken geäußert. Ob dies nun ein Indiz ist für die Stellung dieses symbolischen Ta­ges in der Landeskultur oder für den Ein­fluss, den die Gewerkschaften und ihre Mitglieder in diesem Land haben, sei dahingestellt.

Fakt ist, die Arbeiter und Arbeiterinnen auf der ganzen Welt haben es in den letzten 100 Jahren geschafft, einen „Weltfeiertag“ zu installieren, der unabhängig von politischen Entwicklungen die Zeit überdauert hat. Hat der Ostblock diesen Tag vordergründig missbraucht, um mittels Panzer und Raketenparaden auf den „Roten Plätzen“ die­ser Blockwelt militärische Stärke zu de­monstrieren, hat die andere Seite diesen Tag genutzt, um ihren Forderungen nach arbeitsfreien Samstagen (1956), Atomwaf­fen­freiheit (1962) oder Vollbeschäftigung (1976) Ausdruck zu verleihen.

Der 1. Mai als letztes Überbleibsel aus Zei­ten der großen Streikbewegungen zu Mitte der Industrialisierung erinnert noch heu­­te an den Geist dieser Bewegung und muss deshalb gebührend gefeiert werden. Das ist doch auch der eigentliche Sinn ei­nes „Feiertages“ – zu feiern. Jeder Näher, Sekretär und Projektmanager hängt noch einen Brückentag an und freut sich über ein langes Wochenende, an dem sie frei vom „Ich-muss“ sind, der ihnen jeden Tag körperlich oder geistige Höchstleistungen abverlangt und ihnen die Zeit gibt, sich Ge­danken über ihre Situation in dieser Ar­beitswelt machen zu können. Und sollte es nicht zu Einsichten kommen, ist es we­nig­stens gewonnene Freizeit für Freunde und Familie, die allen dieser Tag beschert.

Während dessen formieren sich abseits von Tarifverträgen und Arbeitsplatzgaran­tien andere Interessengruppen rund um den 1. Mai, die sich nicht im wohlbehüteten Gebilde von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften befinden. McJobber, Dauer­praktikanten, Migranten und Ich-Ag-ler, Menschen die um ihre Existenz bangen, das sogenannte Präkariat. Gemeint sind die zunehmend unsicheren Arbeits- und Lebensbedingungen, denen der Mensch im Zeitalter des flexiblen Ka­pi­talismus ausgesetzt ist. Ob mit Wischmopp oder Laptop, Mini-Jobber oder Prak­tikant, im Call-Center oder hinterm Tresen: Gemeinsam ist den Prekarisierten die permanente Ungewissheit, wie es morgen weitergehen soll. Sie greifen den Gedanken 1. Mai wieder bei seiner ursprünglichen Bedeutung auf, um in einer staatsgrenzenübergreifenden Protestbewegung den weltweiten Wachstumsbestrebungen des Kapitals entgegen zu treten.

Können die Ereignisse von Seattle und Ge­nua als Beginn dieser Bewegung gesehen werden, manifestiert sich nun langsam die Einsicht in den Köpfen der Menschen, dass der trügerische Schein der so­zia­len Sicherheit eben nur Schein ist. Die in der Natur des Kapitalismus liegenden In­teressenkonflikte zwischen den „Klassen“ führen weiterhin zu einer Verschärfung der Lebenssituationen der arbeitenden Menschen. Daran soll dieser Tag im Mai erinnern. Aus den Ereignissen seiner Ge­schichte ist der 1. Mai DAS vereinende Moment. Er wird damit zu einem Ge­denk­tag, ohne den die Mach- und Durch­setzbarkeit von großen gesellschaftlichen Umwälzungen in der alltäglichen Realität der Menschen noch weiter aus ihren Blickwinkeln geräte.

(etap)

CONTRA

Eigentlich ist der 1. Mai eine ziemlich vorhersehbare Angelegenheit: Da gibt es zum Einen die üblichen DGB-Demos mit anschließenden Redebeiträgen und Bratwürsten. Für eher sportlich Interessierte stehen noch die traditionellen „Maifestspielen“ in Berlin-Kreuzberg zur Auswahl. Da geht es etwas dynamischer zur Sache, beim Räuber-und-Gendarm-Spielen mit der Polizei.

Trotz aller oberflächlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Arten, den Tag zu nutzen, haben diese in ihren Ursprüngen mehr gemeinsam als man denkt. Als es noch eine Arbeiterbewegung gab, die diesen Namen auch verdiente, wurde eben nicht gewartet, bis einem von staatlicher Seite mal ein Feiertag genehmigt wurde. Nein, am 1. Mai wurde einfach gestreikt, und das weltweit. Solch praktische Kritik der Arbeitswelt ergänzt sich gut mit der praktischen Kritik der Warenform, wie man sie am 1. Mai 1987 beobachten konnte. Da plünderten Kreuzberger Punks und Bürger gemeinsam einen Supermarkt (und lieferten sich hinterher Straßenschlachten mit der Polizei).

Mit dieser ruhmreichen Vergangenheit hat der 1. Mai heute (leider) nicht mehr allzu viel zu tun. Alle Reminiszenzen an diese dienen nur dazu, die öde Gegenwart etwas besser dastehen zu lassen. Der 1. Mai ist zur Revolutionsfolklore geworden, kein Ausdruck des Willens zur Veränderung mehr, sondern nur noch Routine, und so ein Ausdruck des grundlegenden Mangels an wirklichen Wahlmöglichkeiten. Indem dieser Tag offiziell zum Feiertag erklärt wurde (zum dauerhaften Feiertag wurde der 1. Mai in Deutschland bezeichnenderweise erst von den Nationalsozialisten gemacht), wurde der einstige Arbeiterkampftag seiner Substanz beraubt. Hinter solcher Symbolpolitik steht die Behauptung, die Forderungen, die sich früher mit diesem Datum verbanden, seien im wesentlichen eingelöst.

Die ritualisierten Gewerkschaftsdemos passen da nur zu gut ins Bild. An denen beteiligt sich das DGB-Fußvolk, wie es das auch bei Streiks tut, pflichtschuldig und gewissenhaft – halt so, wie mensch sonst auch zur Arbeit geht. Und die Riots in Kreuzberg kann man mit etwas gutem Willen vielleicht noch als Protest gegen einen durchreglementierten Alltag begreifen. Nur ist dieser Protest begriffslos und individualisiert, der Gehalt der ganzen Veranstaltung erschöpft sich hauptsächlich auf den Adrenalinkick oder hautnahe Erfahrungen in Sachen Polizeigewalt.

Natürlich, zum Protest taugt der 1. Mai so gut wie jeder andere Tag. Aber hat es die Menschheit jemals irgendwie weitergebracht, wenn alle nur das tun, was von ihnen erwartet wird? Vielleicht sollte man den Feiertag also lieber nutzen, um sich mal ordentlich auszuschlafen – dafür den 2. Mai zum internationalen Arbeiterkampftag erklären und gut ausgeruht streiken, bis auch der ein Feiertag ist. Und dann weitermachen, bis dieser unschöne Einheitsbrei von Ausbeutung und staatlicher Herrschaft 365 Tage im Jahr Schnee von gestern ist!

(justus)

Pro & Contra: Brauchen wir hierzulande Volksentscheide?

Am 27.01.2008  dürfen in Leipzig alle allgemein Wahlberechtigten über eine Bürgerinitiative abstimmen und damit möglicherweise den erneuten Verkaufsversuch der Leipziger Stadtwerke durch die Stadtverwaltung Leipzig verhindern. Doch selbst wenn am Wahltag genug Stimmen gesammelt werden können, um die vom Stadtrat geplante Privatisierung der Stadtwerke zu stoppen, was wurde damit wirklich erreicht? Sind Bürgerbegehren und erzwungene Volksentscheide ein Schritt vorwärts und hinaus über die parlamentarisch verfasste Parteienherrschaft? Bedeuten solche „plebiszitären Elemente“ einen Fortschritt an politischer Kultur und ein Mehr an politischer Mitbestimmung? Zwei kontroverse Meinungen seien kurz skizziert.

PRO:

Bürgerentscheide sind ein Schritt in die richtige Richtung, da sie sich weg von der Repräsentantenwahl und hin zur Basisde­mo­kra­tie be­wegen.

Hierzulande entscheiden Wenige über die In­teressen der Mehrheit und sind durch un­ser scheinbar demokratisches System noch dazu legi­timiert. Parteien verteilen vor der Wahl Hochglanzbroschüren an die Haus­halte; die glänzenden Positionen sollen Wählerstimmen brin­gen und ver­schwinden danach, bis zur näch­sten Wahl im Ak­ten­schrank. Die Stimme gilt fortan dem Parteirepräsentanten, der da­mit frei vom Wählergedanken agieren und anderen Interessen frö­nen kann. In­haltliche Entscheidungen werden weniger auf­grund ei­ner Auseinander­setzung mit der Sachlage im Interesse der Wähler/in­nen getroffen, sondern vielmehr von an­deren Faktoren abhängig ge­macht: Partei­druck, Lobbyismus, finanzielle Verstric­kun­gen oder inter­ne Verspre­chungen, wie dem „Opernballkom­pro­miss“ (siehe S.1/3f) sind hierbei Gang und Gäbe. Wer Macht hat, hat eben auch Ein­fluss. Enttäuschte Wäh­ler/innen können dies zwar monie­ren, än­dern können sie es hingegen nicht. So ver­wun­dert es kaum, dass viele nicht wäh­len, die Positionen als heiße Luft enttar­nen, über Politiker und ihre Entscheidun­gen am Stammtisch schimpfen oder sich generell von politischen Themen abwen­den.

Bei Bürgerentscheiden sieht das jedoch an­ders aus: Hier werden alle Betroffenen be­fragt und eine breite Basis kann ihre inhalt­li­che Po­si­tion (sofern sie sich in Frage und Ant­wort wiederfindet), geltend ma­chen. Nicht die Partei oder der Politi­ker, sondern ein konkretes in­halt­liches Problem ist Ge­gen­stand der Entschei­dung, an deren Er­­geb­­nis die Politik auch gebunden ist. Hier wird nicht mehr über heiße Luft verhan­delt, die dann zu­gun­sten anderer In­te­ressen ge­trost ver­gessen werden kann – nein, die Ein­zel­nen treffen ihre Ent­­­­­­­scheidung im In­­te­r­esse des eige­nen Wohles. Dies mag an man­­­cher Stel­le zu kurz ge­dacht sein, wird aber im Ganzen zu einer wünschenswerte­ren Politik, da die Menschen unabhängig ihres Status´ oder Geldbeutels selbst Ent­­schei­dungen über ihr Zusammenleben tref­fen können. Für ein ver­nunftgeleitetes Er­geb­nis ist es allerdings auch notwendig, dass mit dem Entscheid Aufklärungs- und In­­for­mations­po­li­tik einhergeht. Doch auch da hebt sich ein Bürgerentscheid po­si­tiv von der Stell­ver­treterwahl ab: Denn die konkrete Sachfrage animiert mehr Men­schen sich mit politischen Fragen in­halt­­­lich auseinan­der­zu­set­zen, In­formatio­nen zum Thema einzuholen und mit Freun­den, Bekann­ten oder der Familie da­rü­ber zu diskutieren. Die­se verstärkt prak­ti­zier­te aktive Mei­nungs­­bil­dung fördert das Po­li­tikbewusst­sein weitaus mehr, als die De­batten der Politikrepräsen­tan­ten, die aus gutem Grun­de von den sog. „Politik­ver­dros­se­nen“ angezweifelt und abge­lehnt wer­den. Zudem wird politisches Engage­ment gefördert – im Fal­le der Stadtwerke ist es dem Engagement und der Zusam­men­ar­­beit verschiedener lokaler Gruppen zu verdanken, dass die Leipziger über­haupt die Möglichkeit bekommen, über das Pri­va­tisierungs­vor­haben abstim­men zu kön­nen.

Parti­zipation bedeutet na­tür­lich mehr als ein Kreuz zu machen. Ein Bürgerentscheid widerspricht auch nicht dem deut­schen Parlamentarismus mit sei­ner scheinbaren Demokratie und er trägt aus anarchistischer Perspektive auch sicher nicht zur Über­win­dung der ge­sell­schaftlichen Verhältnisse bei. Trotz­dem ist diese Mög­lichkeit ein Fortschritt und ein Schritt in die richtige Richtung hin zu mehr basisorientierter Teilhabe an politi­schen Entscheidun­gen. Er bringt die Men­schen wieder mehr dazu sich mit Inhalten statt Partei-Theater auseinander zu setzen und in diesem Fall auf lo­ka­ler Eb­ene als un­ter­einander Glei­che bin­dend mitzustim­men. Ein Schritt in eine zu fördern­de Rich­tung ist es auch des­halb, weil ei­ne wün­schens­wer­te Gesellschaft auch jeden in Ent­­­scheidungen ein­be­ziehen wür­de und Po­li­tik nicht in die Hän­de anderer verlegt wä­re, über die man sich dann am Stamm­­tisch beschwert.

(momo)

CONTRA:

Nimmt mensch die Frage nach dem Für und Wi­der plebiszitärer Ele­mente innerhalb der par­lamentarischen Demokratie nur ab­­strakt, scheint die Antwort völlig klar: Dem na­tio­na­len Volk als Sou­verän steht jedes Moment di­rekter Wahlentscheidungen gut an, da so der ohnehin aufklaffende Spalt zwi­schen Sou­verän und re­­präsen­ta­ti­ver Ver­treterschaft durch die parteigebundenen Wahl­män­ner und -frauen zumindest ein stück­weit abge­mil­dert wird. Es macht den Ein­­druck, als hät­te der Bürger per Volksent­scheid ein zu­­­sätz­liches Kon­trollmoment ge­gen­über den ge­wähl­ten Parla­men­ta­riern in der Hand. Was soll also so falsch daran sein? Ganz einfach: Die­­se Kon­trol­­le ist eine Illu­sion, die jene nur weiter fortschreibt, dass der Bür­ger mit sei­nen alljährlichen Wahl­entscheidungen Rich­tung und Inhalt der Politik mitbestim­men könnte. Das dem nicht so ist, kann mensch schon an dem Ge­ze­ter abmessen, wel­ches immer dann über die Republik her­ein­bricht, wenn aus Wahl­versprechen und -pa­rolen regelmäßig kon­krete Regierungspo­li­tik gemacht wird. Mo­der­­ne Staatsführung hat eben wenig gemein mit der griechischen Stadt­­staatverwaltung in der Antike. Unter den Voraussetzungen der Par­teienherrschaft kön­nen Volksent­schei­de gar nicht viel mehr be­wir­ken, als die Bürger zu berauschen am Funk­tionieren des Systems und damit die Ver­häl­tnisse fort­schreiben. Sie sind Opium fürs Volk, Poli­tik im Zeitalter einer Gesell­schaft des Events. Mit echter Partizi­pa­tion hat das alles sehr we­nig zu tun. Bestes Bei­spiel hierfür gibt das aktuelle Bürgerent­scheids-Verfahren in Leip­­zig (siehe S.1/3f). Denn die feder­füh­ren­de Bürgerinitiative wirbt ja nicht FÜR eine kon­krete Alterna­tive sondern lediglich GEGEN die Pläne der Stadt. Da kann die Links­partei noch so­viel ideologische Ima­ge­pflege betrei­ben: Das JA! am 27.01. ist fak­tisch nur ein NEIN! Die politische Aus­ge­stal­tung einer Alterna­ti­ve ist wiederum nur an die regierende Frak­­tion delegiert. Und dementsprechend kurz­atmig ist auch die poli­tische Kultur, die durch das ganze Ver­fahren ins Leben geru­fen wird. Inhalt­lich wirklich aufgeklärt sind, wenn über­haupt, dann nur die wenigen Pro­ta­gonisten der Initiative, das Engagement der meis­ten JA!- und Amensager dagegen ist auf ein­ge­übtes Unter­schriften-Ab­geben und das ob­li­gatorische Kreuzchen am Wahl­tag be­schränkt. Letzt­lich funktioniert die Mo­bi­li­­sation der notwendigen Massen wie üb­­lich über das Bedienen der ohnehin vor­han­­­denen Ressenti­ments. Privatisierung ist ja auch Scheiße! Alles klar?

Letzt­­lich täuschen Volksentscheide nur da­rü­­­ber hinweg, dass im der­zeitigen poli­tischen System eine Teilhabe der Betroffe­nen weder reali­siert noch gewünscht ist. Und diese Teilhabe bekäme auch nur dann eman­zi­pa­to­­rischen Gehalt, wäre sie die Folge einer po­li­tischen Kul­tur, die tatsächlich die Bedürfnisse der In­­vol­vierten zum Gegen­stand hät­­­te. Dem ist aber mitnichten so. Einzig be­­frie­digt werden da­bei doch die Geltungs­be­dürf­nis­se einer außer/parlamentarischen Bür­ger­frak­tion, die den nationalen Kon­sens der Par­teien ja gerade teilt, sonst wür­­de sie nicht zur system-bejahenden An­alpha­­beten­wahl auf­rufen, son­dern bspw. den Widerstand in den Betrieben konkret organi­sie­ren. Fak­tisch wird es aber nieman­dem besser oder schlech­ter ge­hen, egal wie sol­che Entscheide aus­gehen. Entweder-Oder-Wahlen sind eben kein Gestaltungs­mit­tel. Lediglich die Rechts­­ab­teilungen der Par­teien bekommen so mehr Ar­beit. An den grund­sätzlichen Plä­nen und In­te­ressen än­dert sich dabei nichts, sie müs­sen einzig „um­­pro­grammiert“ werden. Der Bür­ger geht der­weil stolz ge­schwell­ter Brust nach Haus und versöhnt sich durch den Schein rich­ti­gen Handelns mit den falschen Ver­hält­nis­sen.

Al­ler­dings ist Ignoranz dem gegenüber auch keine politische Hal­tung. Und eine sol­che sollte mensch schon aufbieten, unabhängig da­von wie sich Herr­­­schaft akut formiert. Dazu gehört zu­min­­dest die kritische Aus­einander­set­zung mit dem, was sich politisch gerade be­wegt. Wenn nö­tig heißt das auch: Gegenbewe­gung. Be­trachtet mensch den kon­ser­vativen und teil­weise reaktionären Kern der mei­sten Volks­ent­scheid-Initiativen, so bräuch­te es derzeit und hierzu­lan­de gerade ver­­nünftige Kam­pagnen GEGEN die Illu­sion der Mit­be­­stimmung, die jene suggerie­ren. Dem auf­ge­klärten, politischen Be­wusstsein bleibt des­halb nach wie vor nur eine Wahl: Den eige­nen Stimm­zettel un­gültig zu machen und ei­ne an­dere po­li­tische Kul­tur ech­ter Parti­zi­pa­tion vor­an­zu­trei­ben. Und das heißt schluss­­­end­lich: Den Hemm­­­schuh ‚Volks­­­ent­scheid’ schnell­stens ab­zu­streifen.

(clov)

Kommunen: Selbstermächtigung oder -isolierung?

Die Idee der Kommune wird bereits seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert, da sie auf der einen Seite Sehnsüchte nach Unabhängigkeit, persönlicher Entfaltung und kollektiver Selbstermächtigung weckt, allerdings andererseits Befürchtungen von internen Abhängigkeiten und Abschottungsprozessen gegenüber der „Außenwelt“ hervorruft.  Ebenso umstritten ist es, ob es politisch sinnvoll sei, für die Gründung von Kommunen als Mittel zur langfristigen Überwindung des Kapitalismus, zu streiten. Oder sind sie diesem vielmehr von vornherein unterlegen? Fördern nun Kommunen kapitalistische Herrschaftsstrukturen oder ist sie deren beispielgebender Gegenentwurf?

PRO

Die weitverbreiteste Mär über die „Kom­mune“ beginnt in etwa so: „Hinter sieben Bergen, bei den sieben Zwer­gen …“ und wird von einer urba­nesken Bohemé kolportiert, für die „revolutionär“ höchstens noch ein Prädikat für eine neue Kneipe auf der gewohnten Partymeile bedeutet. Sachlich betrachtet, ist die förderal organisierte, kommunale Selbstverwaltung dagegen der realistischste Gegenentwurf zum modernen Flächenstaat mit seinen zähen und korruptionsanfälligen, zentralen Verwaltungsapparaten. Und die politische Vorstellung eines Netzwerkes dezentraler, unabhängiger Kom­munalverwaltungen, die vielfältige, vitale Austauschbeziehungen miteinander pflegen, ist tatsächlich älter und historisch weitaus wirksamer gewesen, als die krude Idee eines allumfassenden, beständig mehr Ohnmacht produzierenden, römischen Leviathans. Sei es nun im politischen Leitbild der griechischen Polis, in den vormittelalterlichen Christengemeinden, in den unzähligen neuzeitlichen Siedlungs­be­wegungen, im Städtebundgedanken, in den Anschauungen der frühen SozialistIn­nen, in der Kibbuzim-Bewegung der Neo-Israeliten oder etwa in der Bolo-Bolo-Utopie der AnarchistInnen. Immer dann, wenn man ernsthaft die politische Mitbestimmung und damit zwingend verbunden, die Verantwortung der gemeinschaftlich organisierten Individuen, also die Selbstermächtigung jedes Einzelnen, ins Zentrum politischer Überlegungen rückt, wird mensch letzt­lich bei der Vorstellung eines Netzwerkes selbstverwalteter Kommunen enden. Nicht anders der anti­kapi­ta­listische Kampf des Kommunismus der Arbeiter UND Bauern, deren revo­lutionä­rer Fixstern nachwievor die Pariser Com­mune von 1871 ist. In diesem mo­dernen Idealbild kommunaler Selbstverwaltung spielt die direkte Kontrolle der landwirtschaftlichen Grundversorgung ebenso eine Schlüsselrolle wie die gemeinschaftliche Verfügung über Werkzeuge bzw. Produktionsmittel, um Güter des alltäglichen Be­darfs herstellen und/oder mit anderen Kom­munen tauschen zu können, und so eben von den zentralen Verteilungsmecha­nis­men des korrupten Staates bzw. des ausbeutenden Kapitals unabhängig zu sein. Man mag die Möglichkeiten solcherart lo­kaler Autonomie vor dem Hintergrund eines ausdifferenzierten, omnipräsenten Rechtsstaates aktuell ungünstig einschätzen, allein diese Einsicht entbindet uns nicht von der politischen Verantwortung, für zukünftige Generationen die Experi­men­tierräume zu erkämpfen und zu verteidigen, die sie dereinst befähigen werden, zu besseren politischen Verhältnissen miteinander fortzuschreiten.

Das politische Ideal der Kommune ist deshalb nicht nur für die weitere Entwicklung der sterbenden Industrienationen von entscheidender Bedeutung. Es ist auch eine zentrale Kategorie, wenn in Zu­kunft wirklich Ernst gemacht werden soll mit einer auf Ge­genseitigkeit be­ruhenden Entwicklungszusammenarbeit zwischen mehr und weniger technisch bzw. kulturell entwickelten Regionen rund um den Globus. Das Leitmotiv aufklärerischer Exportschlager sollte deshalb nicht Nation-Building sondern vielmehr Kommunen-Building heißen. Die Kommune ist dabei jedoch gleichzeitig kei­ne universelle Lösung mit genauen Parametern, sondern lediglich eine gemeinsame Richtung. Der Grad und die Art und Weise der jeweiligen Kommunalisierung muss von Gruppe zu Gruppe und von Re­gion zu Region nach eigenen Ansprüchen und Herausforderungen selbst bestimmt werden. Das betrifft ihre Größe, um politische Mit­bestimmung und individuelle Selbstbestimmung zu gewährleisten, das betrifft das Maß an landwirtschaftlicher und energetischer Subsistenz, um eine unabhängige Grundversorgung sicher zu stellen, und das betrifft die Menge an betrieblicher Gemein­schaftsproduktion, um durch Austausch alle weiteren Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass die Arbeit hierfür zur Qual wird.

Die selbstverwaltete Kommune, ob nun als Aussteigerprojekt müder Großstädter oder als Genossenschaft von Bauern und Bäuerinnen, ob als besetzte Fabrik oder Kleingärtner-Syndikat, ist also nach wie vor die einzige vernünftige Antwort, die mensch den revolutionären Geistern dieser Erde geben kann, wenn sie nach mehr Selbstbestimmung, mehr politischer Mitbestimmung und damit nach mehr lokaler Autonomie verlangen.

(clov)

CONTRA

Neben anderen Aktionsformen war und ist auch der Aufbau von Kommunen ein beliebtes Mittel der libertären Bewegung, um der herrschaftsfreien Gesellschaft ein Stück näher zu kommen. Die lange Tradition dieses Ansatzes sagt freilich wenig über seine Brauchbarkeit aus. Um die zu beurteilen, muss man zunächst wissen, was man mit der Kommune erreichen will. Mögliche Ziele wären z.B. Abkopplung von der kapitalistischen Ökonomie, Propaganda der Tat, Herrschaftsfreiheit in der kleinen Gemeinschaft, Überwindung des Systems durch Aufbau einer Parallelökonomie.

Wenn Leute sich angesichts der herrschenden Zustände in ihre eigene geschützte Ni­sche zurückziehen, mag das im Rahmen der jeweiligen Biographie ein vernünftiger Schritt sein. Das heißt nicht, dass es auch politisch sinnvoll ist. Der Versuch, den Kapitalismus durch den Aufbau einer Pa­rallel­öko­nomie zu über­winden, ist je­denfalls zum Scheitern ver­urteilt – die ka­­pi­talistische Öko­nomie ist we­ni­ger kon­kur­renz­orien­tierten Wirt­schafts­formen stets überlegen, wenn es darum geht, sich im­mer neue Bereiche der Welt ein­zuverleiben. Selbst eifrige Propagandisten des Kommunelebens (wie G. Landauer) machten sich da keine Illusionen, die Entwicklung z.B. der israelischen Kibbuz-Bewegung hat es auch praktisch bewiesen.

Auch was die Propaganda durch die Tat, das praktische Beispiel angeht, ist der Wert des Kommu­ne­modells gering. Die Ab­kopplung von der kapitalistischen Öko­­nomie und die Konstruktion einer ge­schlos­senen Einheit von Arbeitsplatz, Wohn­­ort, Politgruppe und Freundeskreis führt dazu, dass mensch sich auch von de­nen abkoppelt, die durch das eigene Beispiel überzeugt werden sollten. Dies gilt um­so mehr, da das Kommunemodell vor allem auf den ländlichen Raum zuge­schnit­ten ist – in der Stadt gibt es schließ­lich kaum einen Grund, warum mensch z.B. am Arbeitsplatz auch noch wohnen sollte.

Zudem garantiert die kleine Gemeinschaft keineswegs Herrschaftsfreiheit. Auch sie kann einen repressiven, von starren Hier­ar­chien geprägten Charakter annehmen. Die freie Assoziation setzt nämlich nicht nur die Freiwilligkeit des Eintritts in eine Ko­operation voraus, sondern ebenso die Mög­lichkeit, aus der so entstandenen Vereinigung auch wieder auszutreten. Diese Mög­lichkeit muss nicht nur theoretisch be­stehen (als flapsiges „Du kannst ja gehen, wenn dir was nicht passt!“), sondern auch praktisch, d.h. ohne dass dies (wo­mög­lich untragbare) negative Folgen für das Individuum hat. Nur dann ist die tatsächliche Freiwilligkeit einer Zusammen­ar­beit gewährleistet. Die Struktur der Kom­mune mit ihrer Kopplung aller wichtigen Lebensbereiche steht dem entgegen: Wer mit einem Schlag seinen Lebensunterhalt, seine Wohnung und sein soziales Umfeld zu verlieren droht, überlegt im Kon­fliktfall dreimal, ob er der Mehrheit widerspricht oder sich nicht doch eher unterordnet.

Mehr noch: Wenn jemand eine Möglichkeit suchen würde, um eine Gruppe von Menschen in größtmöglicher ökonomischer Abhängigkeit zu halten, die lückenlose Überwachung nicht nur der Gruppe als ganzer, sondern auch die wechselseitige, alle Lebensbereiche umfassende Kontrolle der Gruppenmitglieder untereinander zu gewährleisten, so könnte derjenige nur schwer ein Modell finden, dass besser dafür geeignet wäre als die Landkom­mune.

Soweit wird es in den meisten Fällen nicht kommen. Es geht mir auch nicht darum, irgendwelche Horrorszenarien zu entwerfen – der Punkt ist, dass die Struktur der Kommune nicht geeignet ist, im Falle des „Größten Anzunehmenden Unfalls“ dem Entstehen neuer Herrschaftsverhältnisse entgegenzuwirken, sondern diese im Gegenteil noch verstärkt. Das „System“ aussperren zu wollen ist nutzlos – wenn man sich selbst dabei einsperrt, wird es gefährlich.

(justus)