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„Nach den Sternen greifen“

13.-16. Mai 2010 BUKO 33 in Tübingen

Seit 1977 trifft sich die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO: übrigens bis 2002 Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen genannt) einmal im Jahr, um herrschaftskritische und emanzipatorische Politik und Aktionen zusammenzuführen und weiterzudenken.

Dieses Jahr zog es ca. 400 Kapitalismuskritiker_innen in die Universitäts- und Tierversuchsstadt Tübingen,  genauer in das soziokulturelle Zentrum Sudhaus, wo Workshops und Veranstaltungen rund um die Themenschwerpunkte EU und Commons/Gemeingüter stattfanden, aber auch vieles mehr: Erstmalig bot JuLe (Junge-Leute-Programm) für Neueinsteiger_innen thematische Einführungen an; das Freie Radio Wüste Welle begleitete den Kongress vor Ort durch musikalische Unterhaltung sowie inhaltliche Berichterstattung; die mobile Mitmach-Küche Le Sabot sorgte sich morgens, mittags, abends um den großen und kleinen Hunger; ein Raum mit Bücher- und Infoständen, Kaffee und Kuchen lud zur Information und Vernetzung ein und die Kinderbetreuung ermöglichte Manchem mehr die Teilhabe.

Neben den zwei Panels (s. unten) gab es auch inhaltlichen Raum für „Diversitäten“– ein Schlagwort, das u.a. Themen wie Widerstand in Honduras, Islamismus, Klimagerechtigkeit sowie Menschenrechte in Kolumbien umfasste. Die inhaltliche Breite „sorgte für Abwechslung“ und stärkte die internationalistische Perspektive des Kongresses. Die Verbindung von Theorie und Praxis wurde jedoch nicht nur im Kreis oder vor einem Podium sitzend diskutiert, sondern auch in direkten Aktionen erprobt. So mobilisierte die Gruppe ZAK die BUKO am Samstag in die Tübinger Innenstadt, um mit der Aktion „TüBus umsonst! Nulltarif im Stadtverkehr!“ temporär ein Common zu schaffen und zugleich ein Signal für eine neue Klima- und Sozialpolitik zu setzen. Sonntag Vormittag wurde es dann noch aktiver: Tübingens Studentenverbindungen veranstalteten öffentlich ein Frühstück mit den „Alten Herren“, das queerig-kreativ massiv gestört werden konnte. Bekannt für seine Säbelrassler und Schmissbacken haben wir Tübingen aber auch von Seiten einer erstaunlich großen linksradikalen Szene kennengelernt. Wichtige Vereine wie die IMI (Informationsstelle Militarisierung), interessante linke Gruppen im Spannungsfeld von Anarchismus und Kommunismus sowie selbstorganisierte Projekte bringen reichlich Farbe in das verschlafen wirkende Städtchen. Und das schon sehr lange, denn die Geschichte der Hausbesetzer_innen reicht bis in die 1970er Jahre zurück.

Was extrem genervt hat, war das miese Wetter – kalt, dunkel, nass. Ansonsten kann es nur ein überschwenglich positives Fazit geben: Der Kongress hat Spaß gemacht, Ideen gebracht, geistig inspiriert, zu Vernetzung und Austausch animiert und neue Kraft gegeben, um mit Schwung in den alltäglichen Kampf gegen Staat und Kapital zurückzukehren. Sicherlich auch deshalb, weil die totale Ablehnung kapitalistischer Lösungen ein breiter Konsens war und somit intensivere Diskussionen ermöglichte. Jetzt kann die Weltrevolution auch am 22. April 2011 beginnen!

(momo & droff)

Commons

Der Begriff der Commons/Gemeingüter/Allmende wird wohl in Zukunft häufiger zu hören sein. Auf der BUKO33 wurde dieser u.a. gefüllt mit Inhalten wie Landprivatisierung, politische Kommunen, Freie Software, Ernährungsautonomie, bedürfnisorientierte Produktion und solidarische Gesellschaftsgestaltung. Letztendlich machte dieses breite linkspolitische Feld die Antwort auf die übergeordnete Frage nicht leicht: Was taugt dieser Begriff für eine emanzipatorische Politik?

Der Leitspruch „Es gibt keine Gemeingüter ohne gemeinsames Tun.“ verweist auf eine zentrale Idee des Commons-Konzeptes: weg vom Privateigentum und kapitalistischer Verwertung, hin zur kollektiven Nutzung und einem Prozess der gemeinsamen Aushandlung von Umgangsregeln mit der jeweiligen Ressource. Gemeingüter bezeichnen nicht nur eine soziale Praxis, auch einen Diskurs. Es geht bspw. um Zugang zu Bildung oder Verteilung endlicher Ressourcen und ist somit was, das Jede_n betrifft. Wem gehört die Welt und wie kann eine bessere Welt eigentlich aussehen? Die Commons-Debatte ist ein Erfahrungsaustausch und Verständigungsprozeß und hat das Potenzial kritische Theorien und emanzipatorische Praxen zusammenzubringen. Bleibt zu hoffen, dass die notwendige Staatskritik im Diskurs auch noch mitgedacht wird.

Europäische Union

Schwerpunkte dieses Panels war die Wirtschafts- und Sicherheitspolitik der EU, denn trotz interner Uneinigkeit sind sie bereits eine globale Großmacht: So „verteidigt“ sich die Festung Europa mit Militärschiffen (unter Frontex-Regime) gegen mittellose Migrant_innen in Schlauchbooten und schirmt sich weiträumig durch Abschiebeknäste bereits auf dem afrikanischem Kontinent ab. Weiter wird der EAD (Europäische Auswärtige Dienst) am 6. Juni zum neuen außenpolitischem Richtschwert legitimiert,  das militärische, sicherheits- und entwicklungspolitische Ansätze zusammenführt und somit die künftige Entwicklungshilfe an europäische Militärinteressen bindet. Auch entscheidet der Westen über die Definition sog. „failed states“ und sichert sich (zivil flankiert) seine Pfründe. Und wo nicht militärisch durchzusetzen, werden die für Europa spannenden Ressourcen und der Zugang zu Märkten und geistigem Eigentum via Freihandelsabkommen abgepresst (siehe auch S.14ff) und Entwicklungshilfegelder an eine vollständige Wirtschaftsliberalisierung gekoppelt. Vielfältig nutzt die EU ihre Machtposition global aus, was von den Betroffenen als Neokolonialismus bezeichnet wird. Die Referentin Madjiguéne Cissé aus Senegal brachte die Beziehungen zwischen der EU und Afrika 125 Jahre nach der Berlin-Afrika-Konferenz praktisch auf den Punkt: „Als ich sagte, dass ich nach Europa gehe, meinten meine Freunde zu mir: Nimm ihnen ihre Waffen mit zurück und bring uns die geklauten Fische wieder“.

Wilder Streik bei Opel in Bochum

Sieben Tage lang, vom 14. bis zum 20. Oktober, haben die ArbeiterInnen der Bochumer Opel-Werke die Produktion lahmgelegt. Mit ihren Aktionen haben sie auch die Teileauslieferung für vier weitere europäische Opel-Werke verhindert und damit die Produktionsketten völlig durcheinander gebracht. Im größten "wilden Streik" seit dreißig Jahren haben die ArbeiterInnen tagelang dem Dauerfeuer und den Einschüchterungen von Bossen, Politik, IG Metall und Betriebsrat widerstanden, die sie mit allen Tricks unbedingt dazu bringen wollten, die Produktion wieder aufzunehmen. Letztlich haben sich die erfahrenen und professionellen Abwiegeler und Abwickler aus den Reihen des DGB mit ihren Manipulationen erst einmal durchgesetzt. Trotzdem aber haben die ArbeiterInnen in Bochum mit ihren Aktionen gezeigt: es geht was und es geht so, dass es richtig weh tut!
Die Stimmung am Wochenende
Leute aus mehreren Gruppen der FAU waren in den letzten Tagen bei Opel in Bochum vor Ort, um Solidarität zu zeigen, mit den ArbeiterInnen zu diskutieren und zu erfahren, wie wir den Kampf unterstützen können. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass bei vielen ArbeiterInnen ein tiefes Mißtrauen nicht nur gegen die Politiker sondern auch gegen die Gewerkschaft und den Betriebsrat besteht, die zwar vordergründig den dicken Heinz markieren aber gleichzeitig versuchen, mit allen Mitteln auf ein Ende des Produktionsstopps hinzuwirken. Gerüchte und offensichtlich ganz gezielt gestreuten Falschinformationen von Seiten der Meister und der Funktionäre gaben sich die Hand.
Trotzdem war die Entschlossenheit groß, sich nicht auf irgendwelche nichtssagenden Versprechungen einzulassen und stattdessen das einzige Druckmittel, die De-Facto-Blockade der Teileauslieferung u.a. für Antwerpen und Rüsselsheim, in der Hand zu behalten. Auf der anderen Seite war aber auch durchaus eine steigende Unsicherheit spürbar, wie es weitergehen soll, wenn man nicht nur die Geschäftsleitung sondern auch den Betriebsrat und die Gewerkschaft gegen sich hat.
Dienstag – Die Inszenierung sickert durch
Gegen Abend sickerte durch, wie Betriebsrat und Gewerkschaft die Belegschaftsversammlung am nächsten Tag organisieren wollen. Weitab vom Werk, mit lediglich zwei Redebeiträgen, in denen Stimmung für die Wiederaufnahme der Produktion gemacht werden soll und ohne jede Möglichkeit der Diskussion. Stattdessen: Geheime Abstimmung über das Ende der Kampfmassnahmen. Einige haben Tränen in den Augen vor Wut und Enttäuschung, andere lachen und wollen diesem Gerücht nicht glauben. "Das war es dann wohl!" meint jemand.
Mittwoch – Alles unter Kontrolle
Schnell zeigt sich, dass die Informationen vom Vorabend kein Gerücht sondern Fakten waren. In der viel zu kleinen Halle auf dem Podium sitzen der BR-Vorsitzende Hahn und der IG Metall-Funktionär Hinse. Um das Podium Trauben von Werkschutz und Security. Security auch am Eingang. Sie machen rigide Kontrollen, wer raus geht rauchen, kommt nicht wieder rein. In den vorderen Reihen hauptsächlich Gefolgsleute des Betriebsrats. Reden dürfen nur die beiden Funktionäre. Danach wird sofort der vorbereitete Antrag den sie zur Abstimmung vorgelegt. Der läuft auf eine glatte Erpressung der Belegschaft hinaus: "Soll der Betriebsrat die Verhandlungen weiterführen und die Arbeit wieder aufgenommen werden? Ja oder nein?" Viele müssen drei mal überlegen, bis sie verstanden haben, was passiert. Weitere Verhandlungen nur, wenn die Belegschaft vor Gewerkschaft, Betriebsrat und Bossen kuscht und ihr einziges Druckmittel aus der Hand gibt.
Die Abstimmung ergibt eine Mehrheit für die Wiederaufnahme der Produktion. Rund 4.600 ArbeiterInnen sind dafür, knapp 1.800 dagegen. Ausserdem gibt es eine Menge Enthaltungen und ungültig gemachte Stimmzettel. Viele sind erst gar nicht zu dieser Farce erschienen. Die IG Metall wird später am Tag die Falschinformation verbreiten, es hätten sich 6.400 Arbeiter für die Wiederaufnahme der Produktion ausgesprochen, die dann auch sofort von eingen Nachrichtenagenturen aufgegriffen und verbreitet wird. Scheinbar ist den hauptamtlichen Abwicklern nicht so recht geheuer, dass trotzdem immer noch rund ein Drittel der ArbeiterInnen die Aktionen fortsetzen wollten. Obwohl sie dann keinen Pfennig Kohle gesehen hätten und mit Sicherheit die Repressalien eingesetzt hätten.
Und jetzt?
Über das, was jetzt kommt, herrscht absolute Unsicherheit. Die Stimmung ist mies, die Belegschaft gespalten. Also genau das, was die professionellen Verhandler brauchen, um Belegschaften halbwegs ungestört abwickeln zu können. Es kann aber auch sein, dass es bei einem absehbaren miesen Verhandlungsergebnis wieder zu spontanen Aktionen kommen wird. Dass sie das können, haben die ArbeiterInnen ja gerade gezeigt. Beim nächsten Mal wird allerdings die Werksleitung besser vorbereitet sein. Nachdem sie davon überrascht worden ist, wie schnell ihre "atmende Fertigung" auf europäischer Ebene soeben den Keuchhusten bekommen hat, wird man versuchen, in den nächsten Wochen Lager anzulegen, um einen erneuten Produktionsstillstand ins Leere laufen zu lassen. Manche Chancen bekommt man nur einmal und dann so schnell nicht wieder.
Das hat gesessen!
Eines jedenfalls haben die 7 Tage von Bochum gezeigt. Die Angst vor einem Wilden Streik, vor einem eventuellen Kontrollverlust der Befriedungsagenturen Betriebsräte und sozialpartnerschaftlicher Gewerkschaft sitzt tief bei Wirtschaft, Politik und veröffentlichter Meinung. Jede Regung hinter und vor den Toren der Bochumer Fabriken war tagelang Topthema in den Medien, Gegenstand von Eilmeldungen, wütendem Gekeife der Arbeit"geber"verbände, Erklärungen von Ministern und Parlamenten. Die Bochumer Opel-ArbeiterInnen haben mit ihrer Aktion ans Licht gebracht, was tatsächlich wehtut und wovor das System Angst hat. Direkte Aktionen mit konkreten Störungen des reibungslosen Betriebes. Nicht zuletzt deswegen haben viele Leute voller Hoffnung nach Bochum geschaut und tun es immer noch. Weil noch nicht aller Tage Abend ist.

Hinweis: Den Text haben wir von www.fau.org gezogen, er wurde von FAUistas aus dem Ruhrgebiet verfasst.

WENDLAND 2010 – Widerstand der Schule macht

Optimismus ist hierzulande ja ein teures Gut geworden. Stattdessen durchherrscht die Köpfe Angst, Zynismus und Verzweiflung bei dem Gedanken an die Zukunft. Alle Köpfe? Nein – es regt sich Hoffnung. Ein kleiner Archipel, von der Industrialisierung weitestgehend unberührt, leistet Widerstand. Im unbeugsamen Wendland hat der Optimismus dieser Tage neuen fruchtbaren Boden gefunden, auf dem der Glaube an bessere Verhältnisse gedeihen kann. Die Wiedererweckung der Anti-AKW-Bewegung aus dem Schlummer falscher Kompromisse ist mehr als nur eine Machtbedrohung für die schwarz-gelbe Koalition, es ist ein Lehrstück in Sachen entschlossenen Widerstands, das Schule machen wird.

Denn der Erfolg der diesjährigen Anti-Castor-Proteste lag weniger darin, den Castor-Zug um xy-Stunden zu verzögern und damit die Transportkosten exorbitant zu verteuern, nicht so sehr in der Ver­stetigung der einzelnen Initiativen, auch nicht in dem breiten und positiven medialen Echo. Nein, es waren diese beiden denkwürdigen Nächte vom 7. zum 8. und vom 8. zum 9. November, an denen es schien, als käme die gesamte Polizeimaschinerie zum Erliegen und die Allmacht des Staates bekäme Risse im Angesicht dieses bunten Haufens von Entschlossenen, der sich da mit Strohsäcken, Kerzen und körperlicher Entbehrung gegen die Ent­schei­dungs­vormacht der verantwortlichen PolitikerInnen stemmte. Es war die Wirkmacht dieser kollektiven Aktion, die jedem und jeder rund um den Globus zu sagen schien: Da geht doch noch was!

Doch von vorn. Den diesjährigen Castor­protesten ging eine bislang beispiellose Mobilisierung voraus, wie die unzähligen Kampagnen, Vortragsreihen, Trainings und Work­shops belegen, die die unterschiedlichen Initiativen bundesweit veranstalteten. Freies Radio Wendland sendete 24h rund um die Uhr, während der Castor rollte und wurde vom Netzwerk der Freien Radios bundesweit geschaltet. Ein Heer von JournalistInnen bereiste das beschauliche Land, allein die taz setzte 10 Korres­pon­­den­tIn­nen ein, um den hauseigenen Online-Ticker zu versorgen. Überhaupt: Die Rolle der neuen Medien ist bei der Vernetzung kaum noch wegzudenken und Informationen werden durch sie wieder zu einer ernstzunehmenden Waffe*. Unzählige namenlose BeobachterInnen speisten die Internet­seiten während der Reise des Castorzuges mit konkreten Daten über Zeit, Geschwindigkeit, Route und jeweiligen Standort. Das hat diesmal auch über die Landesgrenzen hinaus funktioniert. Erstmalig konnten AktivistInnen aus Frankreich den Zug schon wenige Stunden nach seinem Start für mehrere Stunden stoppen.

Machtlose Polizei

Trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit – bei optimistischen Schätzungen kommt man nicht substanziell über 10.000 „im Feld“ Aktive hinaus, denen ca. 16.000 eingesetzte plus nochmal 4.000 nachgezogene BeamtIn­nen entgegenstanden – gelang es diesmal durch eine einzigartige Ver­netzung der verschiedenen Aktionen seit langem wieder, Schiene und Straße tatsächlich zu erobern. Auch weil die Bewegung einen spürbaren Strategiewechsel vollzogen hat. Statt sich aus Angst vor Unterwanderung und Spionage durch Zivilbeamte und Spitzel in den verschiedenen Aktionsformen und -gruppen abzugrenzen, setzte mensch auf verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und freien Informations­fluß. Statt in der Ecke zu tuscheln, wurde offen pleniert, statt heimlich zu üben, wurde gemeinsam öffentlich trainiert. Die Initiative Castor?Schottern! (siehe auch S. 21f) konnte durch das offene Aussprechen der Taktik und Ziele der Schotter-Aktion im Vorfeld ihre Kampagne derart popularisieren, dass es erstmals gelang, die Kräfte, die sich bisher immer in dezentral agierenden Bezuggruppen aufgerieben hatten, zu bündeln. Das zwang die Polizei, die sonst weiträumig stattfindende Abschirmung der Gleise und der Straßen ins Lager schon frühzeitig aufzugeben und sich stärker auf die Schot­terIn­nen zu konzentrieren. Die Taktik, dabei auf Festnahmen zu verzichten und stattdessen die SchotterInnen mit harter körperlicher Gewalt abzuschrecken, ist letztlich völlig schiefgegangen. Über tausend verletzte AktivistInnen und zahlreiche Pres­sebilder von Polizeigewalt, ledig­lich 12 Ingewahrsamnahmen über den ganzen Tag, die allesamt einer richterlichen Prüfung nicht standhielten, und nicht eine einzige Festnahme waren ein unmißverständ­licher Beweis der Gewaltlosigkeit des Widerstandes. Allein ein abgebrannter Einsatzwagen – vermutlich von den eigenen Leuten kontrolliert angezündet und dann schnell wieder gelöscht – mußte als Mittel der Propaganda herhalten. Das hat auch die Moral der eigenen Truppe nachhaltig untergraben, die ohnehin unter viel zu langen Einsatzzeiten, Unlust und dem bewußten Gefühl leidet, im Wendland nicht gerade als „guter Freund und Retter“ aufzutreten. Es war deshalb auch Ausdruck der Resignation, dass die Einsatzleitung der Polizei auf eine frühzeitige Räumung der Sitzblockaden verzichtete und sich lange darauf beschränkte, den Zulauf zu den Blockaden zu hemmen. Man spielte auf­grund der bereits angelaufenen Verspätung lieber auf Zeit, anstatt wie etwa 2001 in einem letzten Kraftakt den Transport hektisch durchzupeitschen und setzte dagegen bei den Räumungen auf Deeskalation und Verhandlung. Ein Umstand, der der Entschlossenheit des Widerstandes sicher entgegenkam und so ungewollt die enormen Verspätungen mit bewirkte. Tatsächlich war es aber der Mut, den gewaltlose Aktionen benötigen, die Vielfalt und Kreativität des Widerstandes, der die BeamtIn­nen in ihrem Handeln beeinflußte.

Der Staat in der Defensive

Die wiedergeborene Anti-AKW-Bewegung hat überzeugt. Beeindruckt zeigt sich nicht nur die bürgerliche Presse und der sympathisierende Teil der Bevölkerung, auch innerhalb der Polizei wächst der Widerstand gegen derartig unzumutbare Mülltransporte. Anders ist die teilweise stoisch anmutende Gelassenheit der Einsatzführung im Blick auf die Sabotage der eigenen Logistik nicht zu erklären. Die lästigen Traktorenblocka­den“ der Bauern hätten durch Festnahmen und Beschlagnah­mung relativ einfach beseitigt werden können. Hier war die Staatsmacht auch mal kreativer. In den Neunzigern bspw. sprangen kurzerhand Fallschirmkommandos über den einschlägig bekannten Höfen ab und legten die Trecker durch das Zerstechen der Reifen lahm. Doch statt­dessen berichten die Bauern dieser Tage darüber, wie ganze Einsatzzüge ratlos wieder umkehrten, während der zivile Verkehr ungehindert fließen konnte. Vielen BeamtIn­nen fehlte offensichtlich die Lust und auch der Druck von oben, sich ernsthaft auseinanderzusetzen. Die großen Sitzblockaden wurden verhältnismäßig zurückhaltend geräumt, es gab diesmal auch keine Camp-Kesselungen oder Festnahme-Exzesse.

Ob es der Regierung, dem Innenministerium und der Obersten Leitung der Bundespolizei gelingt, an diese erlöschende Lunte neues Feuer zu legen, ist angesichts der positiven Presseresonanz, die die Proteste erzielten, und deren nachhaltig gewaltlosem Auftreten, stark zu bezweifeln. Von daher ist derzeit auch völlig unklar, mit welcher Strategie bei weiteren Transporten den Protesten überhaupt effektiv entgegengewirkt werden kann. Um zu verhindern, dass die erfolgreichen Protestaktionen weiter an Zulauf gewinnen, bräuchte man dringend eine starke Abschreckungswirkung. Die wird sich aber nur dann erzielen lassen, wenn die Polizei dementsprechend martialisch auftritt, was innerhalb der Beamtenschaft kaum noch zu vermitteln ist und außerdem eine viel höhere Zahl an Einsatzkräften bedingen würde, was, zumindest so wie derzeit, nicht bezahlbar wäre. Es ist also sogar möglich, dass die diesjährigen Proteste ein längeres Aussetzen der Atom­mülltransporte bewirken und die Regierung stattdessen lieber neue Verträge über die Zwischenlagerung des radioaktiven Materials mit den Betreibern der Wiederaufbereitungsanlagen bei Le Hague (FR) und Sellafield (UK) aufsetzt, wo derzeit sowieso fast 3/4 des deutschen Atommülls lagert. Dass Umweltminister Röttgen dieser Tage die geplante Verklappung des radioaktiven Mülls aus dem ehemaligen Forschungsreaktor Rossendorf (bei Dresden) im fernen Majak (RU) kurzerhand wegen Bedenklichkeit der dortigen Zustände abblies, kann mensch durchaus als politisches Zeichen in diese Richtung werten. Und um so entschlossener gilt es jetzt gegen den letzten Atommüll-Transport nach Lubmin (siehe auch S. 20) aufzutreten, der für dieses Jahr noch genehmigt ist!

Unverantwortliche Politik

Das Problem der deutschen Atomenergiepolitik ist einfach zu offensichtlich. Einer­seits will man den durch die Laufzeitgarantien weiter verbilligten Atomstrom, um die hiesigen Industrien zu befeuern, ande­rerseits gibt es für den entstehenden, hochradio­akti­ven Müll keinerlei Konzept der sicheren Lagerung. Stattdessen werden die verbrauchten Brennstäbe zur wenig lukrativen Erzeugung von neuen Brennstäben und ganz nebenbei waffenfähigem Material nach Frankreich und England transportiert, und dann wird der Müll – um ein Vielfaches an strahlenden Masse angewachsen – wie­der zurückgekarrt, um in Gorle­ben letztlich in einer Betonhalle oberirdisch abgestellt zu werden, während völlig unklar ist, ob der Salzstock bei Gorleben überhaupt jemals zu einer Endlagerstätte wird. Die lokale Grafschaft, die das Schürfrecht an dem Salz besitzt und bereits in den Neunzigern ein millionenschweres Kaufangebot von Seiten des Staates abgelehnt hat, wird man zu­vor wohl erst enteignen müssen, ebenso wie die örtliche Kirchengemeinde und eine hand­voll Bauern. Die legislativen Weichen dafür hat Bundespräsident Wulff zumindest gerade im Zusammenhang mit dem neuen Atomgesetz abgesegnet. Außerdem gibt es nach dem katastrophalen Wassereinbruch in der Asse II (siehe u.a. FA!#38 Seite 1/23) wieder erhebliche Zweifel an der Tauglichkeit von Salz als Wirtsgestein überhaupt. Doch statt über die Probleme der Endlagerung des Atommülles offen zu diskutieren und alle erdenklichen Möglichkeiten auszuloten, eine vielseitige Forschung zu betreiben und die hochgiftige Müllproduktion schnellstens zurückzufahren, hat sich die deutsche Politik an Gorleben als Endlager festgebissen. Ge­gen­wärtig lagern 102 Castorbehälter, also ca. 1.000 Tonnen radioaktives Material in dem provisorischen Containerlager, das damit schon zu 25% gefüllt ist. Nimmt man den bereits wiederaufbereiteten deutschen Müll hinzu, der allein in Le Hague und Sellafield lagert, wäre das Lager jetzt schon voll. In dieser Lage ist es nicht nur grob unvernünftig sondern geradezu fahrlässig, die hochgefähr­lichen Transporte weiter quer durch die Lande zu jagen und durch längere Lauf­zeitgarantien gleichzeitig deren Menge noch zu erhöhen. Egal wieviel Geld dadurch kurzfristig zusätzlich ins Staatssäckel fließt. Die Beseitigung der verheerenden Folgen auch nur des kleinsten Transportunfalls in so einem eng besiedelten Gebiet wie Deutsch­land wären durch keinen Rettungsschirm dieser Welt finanzierbar.

Abschalten, aber sofort!

Die Anti-AKW-Bewegung muss also auch in Zukunft mit aller Macht darauf dringen, dass die unsinnigen und hochge­fährlichen Mülltransporte unterbleiben, bis es eine allseitig akzeptable Endlager-Lösung gibt, und gleichzeitig darauf beharren, dass alle AKWs umgehend abgeschaltet werden. Außerdem muss es ihr noch stärker gelingen, den Technologie-Export deutscher Firmen in den Fo­kus und Aktionsradius mit einzubeziehen, was gleichbedeutend mit der Internationali­sie­rung der Bewegung ist. Die unzähligen Mails mit Solidaritätsbekundungen aus anderen Ländern, die allein das Radio Freies Wendland über das Aktionswochenende hinweg erhielt, bezeugen, dass der erfolgreiche Pro­test hierzulande über die Grenzen hinweg Vorbild und Inspiration ist. Und Papa Staat macht es ja schon vor. Auch bei diesem Castortransport wurden französische Po­­li­zeieinheiten gesichtet, die offensichtlich „in freier Wildbahn“ Schulung in Demon­stra­­tionsbekämpfung erhielten. Ähnliches soll­te mensch auch auf der Gegenseite noch stär­ker praktizieren. Denn das Wendland die­ser Tage ist, was es ist: Eine Kulturnische des politischen Protestes, ein gewachsenes La­boratium für verschiedene Formen des non-konfrontativen, subversiven Widerstandes. Ob daraus in Zukunft eine mächtige Bür­gerbewegung entsteht ist allerdings so fraglich, wie ausgeschlossen ist, dass die der­zei­tige Anti-AKW-Bewegung Vorreiterin einer tiefergehenden Umwälzung der Verhäl­tnisse sein könnte, dafür ist der anti-atomare Konsens einfach zu klein. Sicher ist aber auch: JedeR AktivistIn, gleich welcher sozialen Bewegung, sollte ge­nau hinschauen, wie diese ‘gallischen Wendländer’ Gegenmacht organisieren. Der Erfolg lädt zum Nachahmen ein. Weiter so!

(clov)

 

* Am Beispiel der Strahlenbelastung bei der Begleitung von Castor-Transporten. War da nicht mal was? Als 1998 herauskam, dass die Castor-Behälter doch erheblich mehr abstrahlen, als die Industrie zuvor behauptet hatte, weigerte sich die Gewerkschaft der Polizei zeitweilig, die Transporte abzusichern. Über die nach wie vor bestehenden erheblichen Strahlenrisiken in der Nähe der Castorbehälter klärte eine eigens für Polizisten und Polizistinnen eingerichtete, sachlich fundierte Internetseite auf, die während der Protesttage immer wieder beworben wurde – castoreinsatz.110mb.com