Schlagwort-Archive: Repression

Erklärung zur Kriminalisierung antifaschistischen Engagements

Am Abend des 19. Februar stürmte die Polizei das Info- und Pressebüro des Bündnisses „Dresden Nazifrei“. Im April und Mai folgten großangelegte Razzien in Sachsen und Brandenburg. 20 Wohnungen von Antifaschist_innen wurden durchsucht. Grundlage dafür ist ein Ermittlungsverfahren nach §129 des Strafgesetzbuches. 17 Personen werden darin beschuldigt, kriminelle Vereinigungen gebildet zu haben, die für Angriffe auf Nazis sowie Sachbeschädigungen verantwortlich sein sollen. Zu den Durchsuchungen mobilisierte die Polizei Großaufgebote und zum Teil schwer bewaffnete Spezialeinsatzkomman­dos. Das martialische Auftreten soll linke und antifaschistische Strukturen einschüchtern und in der Öffentlichkeit deren vermeintliche Gefährlichkeit vor Augen führen. Großzügige (Vorab-)Informationen für Jour­na­list_in­nen, Bildmaterial von verletzten Nazis und Interviews von LKA-Chef und Innen­mi­­nister über die unterschätzte „Gefahr von links“ taten das Übrige für die erwünschten Schlagzeilen.

Diese Ermittlungen sind Ausdruck eines politischen Programms, dass die schwarz-gelbe Regierung Sachsens seit 2009 immer intensiver verfolgt. Auf der Grundlage einer Extremismus-Doktrin versuchen CDU und FDP antifaschistisches Engagement zu diskreditieren.

In einem Interview sprach Innenminister Markus Ulbig (CDU) vom Anstieg „linksextremer Gewalttaten“, von 89 im Jahr 2009 auf 130 im Folgejahr. Woraus der plötzliche Zuwachs resultiert, erörterte er nicht. Er beruht vor allem auf Großereignissen, wie den Protesten gegen die Naziaufmärsche am 13. und 14. Februar 2010 in Verbindung mit dem weit gefassten Gewaltbegriff der Statistik zur “Politisch motivierten Kriminalität”. So fällt hierunter bereits “Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ – also zum Beispiel das aktive Stemmen gegen den Boden bei Räumung einer Sitzblockade.

Nach den auf Bundes- und Landesebene forcierten Warnungen vor dem unterschätzten „Linksextremismus“ mussten nun endlich “Tatsachen” aus dem Hut gezaubert werden. Dieses Ermittlungsverfahren mit seiner medialen Begleitung soll Argumente für eine repressive Politik gegen linke Strukturen liefern. Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt (LKA) bemühen sich sehr darum, das öffentliche Bild der „linksextremen Schläger“ (SäZ) zu untermauern. Die Ermittlungen indes basieren auf einer fragwürdigen Grundlage. Der § 129 ist ein Gesinnungs- und Ermittlungsparagraf. Er wird nahezu ausschließlich im politischen Bereich angewendet, jedoch nur ausnahmsweise zur Anklage oder gar Verurteilung gebracht. Er gibt den Behörden weitreichende Instrumente an die Hand, etwa die Überwachung von Telekommunikation, Observationen oder den Einsatz verdeckter Ermittler. Dieses Repertoire kann großzügig auf nahezu beliebige Per­sonenzusammenhänge angewendet werden. Es genügt ein geringer Anfangsverdacht. Im vorliegenden Fall ist dieser mit Telefonaten gegeben, in denen über Veranstaltungen von Nazis informiert wurde. Zusammenhänge zwischen den Beschuldigten und den vorgeworfenen Straftaten bleiben nebulös. Ganz real hingegen sind die empfindlichen Eingriffe in die Privatsphäre der Betroffenen und der materielle Schaden in Folge der Durchsuchungen, die neben vielen Privat­wohn­ungen auch das „Haus der Begegnung“ betraf, in dem sich im Februar das Büro von „Dresden Nazifrei“ befand.

“Das ist sächsische Demokratie.” (Wolfgang Thierse)

Politiker_innen oppositioneller, demokratischer Parteien von SPD über Bündnis 90/Grünen bis hin zur Linkspartei wird immer wie­der aufgrund ihres Engagements gegen Nazis zweifelhafte Verfassungstreue unterstellt. Die Staats­an­waltschaft Dresden ermittelte wegen der Teilnahme an Blockaden des Nazigroßaufmarschs gegen den Frak­tions­vorsitzenden der Linkspartei André Hahn und sprang auch für die Strafanzeige gegen Wolfgang Thierse (Bundestagsvizepräsident, SPD) aufgrund seiner Äußerungen zum Zustand der sächsischen Demokratie in die Bresche. Zivilgesellschaftliche Initiativen und Antidiskriminierungsvereine werden vom Freistaat immer stärker kontrolliert und an die Leine genommen. Sie sollen sich per Unterschrift zur FdGO bekennen und überprüfen, ob ihre Part­ner_innen „Extremisten“ sind. Hier wird auf Methoden autoritärer Regime zurückgegriffen. Schluss­end­lich wird repressiv gegen die außer­parla­mentarische Linke und Antifas vorge­gan­gen.

Nicht mit uns!

Antifaschistisches Engagement ist und bleibt notwendig, solange diskriminierende und autoritäre Zustände existieren. Die Gleichsetzung von Links und Rechts, die mit der Extremismus-Doktrin behauptet wird, entbehrt jeder Grundlage. Rechte Gewalttaten auf Leib und Leben von Menschen, Naziveranstaltungen und diskriminierende Einstellungen sind das Problem, dem es zu begegnen gilt. Wir werden uns trotz staatlicher Diffamierung, Gängelung und Krimi­na­lisierungskampagnen auch in Zukunft gegen Nazis und rechte Einstellungen in der Mehrheitsgesellschaft einsetzen. Wir werden auch in Zu­kunft unsere Demonstrations- und Meinungsfreiheit wahrnehmen, um ohne staatliche Reglementierung gegen Nazis zu protestieren. Ziviler Ungehorsam ist dafür notwendig und legitim. Wir solidarisieren uns mit Menschen, Vereinen und Initiativen die sich für eine offene, faire und gleich­­be­rech­tig­te Gesellschaft einsetzen.

16. Mai 2011 – Kampagne zum Zustand sächsischer Demokratie

Unterstützung: unterstuetzen@sachsens-demokratie.net
sachsens-demokratie.net/index.html

Repression

Papa Staat: „Wehe den Pflichtvergessenen…!“

Im "Magdeburger 129a-Verfahren" setzt das zuständige Oberlandesgericht Halle auf möglichst lange Beugehaft für zwei Aus­sageverweigerer.

Derzeit läuft das zweite Re­visions­verfahren im Gefolge des Prozesses gegen drei Personen aus der autonomen Bewegung in Magdeburg (Marco, Carsten und Daniel). Ihnen wurde vorgeworfen, 2001 und 2002 Brandanschläge auf ein LKA-Gebäude, einen BGS-Einsatzwagen, ein Autohaus und Fahrzeuge der Telekom begangen zu haben. Während der Ermittlungen wurden die Magde­burger Zusammenhänge massiv beschattet und Aussagen erpresst.

Am 16.12.03 war Urteilsverkündung: Carsten wurde mangels Beweisen freigesprochen, womit auch die Anklage nach 129a hinfällig wurde, da eine „terroristische Vereinigung“ per Definition mindes­tens drei Mitglieder hat. Die anderen beiden gingen gegen die Verurteilung zu 2,5 bzw. 2 Jahren Haft in Revision. Im zweiten Prozess wurde das Urteil gegen Marco bestätigt: 2,5 Jahre ohne Bewährung und sämtliche Verfahrenskosten.

Momentan läuft also der dritte Prozess, das Revisionsverfahren von Daniel. In diesem verweigerten ins­gesamt elf Zeug­Innen die Aussage – Marco und später auch Carsten wurden dafür auf An­ordnung von Richter Braun in Beugehaft genommen und zu Geldstrafen verurteilt. Beugehaft – endlich mal eine aussagekräftige behördliche Bezeichnung – ist eine disziplinarische Maßnahme, die für bis zu sechs Monate verordnet werden kann. Denn von Ausnahmefällen abgesehen (Selbstbelastung, Verwand­schaft), ist man als Bürger vor Gericht zur Zeugenaussage verpflichtet. Das Gericht nimmt dabei keine Rücksicht auf die materiellen Folgen für den betroffenen Zeugen – für die Dauer der Haftzeit werden bspw. Sozial­leistungen wie ALG II oder Kindergeld eingestellt, obgleich Kosten wie Miete freilich weiter anfallen. Trotz dieser Aussichten hatten 11 ZeugInnen in einem Kollektiv erklärt: „dass es keine harmlosen Aussagen gibt“ und dass sie es nicht (ein)­“sehen, FreundInnen zu denunzieren oder ihre persönlichen Verhältnisse dem Gericht offen zu legen.“

Nun wird das Verfahren mit Prozesstagen, die durchschnittlich eine Stunde dauern(!), weiter verzögert – so wird auch die Beugehaft in die Länge gezogen. Am 8.8.05 dauerte die Verhandlung ganze acht Minuten, nachdem ein Zeuge vernommen worden war, der bestätigte, dass Daniel in einer Anschlagsnacht (18.3.2002) auf einer Geburts­tags­feier war.

Die nächsten Verhandlungstage finden jeweils am 13.9., 4.10., 1.11. 2005 ab 9:30 Uhr im Justizzentrum Halle, (Thüringer­str. 16) statt. Kommt zahlreich, um zu zeigen, dass Carsten und Marco nicht alleine sind!

Unterstützung erhalten die Betroffenen dabei v.a. von der Soligruppe Magdeburg/Quedlin­burg, die nicht nur im Oktober 2003 eine Demo mit 3.000 Teil­nehmer­Innen organisierte, sondern auch jetzt noch aktiv ist: am 18. Juni 2005 fand in Magde­burg eine bundesweite Antirepressionsdemo statt, die mit 300 Leuten eher leidlich besucht war. Am 28.8. schließlich versammelten sich 50 Unter­stützerInnen aus verschiedenen Städten vor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Halle I zu einer Kundgebung – gut zwei Stunden lang spielten sie Musik und konnten auch Blickkontakt mit einigen Inhaftierten aufnehmen.

Infos & News auf www.soligruppe.de

Lokales

Polizeibericht von „unten“

Im März diesen Jahres veröffentlichte die Projektwerkstatt Saasen einen fünfzig­seitigen Bericht namens: "Fälschungen, Erfindungen und Hetze". Darin werfen die Autoren der Gießener Polizei, Staats­anwaltschaft und Presse vor, sich im Kampf gegen die "oppositionellen Grup­pen" nicht an die rechtsstaatlichen Mittel zu halten, Beweise zu konstruieren und trotz Gegen­dar­stel­lungen Falsch­mel­dungen zu kolportieren. Der Schwerpunkt der Dokumentation sind Erfindungen von angeblichen Tatbeständen und Tat­beteiligungen, die durch widersprüchliche Polizeiveröffentlichungen untermauert werden.

Der brisanteste Fall ist wohl eine öffent­liche Gedichtlesung, die am 09.12.03 auf dem Gelände des Gießener Gerichts im Rahmen von Protes­ten ver­schiedener Grup­­­­pen gegen eine neu beschlossene „Ge­­­fah­ren­­­ab­wehr­ord­­nung“ und die Innen­stadt­politik statt­­­­fand. Diese brach die Polizei nach wenigen Minu­ten ab, erteilte Platz­verweise und hielt 12 Personen 18 Stunden ohne Angabe von Grün­den fest. Für die Polizeiakten hieß es, die Gruppe habe vorgehabt, "Farb­schmierereien zu be­gehen", die Beweise dafür seien Farb­spuren an der Kleidung gewesen. Auf die Beschwerde eines Betroffenen habe die Polizei ein halbes Jahr später geantwortet, es seien gar Brandanschläge geplant gewesen. Beweis: Eine Flasche Terpentin. Die Frage, was eine Terpentinflasche bei einer Gedichtlesung macht, ist nicht abschließend geklärt, allerdings scheint das zusammengetragene Material brisant genug zu sein. Jedenfalls hat das Amts­gericht Gießen den Bericht wegen des "Verdachts auf Beamtenbeleidigung" beschlagnahmen lassen.

Die Dokumentation und ausführliche Infos: www.polizeidoku-giessen.de

Unsere Träume kriegt ihr nie!

AZ Ex-Steffi geräumt

6. April, 6 Uhr – Schweres Geschütz rollt an, zum Sturm auf die Karlsruher „Ex-Steffi“: Wasserwerfer, Räumpanzer, Hebebühne, SEK, Sanitäter… Der Gerichtsvollzieher ist auch früh aufgestanden, um zuzusehen, wie die Bewoh­ner­­Innen in mehreren Anläufen nach und nach alle aus dem Haus gezerrt und festgenommen werden. Die ausgedehnte Verwahrungshaft endete für die ExbewohnerInnen dann mit einem Platzverweis für ganz Karlsruhe. Nach der Demolierung der Bausubstanz errichten die Baufirmen vor Ort einen Bauzaun – alles erledigt?!

Vor diesen Ereignissen, während die Räumung zwar drohte, aber noch verhandelt wurde, hatte „unser Mann in Karlsruhe“ auf Anfrage folgende Zeilen geschickt. Nach der plötzlichen Räumung und 24 Stunden Verwah­rungs­haft verständlicherweise aber keinen Nerv mehr den Text in seiner Gänze zu aktualisieren. (clara)

Hier nun also die Vorgeschichte:

Situationale Einblicke vor der Räumung

Ich sitze hier im Kerzenschein, die Luft hinter den vernagelten Fenstern ist stickig, die Stimmung unter den BesetzerInnen gedrückt. Ein Stockwerk unter uns bemühen sich gerade mehrere Hundertschaften der Polizei und ein Sondereinsatzkommando, Herr der Lage zu werden und zu uns vorzudringen.

Karlsruhe, im Februar 2006: Nach dem Auslaufen des Mietvertrages mit der Stadt ist das soziokulturelle Zentrum Ex-Steffi endlich wieder besetzt. Wir feiern unser 15-jähriges Bestehen, bauen fix ein paar Barrikaden vor der Tür auf und überschwemmen die Stadt während der ersten Aktionstage mit kostenlosem Essen, spontanen Aktionen und guter Laune. Parallel dazu laufen Ge­spräche mit der Stadt über das von uns für Wohn- und Kulturzwecke genutzte Gelände. Die Pläne der Stadt sehen anstatt eines linken Zentrums und ca. 40 Künstlerateliers eine schrottige Gewerbefläche, bzw. einen „Time Park“ vor. Die „Initiative Kulturoase“, die den Kauf des Geländes durch die NutzerInnen anstrebte, scheiterte an der ablehnenden Haltung der Stadtverwaltung.

Damit etwaigen Immobilienhaien nicht schon bei der ersten Besichtigung der Appetit vergeht, versucht man uns nun von unserem Gelände zu vertreiben, bzw. uns und un­sere Gäste zu isolieren: Ringsherum pa­trouillieren Beamte in Zivil an den Gleisbetten; es werden Ausweise kontrolliert, Taschen durchsucht. Eine Anzahl von Leuten hat inzwischen Aufenthaltsverbot in Karls­ruhe. In regelmäßigen Abständen kreisen Hubschrauber über dem Gelände, die uns das Gefühl geben, dass Sorglosigkeit ein Verbrechen ist. Und dass unsere generelle Verurteilung wie auch die Kontrollen neue (Schleich-)Wege nötig machen.

Es klopft an der Wand und Arthur kommt herein, seifig lächelnd und mit einem Telefon in der Hand. Am Apparat ist Sozialreferent Denecken, der uns als Vertreter der Stadt noch einmal beteuert, wie wenig er für uns tun könne, mit der Bitte doch irgendwann mal bei einem seiner Banketts für Obdachlose vorbeizuschauen. Geht klar. Auch OB Fehnrich telefoniert mit, auch er lädt uns zu einem Besuch seiner Wahlparty am 2.Juli. Ihr müsst wissen, dass hier nämlich die Stimmen für die CDU genetisch vererbt werden. Wir kommen!

Schließlich ist da noch der Obergerichtsvoll­zieher, der am 30. März mit ersten Räu­mungs­­­maßnahmen begann und in dessen Handlungsspielraum ein Aufschub der Räumung von bis zu sechs Monaten liegt. Diesen wollte er uns auch gewähren, solang wir unsere Bemühungen um Alternativen dokumentierten und friedlich blieben.

Mit der Unterstützung des Mietshäusersyndikats aus Freiburg gelang es der „Initiative Kussmaulstraße“ eine GmbH in Gründung auf die Beine zu stellen, die nun mit dem Erwerb eines riesigen Geländes in der Weststadt Platz schaffen will für alternatives Wohnen, für kollektive Werkstätten und Geschäfte, unseren geliebten Kulturraum und noch den ein oder anderen Obstbaum. Es liefen erneut Verhandlungen mit den Fraktionen im Stadtrat und die Initiative sammelt für die GmbH Anlagekapital durch Direktkredite und Bürgschaften.

Plötzlich klopft es wieder: „Kommt alle raus, die Sonne scheint!“. Irgendwer hatte die Sicherheitstür offen gelassen. Durch diese Alarmsimulation hat sich außerdem gezeigt, dass unsere UnterstützerInnen vor dem Haus noch nicht alle wussten, wie sie mit den Einsatzkräften umzugehen hatten. Was geht?

…Wir wurden also trotz dieser Bemühungen und trotz der Zusage des Gerichtsvollziehers geräumt. Dennoch: Linker Freiraum lässt sich mit Recht nicht verbieten!

mütz

Magdeburg – Politik vom Richterstuhl

129a (StGB)-Verfahren gegen Linke in Sachsen-Anhalt

Der Ge­ne­ral­bundes­an­walt beim Bundes­ge­richts­hof ließ am Mor­gen des 27. November 2002 durch Beamte des Bun­des­kriminalamts und des Landes­kri­mi­nalamts Sachsen-Anhalt vier Woh­nungen in Magdeburg, Quedlinburg und Berlin durch­suchen. Am selben Tag wurden Daniel in der Wohnung seiner Mutter und Marco in Magdeburg auf offener Straße von Sonderein­satz­kommandos der Polizei überwältigt und festgenommen. Sie stan­den zu diesem Zeit­punkt in den Augen der Ermittlungsbehörden in Verdacht, bei An­schlä­gen am 18. März 2002 an Polizei­ein­rich­tungen in Magde­burg beteiligt gewesen zu sein.

Es handelt sich hierbei um zwei Brand­an­schläge auf das Gebäude des Landes­kri­mi­nal­amtes (LKA) in Magdeburg und auf Fahrzeuge des Bundesgrenzschutzes (BGS). Auf das Gebäude des LKA wurden in dieser Nacht zwei Brandsätze geworfen, die laut Polizeiangaben geringen Sachschaden anrichteten. Die Anschläge auf die Ein­satz­fahr­zeuge des Bundesgrenzschutzes schlugen fehl, da die unter den Fahrzeugen de­­ponierten Brandvor­richtungen nicht zündeten. Dadurch konnten diese von der Polizei sichergestellt und in den folgenden Prozessen als eines der Hauptbe­weismittel verwendet werden. Auf einem der Post­pa­kete, in denen die Brandsätzen depo­niert waren, wurde später bei der Unter­suchung, ne­ben denen von vielen anderen Personen, auch ein Fingerabdruck von Daniel ge­funden.

Da nach einem halben Jahr Unter­suchungs­haft für die beiden Inhaftierten sich jedoch abzeichnete, dass die An­schul­di­gungen der Generalbundesanwaltschaft vor Gericht aufgrund der dünnen Be­weis­lage nicht durchsetzbar sein werden und Daniel und Marco eine erneute Haft­prü­fung vor der nächst höheren Instanz be­antragt hatten, war die General­bun­des­an­waltschaft zum Handeln gezwungen. Um eine von ihr angestrebte Anklage nach §129a auf Bildung einer terroristischen Ver­einigung überhaupt vor Gericht zu bringen, musste diesem ein 3. Be­schul­dig­ter vorgeführt werden. So wurde am 16.4.2003 ein Magdeburger Linker – Carsten – verhaftet.

In der Anklageschrift gegen Carsten, Daniel und Marco, die im September 2003, fast ein Jahr nach den ersten beiden Festnahmen, erlassen wurde, erhob die Bundesanwaltschaft Anklage nach §129a wegen des Verdachts auf „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ in deren Namen Straftaten gegen den Staat und Konzerne begangen wurden. Dieser Vereinigung, zu der nach Behauptung der Staatsanwaltschaft die drei Beschuldigten gehört haben sollen, wurden noch zwei weitere Anschläge zur Last gelegt: Zum einen ein Brandanschlag im August 2001 auf zwei Neuwagen einer Magdeburger DaimlerChrysler-Niederlassung. bei dem ein Sachschaden von 150.000 Euro entstand, zum anderen ein Brandanschlag im Februar 2002 auf zwei Fahrzeuge der Deutschen Telekom. Der Sachschaden betrug hier 30.000 Euro.

Zu den verschiedenen Taten bekannten sich jeweils verschiedene Gruppierungen. Die Staatsanwaltschaft jedoch sah hinter allen eine einzelne „Terroristische Vereini­gung“, als deren Kopf sie Marco darstellte.

Die folgende erste Verhandlung…

in der alle drei inhaftierten Linken ge­meinsam der Bildung einer terroris­ti­schen Vereinigung angeklagt wurden, zog sich bis zur Urteilsverkündung am 16.12.2003 über 13 Prozesstage hin. Am 21.11.2003, dem vorletzten Verhand­lungs­­tag, hob der vorsitzende Richter die Haft­befehle gegen die drei Hauptan­ge­klag­ten auf. In der Begründung be­zeich­nete der Richter eine Verurteilung der drei An­geklagten nach § 129a als nicht wahr­schein­lich. Hintergrund hierfür war die Auf­lösungserklärung der Gruppe, deren Zugehörigkeit sie beschuldigt wur­den, mit welcher der dringende Tat­ver­dacht der Mitgliedschaft in einer terroris­ti­schen Ver­einigung und somit der bis­herige Haft­grund entfiel. Dennoch wurden sie mit dem Urteil vom 16.12.03 zu Frei­heits­strafen von 2 Jahren und 6 Mona­ten für Marco und zwei Jahren für Daniel verurteilt. Carsten wurde aufgrund der nicht ausreichenden Beweislage freige­sprochen.

Der Senat, vertreten durch Richter Hennig, führte aus, dass es sich zwar um Indizienbeweise gehandelt habe, die aber in seinen Augen ein Gesamtbild ergäben, welches ihm die politische und moralische Gesinnung der Angeklagten klar zeige und für ihn als Beweis der Mitgliedschaft in einer der sich zu den Anschlägen be­ken­nen­den Gruppe ausreiche. Die Ver­ur­tei­lung erfolge nicht auf Grund der tat­säch­lichen Tatbeteiligung, sondern ihrer geis­tigen, die sich aus der unterstellten Mit­gliedschaft ergäbe. Ihre Verurteilung er­folg­te somit indirekt auf der Grundlage des Paragraphen 129a.

Die Staatsanwaltschaft und die Ver­tei­di­gung gingen gegen dieses Urteil in Re­vi­sion. Für die Staatsanwaltschaft war diese Ent­scheidung des Gerichts ein versteckter Frei­spruch im Bezug auf den Vorwurf der Bildung einer Terrorzelle. Vorwürfe, die sie im Verlauf der Verhandlung durch er­presste Zeugenaussagen und sich ständig vor Gericht widersprechende Polizei­be­amte zu untermauern versucht hatte. Für die Verteidigung kam ein solches Ge­sin­nungs­urteil auf Basis von haltlosen und schwammigen Indizien selbstredend nicht in Frage.

In der Revision…

wurde dann das Verfahren in drei getrenn­te Verhandlungen geteilt, um so die Mög­lichkeit zu haben, die Angeklag­ten gegen­seitig als Zeugen zu laden. Dies war zuvor in einem gemeinsamen Prozess nicht mög­lich gewesen. Das erste Revi­sions­­ver­fahren ge­gen Daniel eröffnete im April die­sen Jah­­res. Im Verlauf der Ver­hand­lung wur­den Marco und der vorher frei­ge­sprochene Carsten am 2. Verhand­lungs­tag mit Beu­ge­haft belegt, da sie sich hin­sichtlich ihrer noch laufenden Verfah­ren, abgesehen da­von jedoch prinzipiell, wei­gerten gegen Daniel auszusagen. Ein ge­nerelles Aussage­ver­weigerungsrecht nach §52a (StGB), nach dem niemand gezwungen wer­den darf eine Aussage zu machen, die ihn selbst belasten könnte, wiesen die Rich­ter mit Verweis auf die getrennten Verfahren als nicht gegeben ab. Somit konnte den beiden auf Grund des selben Paragraphen eine Freiheits- und Geldstrafe auferlegt werden.

In dem Verfahren, das schon wieder in zweistellige Verhandlungsrunden geht, wurde von Seiten des Gerichts durch Verschleppung der Verhandlung der gesetz­liche Rahmen von 6 Monaten Beugehaft voll ausgeschöpft. Es wurden z.B. mehrere Verhandlungstage nach weni­ger als 10 Minuten beendet und eine ein­mona­tige Sommerpause eingelegt, um so eine Aussage von Marco und Carsten zu erzwingen. Dieses Verfahren läuft noch immer, das heißt noch immer sind Marco und Carsten im Gefängnis, da sie die täg­liche Frage nach ihrer Aussage­be­reit­schaft im Prozess gegen Daniel verneinen.

Schon zu Beginn der Ermittlungen…

und des sich anschließenden Ver­fahrens wurde offensichtlich, dass es sich hier um eine Profilierungsmaßnahme der Sachsen-Anhaltinischen Ermittlungs- und Recht­sprechungsbehörden handelt. Hier wur­den die nach den Anschlägen im Septem­ber 2001 auch in Deutschland ver­schärften Ge­se­­tze zur inne­ren Sicherheit da­zu be­nutzt, linke Struktu­ren zu ob­ser­vieren und zu krimina­lisieren. Im Rahmen eines 129a-Ver­fah­rens sind der Staats­­anwalts­chaft Möglich­keiten gegeben, Er­­­mittlungs­methoden anzu­wen­den, die bei anderen juris­tischen Tatbe­stän­den kei­ner gesetz­lichen Grund­lage ent­sprechen. So wurden z.B. die Freundinnen der An­ge­klagten nicht als Fami­lien­mitglieder akzeptiert, da­mit man ihnen kein Aussage­ver­weige­rungs­recht zugestehen musste. Zu­sätzlich wur­de ihnen im Vorfeld der Ver­neh­mung eine Gefängnisstrafe an­ge­droht, sollten sie sich dennoch weigern aus­zusagen. Haus­durch­­suchun­gen, Tele­fon­überwachungen und Per­so­nen­ob­ser­vierungen führ­ten desweiteren zu einer massiven Anklage- und Vor­ladungswelle in den Kreisen der Mag­de­burger Linken. Wei­ter­­hin bestand die Stra­tegie der An­klage darin, sämt­liche Ver­wandte und Freun­de vorzuladen um Prozess­­tage zu füllen, und somit dem Ge­richt eine Zeit­auf­schiebung als prozess­­aus­füh­rendes Or­gan zu ver­schaf­fen. Den ent­scheiden­den Be­weis konnten diese Zeu­gen nicht lie­fern. Alles was sie zu Pro­tokoll gaben, waren Aussage­ver­wei­­ge­rungen und Alibi­be­stätigungen, die schon im Prozess zuvor nicht anerkannt wur­den. Die Androhung der Aussageer­zwingungs­haft für die ge­ladenen Zeugen und die Anwen­dung auf Daniel, Marco und Carsten sind fragwürdige rechts­staatliche Mittel, die jedoch in Ver­fah­ren gegen Grup­pierungen, vornehm­lich aus der linken Szene, sehr oft ange­wen­det werden.

Es ging in diesem Verfahren nie um die Wahr­heitsfindung bezogen auf die Brand­an­schläge, sondern um die Auf­recht­er­hal­tung eines durch die Staatsanwaltschaft er­richteten Konstrukts einer terroris­tischen linken Gruppe. Die Methoden, solche Kon­strukte zu fingieren und auf­recht zu erhalten, liegen in den Händen derer, die in ihren jeweiligen Schlüssel­po­si­tionen ihre Definitionsmacht anwenden und aus­führen.

Der Aufwand, der bei den Ermittlungen und den Gerichtsverfahren betrieben wur­de, muss sich im Sinne der Anklage na­türlich rechnen und es darf nicht passieren, dass solche Ver­fahren mit Frei­sprüchen enden.

etap

Unterstützung, aktuelle Infos, Quellen unter: www.soligruppe.de

Der Paragraph 129

Der §129 ist seit seiner Einführung 1822 ein politisches Instrument. Der §129 StGB ist über 180 Jahre alt und hat seine späten Wurzeln im Kaiserreich: 1878 wurde er bekannt als das so genannte „Sozialistengesetz“, das Bismarck zur Bekämpfung der Sozialdemokratie einführte. In der Weimarer Republik wurde die staatliche Verfassung als Schutzgut in den Paragraphen mit aufgenommen und in der BRD der 50er und 60er Jahre spielte der §129 jetzt erstmals unter der Gesetzesüberschrift „kriminelle Vereinigung“ eine wichtige Rolle im Rahmen der Kommunistenverfolgung, besonders nach dem KPD-Verbot 1956. Zur Bekämpfung der RAF wurde eigens der §129a geschaffen, bis heute die wichtigste Norm im politischen Strafrecht, der eigentlich nach den RAF-Prozessen wieder abgeschafft werden sollte. Der §129a setzt Mitgliedschaft, Unterstützung und Werben für eine „terroristische Vereinigung“ unter Strafe. 2001 wurde der §129b eingeführt und kriminalisiert ausländische „terroristische Vereinigungen“. Die Abgrenzung zu Befreiungsbewegungen obliegt der Staatsmacht und wird nach politischen Eigeninteressen vorgenommen.

Der §129-129a-129b ist ein Sonderrechtssystem

Mit dem §129 wird nicht eine Person für eine nachgewiesen begangene Straftat kriminalisiert. Um nach §129 belangt zu werden, muss gar keine Straftat begangen worden sein. Allein die Mitgliedschaft in einer zu kriminalisierenden Vereinigung reicht für eine hohe Haftstrafe aus. Als Mitgliedschaft wird bereits gewertet, wer Kontakt zu anderen „Mitgliedern“ hat. Eine Vereinigung muss aus mindestens drei Mitgliedern bestehen. Nach der Strafprozess­ordnung besteht bei Ermittlungen nach §129 die Möglichkeit zu großflächiger Telefonüberwachung, zu Großrazzien in Wohnblocks, zur Errichtung von Kontrollstellen im Straßenverkehr und auf öffentlichen Plätzen mit der Möglichkeit zur Identitätsfeststellung und Durchsuchung auch bei Unverdächtigten sowie zur Anordnung der sog. Schleppnetzfahn­dung mit der Möglichkeit zur Massenspeicherung von Daten und zur Rasterfahndung. Bei Vorliegen eines dringenden Tatverdachts wegen §129a darf die Untersuchungshaft verhängt werden, auch wenn ein Haftgrund wie Fluchtgefahr gar nicht vorliegt.

Bericht zum CzechTek-Festival

„Aus einem unfernen vom ´Bürgerkrieg´ geschüttelten Land“

In der Tschechischen Republik existieren mehre Gruppen, die kostenlose Techno­partys im Freien oder in verlassenen Fabriken organisieren und oft über ein eigenes Soundsystem verfügen. Seit 1992 schließen sich diese Gruppen einmal im Jahr zusammen, um das „Czechtek“ zu organisieren. Dafür wird ein geeignetes Terrain irgendwo in Tschechien ausge­wählt und für die Zeit des Festivals, normalerweise drei Tage, besetzt. Die genaue Lage des Geländes wird erst dann über Internet bekannt gegeben, wenn die Soundsysteme vor Ort und installiert sind. Auf diese Weise hat man in den letzten Jahren versucht, der Be- oder gar Verhin­derung des Czechteks durch die Polizei ent­gegenzuwirken. Da das Czechtek im letzten Jahr von sechs Hundertschaften der Polizei mit Tränengas angegriffen worden ist, wurde in diesem Jahr erstmals, ein Gelände von den Organisatoren offiziell angepachtet. Die Polizei ließ daraufhin verlauten, dass sie daher keinerlei Veran­lassung sehe, in irgendeiner Weise gegen das Festival vorzugehen.

Es war unter anderen auch dieser Fakt, der mich dazu bewegte, zur größten all­jährlichen Freetechnoparty Tschechiens zu fahren. Hier nun eine knappe Schilderung meiner Erlebnisse.

Am Samstag, den 30. Juli, traf ich gegen Mittag am Festivalgelände ein. Ich betrat das Feld von seiner östlichen Zufahrt und hatte sofort einen guten Überblick. Obwohl die Polizei die Zufahrt mit einem großen Generator blockierte, waren bereits mehrere hundert Fahrzeuge und Zelte auf dem Gelände und die Party war, obwohl sich noch vieles im Aufbau befand und immer noch viele Leute ankamen, schon in vollem Gange. In der Mitte des Geländes befanden sich die zwei großen Hauptsoundsystems. Im östlichen Winkel befand sich das Erste-Hilfe-Lager, daneben reihten sich unterhalb der Autobahn etwa vierzig Fahrzeuge der Polizei auf, darunter zwei Wasserwerfer aus Vorwendezeiten, deren Technik aber sicher modernisiert worden ist. Es war sonnig und die Stimmung war ruhig und aus­gelassen. Nur ein Polizeihubschrauber verbreitete von Zeit zu Zeit bedrohlichen Lärm, außerdem trafen immer mehr Po­li­zei­fahrzeuge ein, die die Reihe der un­terhalb der Autobahn stetig anwachsen ließen. Unten an den Sound­sys­te­­men tanzten etwa 300 Men­schen, über­all gab es kleine Stände an de­nen man sich auf­hal­ten, essen und Bier trin­ken kon­nte. Durch ein klei­nes Wald­­­stück wur­­­de ein Schleich­­weg an­gelegt, über den immer mehr Fahr­­­zeu­ge, sogar ein gros­ser Bus, auf das Ge­lände gelangten. Nach den Num­mernschildern zu urtei­len, ka­men die meis­ten aus­län­di­schen Wagen aus Groß­britan­nien, Ita­lien und Frank­reich, aber auch aus Ös­terreich, Po­len und der Slowakei.

Et­wa um drei setzte ich mich vom Festivalgelände ab. Im nächstgelegenen Dorf hatten ebenfalls viele Czechtekker ihr Lager aufgeschlagen, aber auch die Polizei war vor Ort. Ich fragte mich durch, ob im nahegelegen Wald irgendwo Leute cam­pierten. Doch in der mir beschriebenen Richtung suchte ich an die zwei Stunden vergeblich und es begann zu regnen. Als ich um halb sechs ins Dorf zurückkehrte, fiel mir sofort die dort herrschende Stille auf. Die Polizei war verschwunden und es waren an sich kaum Menschen zu sehen. Ich sprach zwei Leute an einem Bus mit Dresdener Kennzeichen an. Ich wurde gefragt, ob ich „das“ eben mitbekommen hätte. Ich verneinte verwundert und fragte, was gemeint wäre. Der Mann zeigte mir Bilder auf dem Display seiner Digi­cam, die von der Erhöhung im östlichen Winkel des Festivalgeländes auf­ge­nom­men worden waren. Sie zeigten eine Kette von Polizisten, die sich vom nördlichen zum südlichen Rand des Geländes er­streckte, dahinter sah man die Masse der Festivalteilnehmer und spritzende Wasser­werfer. Das ganze Szenario war eingehüllt von dicken Tränengaswolken. Später hörte ich, dass an dieser Auseinan­dersetzung etwa ein­tau­send Polizisten und fünf­tausend Festivalbesucher be­teiligt waren. Das für mich beein­druckendste Bild zeigte einen Tieflader, der auf der gesperrten Autobahn stand. Er hatte einen kleinen ­oliv­grünen Ketten­panzer mit drehbarem Turm und einem doppel­läufigen Geschütz geladen.

Ich machte mich bald daran wieder auf das Festivalgelände zu gelangen und lief zurück. Mir kamen Leute entgegen, die sagten, dass man das Gelände nur noch verlassen könne und es in einer Richtung abgesperrt worden sei. So schlug ich mich, bei mittlerweile starkem Regen durch das Unterholz. Ich gelangte völlig durchnässt an zwei Bussen mit spanischem Kenn­zeichen an, wo ich meinen Rucksack abstellte und sofort wieder von Osten her auf das Gelände lief. Deutlich weniger Menschen, Zelte und Fahrzeuge befanden sich nun auf dem Terrain. Jedoch standen noch ein großes Soundsystem und nicht weit davon ein Wasserwerfer, etwa drei kleinere Polizeibusse und circa 80 Poli­zisten herum. Der Panzer war nicht mehr zu sehen. Ich lief quer über das Gelände. Eine Doppelreihe von Polizisten sperrte den westlichen Winkel des Geländes ab. Man konnte die Polizisten jedoch durch den Wald umgehen, kurz darauf zogen sie ohnehin ab.

Ich gelangte also in den Westwinkel des Geländes, über den unzählige Fahrzeuge ver­suchten das Areal zu verlassen. Auf der Autobahnauffahrt herrschte ein heilloses Durcheinander. Überall standen Fahr­zeuge herum, auf der Nationalstraße stan­den circa vier große Polizeibusse, vor der die Polizisten in großen Gruppen standen. Unter die Autobahnbrücke, die über die Na­tionalstraße führte, hatten sich etwa vier- bis fünfhundert Menschen vor dem Regen zurückgezogen. Die Straße war von Glasscherben übersät.

Ich lief zurück auf das Festivalgelände. Öfter traf ich Leute mit verbundenen oder noch unbehandelten Verletzungen am Kopf oder anderen Gliedmaßen. Auf dem Gelände selbst lagen oft Reste von Zelten oder anderen persönlichen Dingen herum. Die mehreren hundert Menschen, die zu­rück­gekehrt waren, entfachten Feuer, um sich zu wärmen und ihre Sachen zu trok­ken. Es brach Gejubel aus, als das Sound­system wieder zu spielen begann. Nach­dem ich noch ein wenig über das Gelände gelaufen war, beschloss ich, meinen Ruck­sack zu holen und dann zu versuchen das CzechTek zu verlassen. Genau in diesem Moment, um etwa acht Uhr, begann sich im Ostwinkel des Geländes die Polizei neu zu formieren und erneut bildete sich eine Ket­te von Poli­zi­sten über die gesamte Breite des Geländes. Über das Soundsys­tem wurden alle ver­bliebenen Leute dazu auf­ge­fordert, zum Soundsystem zu kom­men, um es zu schützen. Ich entschloss mich aber davon abzusehen, da sich die Situation immer mehr zuspitzte. Mir ist es dann gelungen auf die immer noch ge­sperrte Autobahn zu gelangen. Von dort aus war das ganze Geschehen gut zu sehen. Die Reihe von Polizisten rückte langsam vor­an, machte an jedem verbliebenen Zelt an, wartete bis dieses abgebrochen war und rückte dann weiter vor. Be­son­ders auffällig fand ich dabei das Verhalten der Polizisten. Sie pfiffen, lärmten und grölten in einer Wei­se herum, dass sie mich an eine Gruppe betrunkener Männer an Himmel­fahrt erinnerten. Als sich die Polizeikette nur noch etwa zweihundert Meter entfernt vom Soundsystem befand, wurde dort unbeeindruckt mit einer Feuershow be­gon­nen, die von den Men­schen laut­stark bejubelt wurde.

Ich beschloss meinen Rucksack zu holen und mich auf den Weg zu machen. Ich lief die Autobahn entlang, kletterte die Bö­schung hinauf und gelangte somit wieder auf die Anhöhe im östlichen Winkel des Geländes. Dort hatten sich etwa 80 Leute versammelt und wurden von einer kleine­ren Polizeikette abge­halten, in den Rücken der Polizeiaktion zu gelangen. Es war deut­lich zu sehen, dass eine weitere Konfronta­tion kurz bevor stand. Das war das letzte, was ich von CzechTek sah, denn kurz darauf wurden wir von den Polizisten ab­ge­­drängt.

Ich holte meinen Ruck­­sack und stellte mich zum Trampen an die Straße. Ich hör­te, wie die tschechische Polizei zu einer ihrer bewährten Auf­­standsbekämpfungs­waf­fen griff. Diese Waffe wür­­de ich „Streu­blend­gra­­nate“ nennen. Es han­delt sich dabei um eine Kartusche, die ab­ge­­­schos­sen oder ge­wor­fen wird, kurz danach ex­­plo­diert und circa vierzig stift­­große Spreng­­körper frei­setzt, die eine hohe Spreng­kraft besitzen und mit großer Lautstärke deto­nieren. Anfangs hör­te ich nur ab und zu eine dieser Gra­naten ex­plo­die­ren, die Abstände zwi­schen den Detonationen wurden allerdings immer kürzer. Nach etwa einer Stunde hielt endlich ein Pärchen, das nach Prag fuhr. Zu diesem Zeit­punkt deto­nierten die „Streu­blend­gra­na­ten“ schon ohne Unter­brechung. Wir fuhren auf einer Landstraße nördlich am Ge­lände vorbei. Es war schon lange dun­kel, ich konnte nur die Schein­werfer des Wasserwerfers und die circa vierzig Meter vor ihm ex­plodierenden Granaten sehen.

Wir fuhren auf die Autobahn und langsam entwickelte sich ein Gespräch zwischen dem Pärchen, einem zweiten Tramper und mir. Ich fragte, ob sie den Panzer gesehen hätten, worauf mir die Frau ein Foto auf dem Display ihres Handys zeigte, auf dem der Panzer zu sehen war. Später zeigte sie mir noch einen kurzen Clip von einer Verhaftung. „Seht mal! Ich hab ´nen Souvenir.“ sagte sie plötzlich. Aus ihrem Handschubfach holte sie etwas, was sie auf dem Feld gefunden hatte. Es war ein volles Pistolenmagazin mit fünfzehn Patronen.

In Prag fanden am 31. Juli, sowie am 1.und 3. August Demonstrationen gegen die „Kriminalisierung des Czechtek“ statt. An der ersten Demonstration am Sonntag nahmen zirka 3000, an der zweiten am Montag etwa 4000 Menschen teil, beide begannen vor dem tschechischen Innen­ministerium. Vor allem am Sonntag fiel mir auf, dass das Teilnehmerspektrum deutlich über die Freetechnoszene hinaus­ging. Viele Menschen hatten Trillerpfeifen, Trommeln und oft sehr kreativ ge­stal­tete Transparente dabei. Immer wieder kamen laute kraftvolle Sprechchöre wie „Ge­stapo!“, „Po­li­zei­staat!“und „Rück­tritt!“ auf. Von der stark befahrenen Straße wurde durch langes, lautes Hupen immer wieder Solidarität bekundet. Erst als eine Schwei­ge­minute abgehalten wurde, erfuhr ich, dass die Räumung des Festivals einen Menschen das Leben gekostet hatte. Später zog die Demonstration weiter vor das Re­gie­rungsamt. Bei der ersten Demons­tration hielten viele Menschen große Ausdrucke von Digitalfotos im DIN-A0-Format in die Höhe, die Opfer der Räumung des Festivals und deren Ver­letzungen in Nahaufnahme zeigten. Später fuhren noch ein Last-, ein Lieferwagen sowie eine Schubkarre direkt vor das Ministerium. Jedes dieser Vehikel hatte ein Soundsystem geladen – die Demons­tra­tion wurde zu einer kleinen Fortsetzung des geräumten Czechteks. Am frühen Abend fuhren zumindest das Lastwagen- und Schub­karrensoundsystem in den an­grenzenden Letnapark, in dem noch bis spät in die Nacht getanzt wurde.

Am 3. August wurde im Letnapark ein immenser Monitor aufgebaut, wie er sonst bei öffentlichen internationalen Sport­über­tragungen verwendet wird. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde damit begonnen, Videomitschnitte der Polizei­aktion am 30. Juli zu zeigen. Etwa 2000 Men­schen hatten sich davor versammelt. Was sie nun zu sehen bekamen, waren wohl die brutalsten Übergriffe der tschech­ischen Polizei seit der Gründung der Tschechischen Republik. Der Polizei­hub­schrauber, die Wasserwerfer in Aktion und Poli­zis­ten, die am Boden liegende Men­schen mit Knüppeln zu­sammen­schlu­gen. Man sah Menschen mit schwe­ren Kopfver­letzungen im dicken Tränen­gas­nebel, ge­waltsame Verhaftungen und den Panzer auf dem Tieflader. Ein kurzer Clip, wahrscheinlich mit einem Handy un­­be­merkt mitgeschnitten, wurde abge­spielt. Er zeigt drei Polizisten, die ver­suchten die Gegenwehr eines Verhafteten zu brechen, indem er von allen dreien mit ge­zogener Pistole bedroht wird. Außer­dem zeigte ein Bild die Beine des Todes­opfers, die hinter einem kleineren Polizei­bus hervorragen, wahrscheinlich nachdem es überrollt worden war.

Was bleibt? Da mir vorher nicht klar war, was mich auf dem CzechTek erwarten würde, konnte ich auch nicht davon ausgehen, dass es auf jeden Fall gewaltfrei und gefahrlos ablaufen würde. Dafür wusste ich einfach zu wenig über das Publikum und die Atmosphäre, die das CzechTek ausmachen.

Was ich jedoch vorfand, waren Menschen, die in erster Linie feiern wollten, die sich zumindest für kurze Zeit aus dem Arbeits­alltag ausklinken wollten, die Musik und Natur suchen und die sich ihren Lebensstil nicht vorschreiben lassen. Ich selbst habe keine Aggression oder auch nur Provo­ka­tion seitens der Festivalteilnehmer erlebt, die Grausamkeiten, wie sie bei der Räumung des CzechTeks begangen wurden, in irgendeiner Weise recht­fertigen würde. In der späteren Diskussion um die Notwendigkeit der Räumung wur­de als erstes immer mit dem übermäßigen Konsum illegaler Drogen argumentiert. Der Konsum illegaler Drogen jedoch ist eine Erscheinung, die sich durch alle Bevölkerungsschichten zieht. Es ist natürlich wunderbar einfach, ein bereits stigmatisiertes Milieu allein für die Notwendigkeit einer staatlichen Drogen­kon­trolle verantwortlich zu machen. Das ist dann umso leichter, wenn man die Menschen, die dieses Milieu ausmachen, von vornherein als eingeschränkt zu­rechnungsfähig darstellt.

Ich selbst habe schon oft an politischen Aktionen teilgenommen, die sich zu­min­dest indirekt gegen Kapitalismus oder den jeweiligen Staat gerichtet haben. Dass ein Staat auf eine kritische Aktion in irgend­einer Weise, im Extremfall mit Gewalt, antwortet, ist für mich eine logische Reaktion, die mich nicht überrascht. Wenn aber damit begonnen wird unsere Partys zu überfallen, uns schwer zu verletzen und uns mit schwerem Kriegs­gerät zu bedrohen, weil wir in Ruhe unter uns feiern und tanzen wollen, dann kriminalisiert man unseren gesamten Lebensstil und uns als Individuen. Allerspätestens hier wird mir deutlich, dass offensichtlich darauf abgezielt wird, uns hundertprozentig verwertbar und hörig zu machen und man bereit ist, uns direkt kör­perlich zu bedrohen, wenn wir versuchen ein Leben jenseits dieser Verwertbarkeit und Hörigkeit zu führen. Ich habe die darauf folgende politische Entwicklung in der Tschechischen Republik nicht weiter verfolgt. Aber egal wie die Räumung des CzechTeks in der Öffentlichkeit reflektiert worden ist, eines hat sie klar gezeigt:

Menschen, die nicht in die modernen Musterparagraphen europäischer Gesetz­bücher passen, werden passend gemacht oder überrollt. Umso mehr müssen Menschen, die ein Leben jenseits dessen suchen und erträumen, kommunizieren und Alternativen wagen!!!

lila

ASBO. Die Gesellschaft existiert

Im Folgenden drucken wir vorab einen Aufsatz aus dem von der Leipziger Kamera herausgegebenen Buch „Kontrollverluste. Interventionen gegen Überwachung“, das Anfang März im Unrast-Verlag erscheint. Wer nach der Lektüre Lust auf mehr verspürt, sollte unbedingt Ausschau halten.

Wir werden im Folgenden Kontrollstrategien des öffentlichen Raums am Bei­spiel Großbritanniens vorstellen und die­se Maßnahmen im Zusammenhang mit der sozialstaatlichen Regulierung von Kindheit und Jugend kritisch analysieren. Im Zent­rum stehen dabei das Instrument des Anti-Social-Behaviour-Order (ASBO) und begleitende Techniken der Überwachung, wel­che zusammen mit einschlägigen Pro­gram­men aus dem Umfeld von New Labour ein deutliches Beispiel für den gegenwärtigen Umgang mit Phänomenen von Devianz und sozialer Abkopplung darstellen. Sie arbeiten im Kern mit zwei Strategien: einer­seits mit der Anrufung selbstverantwort­li­cher, für ihr eigenes Glück verantwortlicher Subjekte; anderer­seits mit Strafmaßnahmen für diejenigen, welche nicht gewillt oder nicht mehr fähig sind, ihre Eigenverant­wort­lichkeit im Sinne mehrheitlicher Normen oder gesellschaftlicher Produktivität zu nutzen.

„Everyone can change – if people who need help will not take it, we will make them“

Die Realität sozialen Ausschlusses kehrt in der Angst vor dem Ausgeschlossenen wie­der, das als Folge eben solcher Abkopplung ein bedrohliches Eigenleben zu führen scheint. Kinder und vor allem Jugendliche, die in ihrem prekären Status als Noch-nicht-Erwachsene ohnehin ein höheres Maß an so­zialer Ortlosigkeit mit sich bringen, gera­ten dabei, medial unterstützt, zu einer sowohl gefährdeten als auch gefährdenden Grup­pe, welche die volle staatliche Auf­merk­samkeit verdient. Aufschlussreich ist die doppelte Gefahrenperspektive, welche das Thema nicht nur in Großbritannien durchzieht. Auf der einen Seite existiert eine verbreitete Angstphantasie bezüglich ge­fähr­deter Kindheit, vor allem im Hinblick auf extreme Vernachlässigung und sexuellen Missbrauch. Darin verdichtet sich das Bild des Kindes als ein noch unmündiges und ausgeliefertes Subjekt, das um seines ei­genen Wohles willen Führung, Kontrolle und Hilfe benötigt. Die gegenläufige Pers­pek­tive stellt Kinder und Jugendliche als Agen­ten einer Gefährdung vor: Durch Ver­nach­lässigung und Nicht-Integration werden sie zu anomischen und riskanten Sub­jek­ten, in ihrer Unmündigkeit sich selbst aus­geliefert, medial mitunter als kids from hell apostrophiert. Der Mord von zwei 11-Jäh­rigen an dem zweijährigen Kleinkind James Bulgar 1993 nahe Liverpool integriert bei­de Phänomene und galt der späteren Labour­regierung als stete Referenz in der Recht­fertigung ihrer Politik gegen ›anti­soziales Verhalten‹ .

Beide Aspekte verweisen auf das Problem der Führung: Die wahrgenommenen Mängel der Selbstführung – sie ›führen sich auf‹ – markieren die Notwendigkeit der Außen­füh­rung. Das Problem der Führung und da­mit der Machtbeziehungen setzt stets ›freie Subjekte‹ voraus, die einem Feld mehrerer mög­licher Antwort- oder Handlungsmög­lich­keiten gegenüber stehen. Genau diese Dimension steht im Zentrum vieler staatlicher Anrufungen, welche sich um das Thema bemühen: »Everyone can change«, lautet ihre kürzeste Zusammenfassung, das Ziel in ebensolcher Prägnanz, aus dem Grund­satz­papier »Every Child Matters: maximise their potential«.

Die Auseinandersetzung mit sozialem Ausschluss und daraus resultierender Armut zielt darauf, die Betroffenen als freie Subjekte zu markieren, denen es immer offen stehe, sich und ihr Dasein zu ändern. Weil diese Zuschreibung jedoch die Verantwortlichkeit nur an die Betroffenen adressiert, werden die­se zusätzlich mit Angeboten bedacht, wel­che eine grundsätzliche Hilfsbereitschaft der Gemeinschaft suggerieren. Solche Maßnahmen werden jedoch sowohl von überwa­chender Kontrolle ihrer Wahrnehmung als auch von entsprechenden Sanktionen bei ih­rer Ablehnung abgesichert. So finden etwa El­ternschulungsprogramme in so genannten Children Centers statt, welche im Rahmen des Sure-Start-Programms in depri­vierten Stadtvierteln eingerichtet wurden. In diesen Centern werden Sozial- und Ar­beits­vermittlungsangebote konzentriert, zu deren Inanspruchnahme die ›Kunden‹ jedoch individualisierte ›Kooperationsverträge‹ ab­schließen, welche die Grundlage für eine fort­­dauernde Beobachtung und Kontrolle der Anstrengung der hilfsbedürftigen Ver­trags­­partner_innen bilden. Mangelndes Engagement bzw. Nichteinhaltung der Verträge kann dabei zum Entzug von Sozialleistun­gen führen. Das bedeutet, dass gerade dieje­ni­gen, denen gesellschaftliche Teilhabe und entsprechender eigenverantwortlicher Umgang damit fehlt, zu Objekten einer forcierten staatlichen Kontrolle werden, die Un­mü­ndigkeit systematisch fortschreibt.

„No more excuses“

Diese Problematisierung von Kindern und Ju­gendlichen im oben beschriebenen Span­nungsverhältnis rückte ins Zentrum der Po­li­tik von New Labour. Dass in den neunziger Jahren ein Rückgang der Kriminalität in bei­nahe allen Bereichen festzustellen war, hatte kaum einen Einfluss auf die konstant hohe ›gefühlte Unsicher­heit‹ der Mehrheit der britischen Bevölkerung. Im Vorwort des britischen Weißbuches zur Jugendkriminalität »No more excuses« von 1997 kündigte der da­malige Innenminister Jack Straw eine Kehrt­wendung zur Bekämpfung von Ju­gend­­kriminalität an: In der Jugendjustiz hätt esich »eine Kultur der Ausreden« etabliert, in der Vergehen von Kindern und Jugendlichen durch die »sozialen Umstände« entschuldigt würden. Der Begriff ›antisoziales Ver­halten‹, der zum Schlagwort Blairscher Law-and-Order-Politik werden sollte, erscheint erstmalig im darauffolgenden Jahr im Crime and Disorder Act, definiert als: »Behaviour, which causes or is likely to cause harassment, alarm or distress«. Auf Grund der Dehnbarkeit dieser Minimaldefinition war das Home Office gezwungen, konkrete Ak­tio­nen zu benennen, welche als antisozial gel­­ten: Lärm, Beleidigungen, Graffitis, Trun­­kenheit in der Öffentlichkeit, Belästigungen durch Haustiere sowie Vandalismus gehören dazu. Kleinere Nachbarschafts­strei­tig­keiten, einmalige Fälle von Intoleranz und ›Anderssein‹ allein würden dagegen nicht ausreichen. New Labours bewusster Perspek­tivwechsel hin zu den Betroffenen, zu den Op­fern von ›petty crime‹, zur lokalen Zelle der Gemeinschaft gründet auf der phi­lo­so­phischen Tradition des Kommuni­ta­ris­mus. Ge­gen neoliberale Positionen wie die von Margaret Thatcher (»There is no such a thing as society, there are individual men and women, and there are families.«) und gegen wohl­fahrtsstaatliche ›Rundumversorgung‹ wird der berühmte ›Dritte Weg‹ proklamiert, der die lokale Gemeinschaft als zentralen Akteur in den Mittelpunkt rückt. Ein Weg, der so­ziale Verantwortung über individuelle Rech­­te stellt. Paradigmatisch ist Tony Blairs Deutung: »A decent society is not based on rights; it is based on duty … Our duty to one another … To all should be given opportunity; from all, responsibility de­manded.« Dieser Rück­griff auf ethische und moralische Grund­­­sätze etabliert einen neuen Nachbar­schaftsraum, in dem Höflichkeit, Respekt und Anstand verordnet und reguliert werden.

Der ASBO – „Anti-Social Behaviour Order“

Als Gesicht dieser Techniken wurde 1999 der Anti-Social Behaviour Order (ASBO) eingeführt. Das durch ihn verfolgte ›antisoziale Verhalten‹ liegt seither in einem problematischen Spannungsfeld zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat. ASBOs können generell für »criminal and sub-criminal activity« (Burney 2002, 474) verhängt werden. Das heißt, den Gegenstand eines ASBO können auch durchaus Verhaltensweisen bilden, die keineswegs Straftatsbestände sind: letztend­lich alles, was als ›unangemessen‹ empfunden wird oder gegen einen vagen moralischen Konsens bzw. den häufig bemühten Maß­stab des common sense verstößt. Die juristische Tücke liegt darin, dass der ASBO so­mit eine Brücke darstellt, welche abweichende, ›sub-kriminelle‹ Verhaltensweisen in­direkt in vollgültige Straftatsbestände um­wandelt. Den Beschuldigten wird zunächst auferlegt, das im ASBO benannte antisoziale Verhalten einzustellen. ASBOs enthalten konkrete Verbote und sind oft mit Platzverweisen (Minimum: zwei Jahre) verbunden. Jeder Verstoß gegen die Auflagen eines ASBO ist jedoch eine volle Straftat. ASBOs werden von der Polizei oder den kommuna­len Verwaltungen beantragt und vom Gericht ausgestellt, doch entspricht die not­wen­dige Beweisdichte für die Verfügung eines ASBO nicht der eines üblichen Strafver­fahrens. Beschwerden können anonym über Hot­lines eingereicht werden. Oft werden Fo­tos der Beschuldigten (mit Namen und Adresse) sowie den Auflagen in Schaukästen, auf Plakaten an Bussen oder im Internet veröffentlicht. Die Praxis des Anprangerns ist vom britischen Home Office gewollt; zum einen soll die eigene Aktivität unter Beweis gestellt werden, zum anderen die Öffentlichkeit dazu angehalten werden, bei der Kon­trol­le über die Einhaltung des ASBOs mitzu­helfen. Die Durchsetzung des ASBO zeigt auch dessen wirkmächtige sozioökono­mische Dimension. Seine primäre Zielgruppe sind sozial Benachteiligte sowie Kinder und Jugendliche. So lebten etwa 85 Prozent de­rer, gegen die 2004/2005 in Schottland ein ASBO verhängt wurde, in Sozial­wohnun­gen. Antisoziales Verhalten wird von der großen Mehrheit vor allem mit ›herumlungernden Jugendlichen‹ assoziiert. Das Home Office riet den Behörden zwar davon ab, ASBOs an Jugendliche unter 18 Jahren zu verhängen, doch dies lief der öffentlichen Stimmung in den Kommunen zuwider. Mitt­lerweile geht jeder zweite ASBO an Kin­der und Jugendliche zwischen 10 und 17 Jahren und knapp drei Viertel der Verweise an unter 21-Jährige. Der ASBO ist auch deshalb so populär, weil er erlaubt, gegen vieler­lei Arten von subjektiv empfundenen Belä­stigungen vorzugehen. Er wird auch dazu be­nutzt, um öffentliche Räume von Bettlern, Alkoholiker_innen, Prostituierten und nichtkonformen Subkulturen ›zu säubern‹. Aufgrund der willkürlichen Definition antisozialen Verhaltens kommt es zwangsläufig nicht nur zu missbräuchlichen, sondern auch zu absurden Fällen. So wurde einer selbst­mordgefährdeten Frau verboten, sich in die Nähe von Brücken, Flüssen und mehr­stöckigen Parkhäusern zu begeben. Es wurde Leuten untersagt, sich nur in Unterhose be­kleidet im eigenen Garten zu sonnen. Kinder durften auf der Straße nicht mehr singen oder das Wort Gras öffentlich aussprechen. Die verkündete Absicht, dem ›antisozialen Verhalten‹ an den Wurzeln zu begegnen, führt damit zu einem Blick auf Kinder und Jugendliche, der jegliche Anzeichen von Devianz als Symptome eines künftigen Übels zu lesen gezwungen ist. Weil sie im Wer­den begriffen sind, stellen Kinder und Ju­gendliche das genuine Objekt präventiver Taktiken dar, die ihre Legitimität aus den Risiken einer befürchteten Zukunft schöpfen, die noch nicht eingetroffen ist. Um solche Zukunft aus dem Kaffeesatz der Gegen­wart zu lesen und gegebenenfalls abzuwenden, braucht es offenbar die flächen­decken­de Überwachung des Jetzt. Die Angst vor der Jugend oder auch die Sorge um sie ist da­mit an eine Angst vor Zukünftigem ge­kop­pelt – und Angst ist das eigentliche Ziel und Medium im Kampf um das ›soziale Verhalten‹. Und weil aus den kleinen Abweichungen die großen Gefahren werden können, wird der Schluss gezogen, dass letztlich keine geringfügigen Vergehen existieren.

Rebelland

Durch die mediale Repräsentation des ASBO als ultimative Lösung des Problems ›nichtnormalen‹ Verhaltens eröffneten sich gleichzeitig Räume für Kritik und mannig­fal­tige kulturelle Aneignungen. Zum einen wird der ASBO inzwischen von vielen Jugendlichen als Ehrentitel verstanden. Das Sam­meln von ASBOs erhöht das eigene soziale Kapital – die ›street credibility in the (neighbour)hood‹. Gleichzeitig wurden Ini­tia­tiven für bzw. wider den ASBO gegründet. So verleihen die britischen Aktivisten von Schnews auf ihrer Webseite einen crap asbo of the month. Kein Geschenkeladen in Großbritannien ohne käuflich zu erwerbende ASBOs fürs schlechte Tanzen oder die schlechteste Frisur. Die Debatte um sozial akzeptierte Verhaltensweisen, das damit einhergehende ›Policing‹ von Subkulturen und vor allem die Fokussierung auf das Einhegen von Symptomen ohne eine tiefergehen­de Ursachenanalyse wurde zum Anlass für viel­fältige künstlerische Interventionen wie Mu­siktitel oder sogar Theaterstücke. So gibt es einerseits Projekte, die darauf abzielen, den ›ASBO kids‹ eine Stimme zu geben und sie jenseits ihrer üblichen Identifikation so­wohl in ihrer Bedingtheit als auch in ihrer In­dividualität und Widerständigkeit sichtbar zu machen. Die in Schottland lebende Künstlerin Maayke Schurer begab sich mit ih­rer Kamera in Glasgows Außenbezirke auf die Suche nach den primären ›Zielgruppen‹ für Anti-Social Behaviour Orders und versuchte einen Blick zu eröffnen, der weder die tradierte Perspektive des Voyeurismus teilt noch die üblichen Bilder der Überwachung verdoppelt. Ähnlich, aber in seiner Arbeit Rebelland weiter ausholend, lässt der Glasgower Künstler Anthony Schrag Vor­stadt­kids ihre Alltagserfahrungen in der neigh­bourhood in Bezug zu Territorium, Selbstwertgefühl und ökonomischer Situation beschreiben und verwandelt in seinen da­raus resultierenden Dokumenten die pre­ka­risierten Nachbarschaften in seltsam lebendige Bruchzonen einer ungleichen wie auch ungleichzeitigen Gesellschaft. Neben diesen Versuchen einem staatlichen, auf De­vianz und Kontrolle zielenden Blick mit al­ternativen Zugängen zu begegnen, existieren auch Wege einer direkteren Auseinan­der­setzung. In offener Konfrontation mit autoritären Facetten der britischen Criminal Justice Bill organisieren Künstler des Lon­doner Goldsmiths College öffentliche Guerilla-Parties im Stil von Flashmob-Performances. In einer beispielhaften Aktion verweisen sie deutlich auf die unterschiedlichen Maßstäbe, die bei der Durch­setzung der ›öffentlichen Ordnung‹ angewandt werden, etwa bei der musikalischen Beschallung des öffentlichen Raums. So existieren zur Un­ter­bindung der kriminalisierten Raves Ver­bo­te des öffentlichen Abspielens ›repetetiv ge­prägter‹ Musik und des begleitenden Tan­zens. Mitten in London beschallt jedoch ein großes Musikkaufhaus seine Innenräume und die Außenflächen großzügig mit ebensolcher Unterhaltungsmusik. Dieses musikalische Angebot an die Jugend maximal nutzend, organisieren sie in eben diesem quasi­öffentlichen Bereich der städtischen Kon­sumsphäre einen ›spontanen‹ Rave, bei dem sie im und am Musikkaufhaus kollektiv der Aufforderung der Musik folgen und gemeinsam in plötzliche Rave-Ausgelassenheit verfallen, mit dem erklärten Ziel einen ASBO-Rekord aufzustellen. Der Bruch mit der impliziten öffentlichen Ordnung erfolgt durch das konsequente Ernstnehmen der he­gemonialen musikalischen Anrufung aus den Lautsprechern des Kaufhauses, seine Ju­gend bitteschön unbekümmert und vergnü­gungsorientiert zu nutzen.

„And for me, one question above all – where were the parents?“

Die weitreichende Kritik an Praktiken wie der Kriminalisierung nichtkriminellen Verhaltens, öffentlichen Denunziationen und der damit einhergehenden Stigmati­sierung sowie die Diskussion über die Wirksamkeit der ASBOs – immerhin wird jeder zweite ge­brochen – haben innerhalb der britischen Regierung zu einer Verschiebung der Techniken geführt. Die vielfältigen Sanktionsmöglichkeiten des ASBO gegenüber auffälligen Jugendlichen werden zurückgenommen, zugunsten von stärker familienorien­tier­ten Maßnahmen wie den Parenting Orders, zwangsweisen Verpflichtungen zu El­tern­schulungsprogrammen in den bereits er­wähnten Children Centers. Gleichzeitig verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der Lo­gik des Strafens hin zu Formen des Vertrags, sodass das äußerliche ›Anti-‹ zurückgeht und Platz macht für einen vertrags­förmigen Zwang zum Sozialen, wie etwa den Accept­able Behaviour Contracts. Im Kampf gegen das ›antisoziale‹ Verhalten wird damit erneut sichtbar, dass dieser vor allem Rang und Be­deutung des Sozialen selbst verhandelt – die soziale Bindung und ihre Anforderungen wer­den keines­wegs mehr als bereits gegeben an­gesehen, sie müssen offenbar erst in un­mit­telbarer Vertragsgestalt festgestellt werden, um anschließend eingefordert werden zu können. Diese individualisierten Zwangsverträge stellen somit eine bittere Parodie der Idee des ›Gesellschaftsvertrags‹ dar, die das gesellschaftliche Verhältnis selbst zum Ob­jekt einer staatlichen Disziplinarmaßnahme machen. Die andere Seite dieser strategischen Neuausrichtung besteht in deutlich in­tensivierten Maßnahmen zur Verfolgung der notorisch Devianten. Innenministerin Jacqui Smith lobt die ›neuen Instrumentarien‹, allen voran die Anti-Social Behaviour Action Squads. Innerhalb der von der Polizei in Essex ins Leben gerufenen Operation Leopard werden unter anderem die ›trouble­makers‹ zurückschikaniert und einer perma­nen­ten Kontrolle unterzogen: »where those responsible for anti-social behaviour have no room for manoeuvre and nowhere to hide, where the tables are turned on offenders so that those who harass our communities are them­selves harried and harassed «.

Die Teams sollen nicht nur regelmäßig die Ju­gendlichen anhalten und durchsuchen dür­fen, sondern sollen sie auch zu Hause auf­suchen und filmen. Diese Einschüch­te­rungs­strategie stoppt nicht beim Unterbinden von bestimmten – als antisozial empfun­de­nen – Handlungen, sondern kümmert sich um die Frage nach dem Charakter des Sub­jektes. Gleichzeitig erinnert die Vokabel vom nowhere to hide an das Leitmedium dieser Anstrengungen des paradoxen Zwangs zur sozialen Selbstverantwortlichkeit: die Über­wachung des öffentlichen Raums bzw. die Aufhebung des privaten. Dahinter scheint die Überzeugung zu stehen, dass die Herstellung von Sichtbarkeit, ja der perma­nen­ten Möglichkeit des Gesehenwerdens eine unerlässliche Bedingung für adäquate Selbstführung bildet. Die Möglichkeit des Un­sichtbarwerdens markiert damit die Gren­ze einer unsicheren Gesellschaft, in der Me­chanismen der Kontrolle die erodierende Disziplin stützen sollen. Der technisch installierte Blick überwacht auf der untersten Stufe seiner Wirksamkeit also keines­wegs die Einhaltung konkreter existierender Normen, in seiner Form als verallgemeinerter Blick des Anderen erinnert er zu­nächst an die offenbar alles andere als selbst­ver­ständliche Tatsache, dass Gesellschaft existiert. Diese Mahnung deutet auf den Kern der Besorgnis um das ›antisoziale Verhalten‹ hin, nämlich die Angst vor riskant indivi­dua­lisierten Subjekten, deren Sozialisierung nun­mehr in der Einübung von Selbstbe­haup­tungs- und Überlebenstaktiken besteht, die jenseits von Moralität oder Legali­tät angesiedelt sind. Daher rühren die so ve­he­ment vorgetragene Anrufungen der ele­men­taren Gemeinschaften: der Familie und der Nachbarschaft. Dass alle noch so prag­ma­tisch und gewissenlos ›Egotaktierenden‹ keineswegs in einem unerreichbaren Jenseits des Sozialen existieren, sondern ganz im Ge­genteil um so unvermittelter das Resultat gesellschaftlicher Bedingungen sind, ist nur eine Tatsache, die das Schlagwort des Antisozialen und der daran gekoppelte Lobpreis der Gemeinschaft systematisch ausblenden.

(Florian Hessdörfer & Jan Bachmann)