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Im Unterholz der Moderne (1)

Religion, Vernunft, Ideologie

Gut 200 Jahre ist es her, dass Imma­nuel Kant seine berühmte Forderung, „Habe Mut, dich deines eigenen Ver­standes zu bedienen“, erhob und Auf­klä­rung als den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte. Schon der Begriff „Aufklärung“ („enligh­tenment“ im Englischen) verweist auf den hehren Anspruch des Unterfangens: Alles soll vom Licht der Vernunft durchleuchtet, die Gesellschaft nach den Regeln der Rationalität umgestaltet werden. Damit ist aber längst kein Zeitalter universeller Vernunft angebrochen. Zwar haben die christlichen Kirchen in den westlichen Industrienationen ihr Monopol auf die letztgültige Erklärung der Welt verloren – die Religiosität ist mit dem Verlust des christlichen Monopols aber nicht verschwunden.

Im Gegenteil lassen sich sogar Anzeichen für einen religiösen roll-back, ein erneutes Erstarken des Glaubens ausmachen. Nicht nur in islamisch geprägten Teilen der Welt gewinnen fundamentalistische Be­wegungen an Bedeutung. Auch hier­zu­lande bemühen sich die christlichen Kirchen, verlorenen Boden zurück zu gewinnen. Wie das ausschaut, konnte man vor kurzem in Leipzig beobachten, in der Debatte über das neugebaute „Paulinum (siehe FA! # 31). Auch die pro-tibetischen Proteste im Vorfeld der Olym­­pi­schen Spie­­le in Peking 2008 dürften nicht nur mit den Lebensbedingungen der tibetischen Bevölkerung, sondern auch mit der kaum von Sachkenntnis ge­trübten Popularität des Dalai Lama zu tun gehabt haben (1).

Die heutigen Erscheinungsformen der Religiosität sind freilich nicht einfach nur irrationale Restbestände in einer ansonsten durch und durch rationalen Gesellschaft – eine solche Sichtweise würde das Statische der Religiosität zu sehr betonen. Selbst wenn die jeweiligen Glaubensinhalte und Praktiken gleich bleiben, kann die Funktion, die sie in einer bestimmten Gesellschaft haben, stark variieren. So wäre es z.B. absurd zu glauben, die religiöse Praxis neuheidnischer Gruppen, die sich auf alte germanische oder keltische Religionen beziehen, sei mit der ihrer Vorbilder identisch, egal wie sehr mensch sich dabei um genaue Rekonstruktion von Riten und Glaubensvorstellungen bemüht. Auch die Selbstwahrnehmung religiöser Gruppierungen, die sich als Hüter einer „ewigen Wahrheit“ begreifen, ist also illusorisch. Im Gegensatz dazu soll hier die Religiosität (bzw. einige ihrer Spielarten) als soziales, sehr „diesseitiges“, zeit- und ortsgebundenes Phänomen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.

Einkaufsbummel im Weltanschaungsladen

Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich Form und Funktion der Religiosität in den letzten 100 Jahren gravierend verändert haben: Wie so ziemlich jeder Teil der menschlichen Ex­is­tenz ist heute auch sie zu einer Sache des Marktes geworden. Wer ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sinnstiftung und weltanschaulicher Orientierung hat, kann sich aus dem Sortiment die Ware aussuchen, die ihm oder ihr am ehesten zusagt. Im Zuge der Säkularisierung hat sich neben den etablierten Kirchen eine Marktlücke für ein ganzes Spektrum „parareligiöser“ (2) Strömungen aufgetan. Als Oberbegriff für dieses Spektrum hat sich das Schlagwort „Esoterik“ eingebürgert – gerade weil der Begriff ebenso diffus ist, wie die Sache, die er bezeichnet, soll er auch hier weiter verwendet werden. In ihrer Vermitteltheit über den Markt ist die Esoterik trotz aller Rückgriffe auf ältere Traditionen ein genuin modernes Phänomen, eine in gewissem Sinn wirklich „neue“ Form von Religiosität. Als solche soll sie im nächsten Heft genauer unter die Lupe genommen werden – hier sollen zunächst einige theo­re­tische Vorannahmen geklärt und der ge­sell­schaftliche Kontext dieser neuen Form der Religiosität un­­tersucht werden.

Dieses Unterfangen stößt allerdings auf Schwierigkeiten – zuallererst die Unübersichtlichkeit des zu beackernden Feldes. Bleiben wir noch kurz bei der Esoterik. Dieser Begriff bezeichnet ein loses Bündel von Gruppierungen, Weltanschauungen und Praktiken, dessen kleinster gemeinsamer Nen­­ner der diffuse Glaube an im Ver­bor­genen wirkende „höhere Kräfte“ ist – egal, ob diese nun als personifizierte Mächte (Gottheiten, Engel, Seelen usw.) oder abstrakter als „kosmische Energie“ oder „Schicksal“ begriffen werden. Sonderfälle (z.B. UFO-Gläubige und Weltverschwörungstheo­retiker_innen, deren Literatur in Buchhandlungen ebenfalls unter dem Schlagwort „Esoterik“ einsortiert wird) müssen dabei mitbedacht werden. Von diesem weltanschaulichen Minimalkonsens abgesehen, gibt es aber auch große Unterschiede – die jeweiligen Praktiken können körperzentriert sein oder im Gegenteil auf eine „reine Geistigkeit“ abzielen, in stark individualisierter Form oder in festen Gruppenstruk­turen ablaufen, diese Struk­turen wiederum können flache Hierarchien aufweisen oder um eine autoritäre Gurufigur zentriert sein usw.

Die Schwammigkeit des Gegenstandes ist aber nicht nur durch die Vielzahl der weltanschaulichen Angebote bedingt, sondern verweist auf ein immanentes Problem von Religiosität unter den Bedingungen der Moderne. Um dieses zu erfassen, müssen wir uns das Verhältnis von Vernunft und Glaube, Rationalität und Irrationalität im religiösen Denken ein wenig genauer ansehen.

Religion als Weltanschauung, als „Theologie“ im weitesten Sinne, als System von Aussagen also, baut sich auf Dogmen, willkürlich gesetzten und rational nicht weiter begründbaren Basisbehauptungen, auf. Logisch lassen sich diese weder widerlegen noch beweisen – man kann höchstens glauben, eine bestimmte Aussage entspräche der Wahrheit. Tut mensch das, kann man allerdings auf dieser Basis durchaus folgerichtig weiterargu­men­tieren. Hat man z.B. die Behauptung „Die Bibel ist Gottes Wort“ akzeptiert, ist es nur logisch, sich z.B. über das Wesen der Engeln Gedanken zu machen – die werden schließ­lich auch in der Bibel erwähnt (was natürlich nicht beweist, dass es Engel wirklich gibt). Eben weil religiöse Gruppierungen zur Vermittlung ihrer Ansichten nicht auf die Sprache als wichtigstes Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation verzichten können, sind religiöse Weltanschauungen immer eine spezifische Verbindung von Irrationalität und logischer Rationalität (Logik ist schließlich vor allem eine Sache des präzisen Sprachgebrauchs).

Die religiösen Weltanschauungen zugrundeliegenden Dogmen geraten so lange nicht als bloße Behauptungen in den Blick, wie entweder der Kreis der Gläubigen so nach außen abgeschottet ist, dass seine Mitglieder gar nicht erst mit der Möglichkeit anderer Weltsichten konfrontiert werden, oder eine strafende Instanz existiert, die Abweichungen vom „rechten Glauben“ mehr oder weniger gewaltsam unterbindet. Beide Bedingungen sind in den westlichen Industrienationen heute kaum noch gegeben – ein hohes Maß an Mobilität, allgemeine Schulpflicht, neue Kommunikationsmedien usw. machen völlige Abschottung schwierig, und das Verbrennen von Menschen auf öffentlichen Plätzen wird mittlerweile zu Recht als barbarische Praxis angesehen. Zudem ist der Religion mit den Naturwissenschaften eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen, die den großen Vorteil hat, nicht nur vage Versprechungen für das Jenseits, sondern auch praktische Ergebnisse im Diesseits liefern zu können.

Die fundamentalen Dogmen verlieren damit an Verbindlichkeit, die sorgfältig konstruierten religiösen Aussagensysteme geraten ins Wanken. Eben das ist der Grund, warum die religiösen Vorstellungen heute zunehmend abstrakter werden, sich religiös denkende Menschen immer seltener zu klaren Aussagen bezüglich des Wesens des „Göttlichen“ hinreißen lassen – die Religiosität zieht sich im Zuge der Säkularisierung und der Konkurrenz durch die Naturwissenschaften auf weniger angreifbare Positionen zurück. Die Vorstellung eines persönlichen Gottes, der im Zorn gelegentlich mit Blitz und Donner dreinhaut, wird z.B. ersetzt durch die Idee einer abstrakten höheren Macht. An eine solche unpersönliche „höhere Macht“ glauben laut der Shell-Jugendstudie von 2006 19% der Jugendlichen in Deutschland, in der Gesamtbevölkerung sind es etwa 33% (an einen persönlichen Gott glauben dagegen nur noch 22%). So ließe sich Esoterik auch definieren: als Religiosität von Leuten, die aus einem säkularisierten Milieu stammen, aber trotz fehlender oder geringer Bindung an eine Kirche ein vages Bedürfnis nach „Spiritualität“ haben. Es fragt sich nur, woher dieses Bedürfnis kommt.

Dafür müssen wir uns den gesellschaftlichen Kontext ansehen, in dem diese neue Form der Religiosität steht. Denn ob mensch sich den Schöpfer der Welt nun als etwas grantigen älteren Herrn oder als fliegendes Spaghettimonster vorstellt, ist zunächst mal beliebig – nachprüfen lässt sich die Behauptung im einen wie im anderen Falle nicht. Wenn sich jemand für die eine oder die andere Art des Glaubens entscheidet, ist diese Entscheidung in erster Linie sozial bedingt, z.B. dadurch, dass die entsprechende Religion ein hohes Ansehen genießt, die eigenen Eltern dieser anhängen oder dass sie bestimmte individuelle Bedürfnissen bedient. Wäh­len wir ein anderes Beispiel: Wenn ich behaupten würde, Gott wäre mir er­schie­nen und hätte mir befohlen, kleine Kin­der zu töten und aufzufressen, so würde mir wohl jeder(r) entrüstet widersprechen – widerlegen ließe sich die Aussage nicht, aber weil sie anerkannten gesell­schaft­lichen Normen zuwider läuft, würde niemand sie überzeugend finden.

Wir sollten also die Esoterik in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen einordnen, um zu erklären, warum bestimmte Dogmen trotzdem weiterleben, in immer neuen Zusammenhängen zum Vorschein kommen, obwohl sie nicht mehr von einer kirchlichen oder staatlichen Gewalt gestützt werden.

Dabei kommen wir nicht umhin, von Herrschaft zu sprechen. Meiner These nach beruht Herrschaft nicht nur auf einer bestimmten Verteilung materieller Güter (Lebensmittel, Geld, Waffen usw.) beruht, sondern komplementär dazu auf einer entsprechenden „gesellschaftlichen Mythologie“. Herrschaft wird nicht nur durch rohen Zwang durchgesetzt – sie ist auf die Mythologie angewiesen, um sich zu legitimieren, d.h. die Leute dazu zu bringen, die über sie ausgeübte Herrschaft zu akzeptieren. Entgegen einem vulgärmarxistischen Ideologiebegriff wäre diese gesellschaftliche Mythologie also nicht nur ein „Überbauphänomen“, etwas der ökonomischen „Basis“ Nachgeordnetes und aus dieser Ableitbares, sondern als konstituierenden Bestandteil eines Ge­samt­zusammenhangs von Herrschaft – die kapitalistische Ordnung der Dinge stützt die gesellschaftliche Mythologie und wird ihrerseits von dieser gestützt. Als integraler Bestandteil der Gesellschaft schlägt sich diese Mythologie nicht nur in Religion und Esoterik, sondern auch im „Alltagsverstand“ (3) und im wissenschaftlichen Diskurs nieder.

Kritik der Religionskritik

Um diese doch etwas dreiste Behauptung zu stützen, greifen wir noch einmal auf ein (willkürlich gewähltes, aber hoffentlich erhellendes) Beispiel zurück. Denn unhin­terfragte Vorannahmen spuken auch dort herum, wo mensch sich auf größtmöglicher Distanz zum Glauben wähnt, in den di­versen Formen von naturwissenschaftlich fundierter Reli­gionskritik. Eine Or­ga­nisation, die sich dafür stark macht, sind die Brights Deutschland, laut Selbstdarstellung „eine basisdemokratische Bewegung, die für die Gleichberechtigung von Naturalisten eintritt“. Schauen wir uns einen ihrer Texte mal genauer an (4).

Der Artikel trägt den Titel „Gottlos auf der Suche nach Wahrheit“ und enthält durchaus sinnvolle Argumente: Der Verfasser erklärt, dass es Adam und Eva nachweislich nie gegeben hat, er zitiert einige blutrünstige Stellen aus dem Alten und Neuen Testament und geiselt die „homo­phobe, sexistische, barbarische und primitive Unterdrückermoral“ der christlichen und mus­li­mischen Religion – viel­leicht etwas platt, aber nicht falsch. Sein Motto beschreibt er am Ende so: „Nichts glauben. (…) Wenn man lange ge­nug alles in Frage stellt, stehen die Chancen gut, dass man sich irgend­wann Naturalist nennt oder Bright. Ein Bright ist jemand, der nicht an Übernatürliches glaubt, nicht an Gott, den Teufel, nicht an Elfen oder den Weihnachtsmann.“

So weit, so gut – aber welchen Begriff von „Natur“ führt der selbsternannte „Naturalist“ da gegen das Übernatürliche ins Feld? Schauen wir noch mal genauer hin: So beruft sich der Autor auch auf Greg Graffin (Biologie-Professor und Sänger der Punkband Bad Religion) als Zeugen. In positivem Bezug auf einen von diesem verfassten Essay heißt es da unter anderem: „Graffin verurteilt die Leugnung der menschlichen Natur, wie sie sowohl von der Linken, etwa von Gender-Feministinnen und anderen Postmodernisten, als auch von der Rechten, vor allem der religiösen Rechten und von Rassisten, betrieben wird.“

Das ist, kurz gesagt, Nonsens – und eben deshalb aufschlussreich. So leugnen Gender-Feministinnen nicht, dass der Mensch auch ein biologisches Wesen ist, sie bestreiten bloß, dass soziales Verhalten von der Biologie determiniert ist. Nur weil Mann z.B. einen Penis hat, muss er nicht unbedingt jeden verprügeln, der einen komisch anschaut – wenn er sich so verhält, dann eher um einem bestimmten gesellschaftlichen Ideal von „Männlichkeit“ zu entsprechen (z.B. aus Angst, man würde sonst für schwul gehalten). Im Gegenzug berufen sich Rassisten stän­dig auf die „menschliche Natur“ und führen dabei exakt den Kurzschluss von Biologie und sozialem Verhalten vor, den Gender-Feminis­tin­nen kri­ti­sie­ren: So meinen Rassisten, dun­­kel­­häu­tige Men­schen wären sexuell be­son­­ders trieb­haft und könnten gut trommeln, während z.B. Juden von ihrer rassischen Veranlagung dazu getrieben würden, besonders gierig zu sein und ständig Welt­ver­schwö­­run­gen anzuzetteln.

Die ursprüngliche Argumentation Greg Graffins mag komplexer gewesen sein, als unser Religionskritiker sie wie­­dergibt (5). Dass Graffin auch der Meinung ist, die Strophe-Refrain-Form in der Musik hätte sich deshalb durchgesetzt, weil sie „eine bestimmte Funktion in unserer biologischen Natur“ erfülle (6), zeigt jedenfalls, dass auch er offenbar Probleme hat, biologische Evolution und Kulturgeschichte auseinander zu halten. Die Neigung zu soziobiologischen Kurzschlüssen scheint er also mit den Rassisten zu teilen – seine Rassismuskritik dürfte auf den Vorwurf hinauslaufen, Rassisten würden nicht genug von Biologie verstehen.

Es fragt sich, wie weit man mit einem solchen Ansatz bei der Religionskritik kommt: Was sagt es bspw. aus, wenn man bei meditierenden buddhistischen Mönchen Veränderung in den Hirnströmen feststellt? Am Ende landet mensch noch bei der Idee eines „religiösen Gens“, welches der Schöpfer selbst uns vorsorglich eingepflanzt hat (wie clevere Theologen argumentieren könnten) bzw. uns dazu bringt, allen möglichen Unfug zu glauben (wie Rationalisten sagen würden). Im einen wie im anderen Fall stünde die Religionskritik blöd da – sie wäre dann ein ähnlich sinnloses Unterfangen wie z.B. eine Kritik des Verdauungssystems.

Mit einem biologistischen Begriff von „menschlicher Natur“, wie unser Re­ligons­kritiker ihn hier gegen die Religion ins Felde führt, stecken wir schon tief im Sumpf der gesellschaftlichen Mythologie. Es geht hier nicht bloß um eine „selbstverschuldete“, sondern um eine „fremdverschuldete Unmündigkeit“, die gesellschaftlich produziert wird. Auch wissenschaftliche Theoriebildung findet schließ­lich nicht im luftleeren Raum statt – wie bei der Religion lassen sich hier „interessierte Irrtümer“ und unhinterfragte Voraussetzungen finden.

Metaphysik der Macht

Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist ein komplexes Gefüge von Trennungen, von Ein- und Ausschlüssen. Nationalstaaten trennen zwischen Staats­bürger_innen und „Ausländern“. Die Staatbürger_innen werden ihrerseits nach biologischem Geschlecht, Hautfarbe, sexuellen Vorlieben usw. sortiert. Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schließt die Verlierer von bestimmten Erwerbsmöglichkeiten aus. Das Bildungssystem selektiert Menschen je nachdem, ob sie es innerhalb einer bestimmten Zeit schaffen, sich eine vorgegebene Menge an Wissen anzueignen oder eben nicht. Das Eigen­tumsrecht trennt die Erwerbstätigen von den Produktionsmitteln, die warenproduzierende Wirtschaft trennt Menschen von den Gütern, die sie vielleicht brauchen, aber nicht bezahlen können. Staatliche und nichtsstaatliche Herrschaft trennt zwischen denen, die Entscheidungen treffen, und denen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind.

Kein besonders vernünftiges System, sollte man meinen – jedenfalls kein besonders angenehmes. Dieses System von Trennungen ist nicht nur von Menschen produziert und bedarf fortwährenden menschlichen Handelns, um sich zu reproduzieren. Es erzeugt auch fortwährend Konflikte, die für die Gesellschaftsordnung potentiell bedrohlich sind und deshalb kontrolliert werden müssen. Diese Kontrolle findet dabei nur in Ausnahmefällen durch gewaltsame Unterdrückung statt (auch wenn Herrschaft darauf nicht verzichten kann), sondern eben mit Hilfe der gesellschaftlichen Mythologie. So sehr es bei genauerer Betrachtung unübersehbar ist, dass die gesellschaftlichen Trennungslinien auf menschlichem Handeln und sozialer Interaktion beruhen, so heikel ist diese Erkenntnis für diejenigen, die meinen, ein Interesse am Fortbestand dieser Trennungen zu haben. Hier kommen die oben beschriebenen „interessierten Irrtümer“ wieder in´s Spiel – wer Angst vor Veränderung hat, hat eben ein Interesse an einer Weltsicht, in der die Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse ihre Grundlage in einer ewigen „Natur“ oder „göttlichen Vorsehung“ haben.

So mögen militante Nationalisten viel­leicht gerade mit handfester Gewalt daran arbeiten, ein homogenes „Volk“ zu schaffen, indem sie diejenigen vertreiben oder umbringen, die ihrer Meinung nach nicht dazugehören (wie es z.B. in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war) – aber sie werden dabei der festen Überzeugung sein, nur das wiederherzustellen, was „schon immer“ so war. Ein anderes Beispiel: Die Rolle des Mannes als „Familienernährer“ mag ein Produkt des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts sein – dennoch werden sich genug an Geschlechterfragen uninteressierte Historiker finden, die diese gesellschaftliche Arbeitsteilung schon in der frühen Steinzeit wiederzufinden meinen, und genug Soziobiologen, die diese mit der biologischen Ausstattung des „Mannes“ bzw. der „Frau“ erklären.

Die „interessierten Irrtümer“ müssen dabei nicht unbedingt offen ausgesprochen werden. Komplementär dazu gibt es auch eine „interessierte Wahrheitsproduktion“. Ein Wirtschaftswissenschaftler mag vielleicht insgeheim dem liberalen Glauben an die „unsichtbare Hand des Marktes“ anhängen – er kann dennoch durchaus wahre Aussagen über das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft produzieren. Der grundlegende „Irrtum“ muss in der Theorie nicht formuliert werden, er wird aber dennoch insgeheim den Lauf der Theorieproduk­tion beeinflussen. Dabei funktioniert der wissenschaftliche Anspruch auf Objektivität und „Interesselosigkeit“ oft genug als subtile Ver­schleierungstaktik: Wer von sich behauptet, kein Interesse zu haben, will in der Regel, dass alles so bleibt wie es ist.

Da das wissenschaftliche Denken die beobachtbaren Fakten freilich nicht gänzlich ignorieren kann, gerät es dabei auch immer wieder in potentiell produktive Widersprüche: Es stellt sich heraus, dass die Realität sich anders verhält, als sie es der Theorie nach tun sollte – also muss nach einer Theorie gesucht werden, die die neu ins Blickfeld geratenen Fakten besser erklärt.

Dies wäre eine produktive Reaktion auf zum Vorschein kommende Widersprüche. Es gibt freilich auch eine unproduktive Art der Reaktion: die Produktion eines neuen „interessierten Irrtums“ eben.

Und hier kommt wieder die Esoterik in´s Spiel. So ist der Glaube an Verschwörungstheorien völlig folgerichtig, wenn mensch z.B. daran festhält, Eigentum und kapitalistische Konkurrenz als naturgegeben anzusehen, aber gleichzeitig den Fakt, dass dieses Wirtschaftssystem ständig unerfreuliche Folgen nach sich zieht, nicht ignorieren kann. Der Widerspruch zwischen zwei in einer bestimmten Weltsicht nicht vereinbaren Aussagen wird nicht gelöst, indem mensch seine bisherigen Erklärungsmodelle hinterfragt und verbessert – wenn mensch sowohl an Aussage a („Kapitalismus ist gut und normal“) als auch an Aussage b („Irgendwas läuft hier falsch“) festhält, bleibt als Ausweg nur der Sprung in´s Irrationale: Nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern eine im Verborgenen wirkende Macht, eine Verschwörung finsterer Hintermänner.

Aber Verschwörungstheorien sind nur ein Beispiel esoterischen Denkens – und nicht einmal dessen populärste Spielart. Im nächsten Heft soll anhand einiger konkreter Beispiele der Zusammenhang zwischen Esoterik und Gesellschaft, ökonomischem „Unterbau“, gesellschaftlicher Mythologie und esoterischem Denken näher untersucht werden.

(justus)

 

(1) siehe dazu u.a. Colin Goldner, „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“ Alibri Verlag 1999

(2) „para-“, lat. für „halb“. Die Grenzlinie zwischen solchen parareligiösen Phänomenen und „echten“ Religionen ist relativ willkürlich, entscheidend sind dabei Kriterien wie gesellschaftliches Ansehen und Alter einer religiösen Weltanschauung, innere Systematik der jeweiligen „Theologie“ und die organisatorische Festigkeit einer Gruppe.

(3) vgl. dazu z.B. Theo Votsos, „Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci“, Argument Verlag 2001, S. 122-130

(4) Trust Magazin # 125, August/September 2007. Weitere Infos findet ihr unter www.brights-deutschland.de

(5) Graffins Essay „A Punk Manifesto“ könnt ihr unter punkhistory0.tripod/punk/id2.html nachlesen

(6) Testcard # 12, 2003, S. 107

„Anders ist so unpolitisch“

Im Gespräch über Aktivismus, Widerstand und Selbstorganisation

Hanna Poddig ist nicht nur seit Jahren in der antimilitaristischen und Umweltbewegung aktiv. Wegen ihrem Buches „Radikal mutig: Meine Anleitung zum Anderssein“ und dem dadurch geweckten medialen Interesse wird sie in Zeitungsinterviews, Radiosendungen und Talkshows geradezu als neues Aushängeschild der Aktivist_innenszene präsentiert. Davon fühlte sich wiederum die Leitung des Centraltheaters animiert, sie nach Leipzig einzuladen. An einem sonnigen Samstag im April trafen wir uns mit den „Vollzeit-Aktivistinnen“ Hanna und Franzi am weißen Haus des Centraltheaters, wo eine Woche lang Workshops und Aktionen zu Themen wie Atomkraft oder staatliche Repression ihren Ausgang nehmen sollen. Wir warten gemütlich, bis die beiden von oben aus den Bäumen, wo sie gerade ein Anti-Atom-Transparent befestigt haben, zu uns herabsteigen und Rede und Antwort stehen.

FA!: Wie seid Ihr zum Centraltheater gekommen und was erhofft Ihr Euch davon?

Hanna: Ich bin vom Centraltheater eingeladen worden, weil die auf mich aufmerksam geworden sind durch die Medien. Die haben mich angesprochen, ob ich nicht Lust hab zur Buchmesse eine Veranstaltung zu machen und hier aus meinem Buch zu lesen. Und dann haben sie gesagt, sie hätten da so eine Idee und da war mal Öff Öff da und ob ich nicht vielleicht auch Lust hätte. Ich seh das immer erstmal als Chance – solche Anfragen sind bei mir gar nicht verknüpft mit einer großen Hoffnung, ich glaube nicht, daß hier die Weltrevolution ausbrechen wird, auch wenn es jetzt nicht schlimm wäre. Ich sehe das als Chance an Leute ranzukommen, an die ich sonst nicht rankomme, mit meinen politischen Inhalten ein bißchen aus dem politischen Ghetto rauszukommen und nicht nur im eigenen Saft zu schmoren.

FA!: Klingt überzeugend. Wie seht Ihr Euch in der Reihe mit Öff Öff, der ja vor Euch Gast des Centraltheaters war?

Hanna: Was Öff Öff macht, finde ich grundsätzlich nicht falsch. Aber es reicht in meinen Augen nicht. Also ich glaube, daß er schon vorlebt, daß viele Dinge gar nicht so zwanghaft sind, wie viele Leute glauben. Daß ganz viel möglich ist, von dem viele Leute glauben, das geht gar nicht. Dafür schätze ich ihn, auch für Ideenreichtum und für so Recyclinggedanken und Selbstorganisation, da ist er schon ganz schön gut. Aber ich glaube, daß manche Dinge nicht beseitigt werden dadurch, daß ich sie nicht mache. Also dadurch, daß ich keine Gentechnik anpflanze, wächst sie trotzdem. Und dann muss ich sie kaputtmachen. Und an der Stelle glaube ich, daß dieses Nischendenken, sich eine eigene heile Welt aufzubauen, eben nicht reicht und mehr passieren muss. Das ist, glaube ich, was mich sehr zentral von Öff Öff unterscheidet. Ich hatte mal eine längere Email-Debatte mit ihm über das Thema „Hab ich einen Ausweis oder nicht“. Öff Öff legt ja viel Wert darauf  keinen Ausweis zu haben, weil er damit  das Konzept von Nation und Staat nicht legitimiert. Aber wenn ich keinen Ausweis hätte, wären politische Aktionen immer fünfmal so anstrengend, weil ich jedes Mal mitgenommen würde. Wer keine Aktionen macht, wird natürlich auch nicht mitgenommen, deswegen ist es für Öff Öff nicht so wild, keinen Ausweis zu haben. Mir ist es das nicht wert, ich mach’ lieber Genfelder kaputt und stopp’ Atomtransporte. Ich find’ das die cooleren Aktionen.

FA!: Was ist denn Eure Perspektive von gesellschaftlicher Veränderung? Wie stellt Ihr Euch gesellschaftliche Veränderung vor und wie denkt Ihr, daß Euer Handeln dazu beiträgt?

Franzi: Ich hab natürlich so ‘ne Utopie im Kopf, wie die Welt aussehen könnte. Ich möchte z.B. keine Hierarchien. Ich möchte, daß alle Leute möglichst Zugriff auf alle Ressourcen haben und es trotzdem möglich ist, daß Leute an einzelnen, persönlichen Dingen hängen können. Die Veränderung sollte schon irgendwie in die Richtung gehen. Mir reicht es z.B. nicht zu sagen ich bin gegen Atomkraft oder ich bin gegen Gentechnik. Sondern das sind für mich alles Symptome dieser ziemlich krassen Welt, in der wir leben. Veränderung beginnt für mich in den Köpfen von Leuten. Es kann nur passieren, indem ich praktisch Dinge verhindere, weil’s einfach nicht anders geht. Aber meiner Ansicht nach muss sich erstmal etwas in den Köpfen verändern, auch in der Hinsicht, daß ich versuche das in meinem Alltag umzusetzen und dafür zu kämpfen.

Hanna: Ich würde sagen, der wichtige Punkt ist Organisierung. Also nicht nur Inhalte vermitteln – das ist sicherlich auch wichtig, aber bei einigen Themen gar nicht notwendig. Z.B. Gentechnik: Da sind schon 80% der Leute dagegen und trotzdem wächst es auf den Feldern. Das heißt, es geht gar nicht um Überzeugung, sondern darum die Leute zu aktivieren, auf die Felder zu gehen und den Scheiß da weg zu machen. Das heißt, ich will schon erreichen, daß Menschen sich zusammentun und gemeinsam überlegen, was denn ihre Art und Weise sein könnte, dagegen aktiv zu werden. Ich sage jetzt nicht, daß alle Leute Genfelder plattmachen müssen. Sondern mir wär’s wichtig, daß Leute sich im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten und Kapazitäten organisieren, sich selber wieder was zutrauen.

FA!: Du bist ja nun „Vollzeit-Aktivistin“ – zumindest wirst Du so verkauft oder verkaufst Dich vielleicht auch selber so. Denkst Du, daß das Leben, das Du führst, ein Modell für andere sein könnte?

Hanna: Jein. Solange es noch eine Gesellschaft gibt, die ganz viel Scheiß abwirft, der als Müll sonst vernichtet wird oder vergammelt, den ich noch brauchen kann, versuche ich natürlich möglichst von diesen Dingen zu leben und keine neue Nachfrage zu schaffen. Das ist natürlich keine Utopie für alle Menschen. Es können nicht alle Menschen vom Müll leben, den würde dann ja keiner mehr produzieren. Trotzdem glaube ich, daß viele der Ansätze, die ich vorzuleben versuche, schon ein Modell für mehr Menschen sein können. Aber ich will nichts aufzwingen. Das heißt, es gibt schon Sachen, die ich so gar nicht will – ich würde jetzt nicht sagen, ich überlasse es meinem Nachbarn, ob er ein Atomkraftwerk betreibt oder nicht, da ist schon eine Grenze. Aber im Grunde will ich Leuten nicht vorschreiben, wie sie leben und worauf sie Lust haben sollen, oder was sie machen sollen …

Franzi: Ich würde auch unterscheiden zwischen Modellen, die vielleicht für hier und jetzt irgendwie passend sind und Modellen, die ich mir in der Utopie wünsche. Das Containern zum Beispiel, das passt, solang’s diese Welt gibt. Aber wenn’s diese Welt so nicht gäbe, dann müsste für alle, also auch für die jetzigen Vollzeitaktivist_innen, eine wie auch immer geartete Selbstversorgung oder Gemeinschaftsversorgung her.

FA!: Wie, denkt Ihr, kann die gesellschaftliche Veränderung am besten vonstatten gehen? Langsam, Stück für Stück, weil bei immer mehr Menschen das Bewusstsein geschaffen wird und die partizipieren an der Selbstorganisation? Oder auf den großen Knall hinaus?

Hanna: Ich glaube nicht an diese Logik von, ich sag mal, traditionellen Marxisten, die sagen mensch muss nur genug Marx-Lesekreise veranstalten und genug Leute müssen das Wissen haben,  dann kommt die Revolution von selber. Und wenn alle Leute das Kapital gelesen und verstanden haben und wir sind die einzigen die wissen, wie man’s zu deuten hat, dann macht es plötzlich ‘knall’ und die Welt ist ‘ne bessere. Ich glaube Menschen müssen Umgang miteinander lernen. Die Verhältnisse sind vom Menschen gemacht. Das heißt, es muss sich schon was am Verhalten ändern und das müssen Menschen auch üben. Das geht nicht von jetzt auf sofort, denn natürlich haben die Leute auch ganz viel Scheiße verinnerlicht. Trotzdem will ich auch nicht so mißverstanden werden, daß es heißt: Ach, die findet es auch gar nicht so schlecht, den Weg durch die Institutionen zu gehen. Das Gegenmodell heißt ja nicht Parteiarbeit. Sondern das Gegenmodell ist sowas wie radikale Transformation. Der Begriff ist ein bißchen sehr künstlich, aber das beschreibt noch am ehesten ein Hinarbeiten auf eine bessere Welt, ohne daß man mit den Einzelschritten den bestehenden Scheiß stabilisiert. Trotzdem kann ich mich natürlich über einzelne Sachen freuen und auch irgendwelche Detailkämpfe führen.

FA!: Hanna, Du hast da dieses Buch geschrieben und bist dadurch relativ medial präsent. Wie kamst Du dazu, dieses Buch zu schreiben und was war die Resonanz der Presse bzw. was für Erfahrungen hast Du damit gemacht?

Hanna: Also es war nicht meine Idee, das Buch zu schreiben, sondern die Idee des Verlags, der auf mich zugekommen ist und mich gefragt hat. So daß ich gedacht hab’, vielleicht kann das eine Chance sein, meine politischen Inhalte Leuten näherzubringen, die ich sonst nicht erreichen würde, weil das Medium Buch irgendwie eine andere Glaubwürdigkeit hat als ich als Person. Ich glaube, der Erfolg liegt zum einen an der sehr professionellen Marketingabteilung im Verlag und zum anderen daran, daß es schlicht Produkteigenschaften an mir gibt, die vermarktbar sind. Also klein, blond, weiblich und mehr oder weniger rhetorisch vorzeigbar. Das ist auch der mediale Hunger nach Protest, Exoten oder dem Vorführen von Menschen. Von daher weiß ich insgesamt nicht, ob ich sagen würde, es ist ein großer Erfolg. Nach einer Talkshow hat sich mal jemand bei mir auf ein Praktikum beworben und da hatte ich zwei Wochen lang einen Praktikanten. Das war für den  eine ganz neue Welt und auch ganz spannend, was er gelernt hat. Und das ist ein Erfolg, finde ich, weil dort jemand was neues gesehen hat, was er vorher nicht kannte, und das nicht nur einen Abend konsumiert, sondern wirklich zwei Wochen gelebt hat.

FA!: Glaubst Du, dadurch eine Vorbildfunktion zu haben und andere auch zum Mitmachen zu animieren?

Hanna: Ich bin schon eingeladen worden zu Veranstaltungen aufgrund der Medienberichterstattung. Ich hab dann immer gesagt, ich würde viel lieber Aktionstrainings machen als Lesungen. Ich hab schon an einer besetzten Uni Aktionstraining gemacht und die Leute haben danach Aktionen gemacht. Das sind schon Sachen, die mir Hoffnung machen, denn an diese Studis wäre ich sonst nicht rangekommen. Die haben mich wirklich im Fernsehen gesehen und gesagt: Ey, die wollen wir hier haben!

FA!: Es ist doch aber schon problematisch, wenn man als Superaktivistin so auf einen Sockel gestellt wird. Dadurch, daß man medial so präsent ist und zu einer Repräsentationsfigur wird, die andere Leute repräsentiert, auch wenn man eigentlich nur für sich selbst sprechen will.

Hanna:
Ich seh’ das Problem auch schon. Ich versuche auch bei Anfragen das weiterzuleiten an andere Leute. Das liegt schon genau daran, daß ich keinen Bock hab, die eine Stellvertreterin des neuen, hippen, jungen Aktivismus zu sein. Ich seh auch, daß ich da gar nicht so viel Einfluß drauf hab, was die aus mir machen. Im Nachhinein würde ich auch dem Buchtitel so nicht mehr zustimmen.  „Anders“ ist als Begriff einfach so inhaltsleer. War sowieso nicht meine Idee, sondern vom Verlag. „Anders“ ist zu unpolitisch, „anders“ ist grade alles.

FA!: Wie lange seid Ihr schon politisch aktiv? Seid Ihr jung politisiert worden?

Franzi: Bei mir überhaupt nicht. Ich war schon immer so’n bißchen Öko, aber Handlungen sind daraus nicht so richtig erfolgt. Irgendwann nach meiner Lehre hab ich immer mal bei einer attac-Gruppe vorbeigeschaut, bin darüber dann auf G8-Gipfel gekommen, Klimacamp-Orga, hab ‘ne eigene Rebel Clown Army gegründet, mit Gendreck weg! oder x-tausend zu tun gekriegt. Auf dem Weg zu einer Anti-Gentechnik-Kampagne in Portugal bin ich dann aber im Kelsterbacher Wald hängengeblieben. Und damit war ich dann auch schon in dieser Szene hier.

Hanna: Ich bin da auch reingewachsen. Am Anfang war ich mal auf ‘ner Demo und dann war ich häufiger auf ‘ner Demo. Nach dem Abi hab ich ein freiwilliges ökologisches Jahr gemacht bei Robin Wood und bin da hängengeblieben. Dann kannte ich da tausend Leute und hab’ da irgendwelche Jobangebote gekriegt. Dann habe ich für Gendreck weg! was gemacht, zum G8-Gipfel, und bin so irgendwie von einer Kampagne zur nächsten gewandert, bis ich dann irgendwann fand: Ich brauch gar keine feste Kampagne, für die ich arbeite. Ich bin jetzt einfach meine eigene Chefin.

FA!: Freischaffende Aktive …

Hanna:
Ja, das war für mich tatsächlich ein wichtiger Schritt, mich zu lösen von Verbänden, Vereinen und festen Kampagnen, zu sagen: Ich kann das alleine, ich hab das Know-How und ich find’s sinnvoller alleine. Natürlich nicht ganz allein, ich mach’ meine Aktionen ja nicht ohne andere Menschen… Aber eben ganz klassisch mit freien Menschen in freien Kooperationen. Was mir daran so wichtig ist ist, daß mich nicht irgendein Label mit irgendwem verbindet, sondern jedesmal auf’s neue irgendeine Absprache über irgendwas, worauf ich halt Lust hab’ oder sinnvoll und wertvoll finde.

FA!: In der „linken Szene“ ist Mackertum mittlerweile ja (zurecht) ein Thema, wobei mensch da noch mal zwischen  Bewegungsmackern und intellektuellen Mackern unterscheiden könnte. Gibt es bei den Aktionisten denn Aktionistenmacker?

Hanna: Ja, definitiv. Es gibt Leute, die nach Kletteraktionen immer wieder betonen wie cool die Kletteraktion war und dabei nicht erwähnen, daß es auch ein Bodenteam gab, ohne das sie nicht hätten klettern können. Da gibt es schon immer wieder. Leute, die nicht ausreichend häufig sagen, daß sie nicht alleine agieren. Immer wieder prolliges Heldengetue, daß das alles gar nicht so schlimm ist, daß die sich mal nicht so haben sollen. Ein unsensibler Umgang mit Ängsten, Befürchtungen, sowas.

Franzi: … die Erfahrenheit raushängen lassen und andere nicht daran ranführen.

FA!: Hat das was mit dem Geschlecht bzw. der Sozialisierung nach dem Geschlecht zu tun?

Franzi: Mir fallen meist männlich sozialisierte Personen ein, wo mir das auffällt. Ich kenne auch ein paar Frauen, die ich  als sehr mackerig empfinde. Wobei das eher was anderes ist als das gerade beschriebene… Es muss nicht unbedingt was mit dem Geschlecht zu tun haben, aber ich sehe es häufiger an Männern.
Hanna: Wobei es vielleicht auch wirklich was mit dem Sehen zu tun hat. Also daß es weniger auffällt bei Frauen, weil wir bei Männern eher drauf geeicht sind, kritisch drauf zu gucken. Uns eher mal zu freuen, wenn es auch mal ‘ne dominantere Frau gibt, die sich durchsetzt. Weil ist ja cool, daß sie das macht. Daß das in Szenekreisen viel mehr gedeckt wird, als daß es kritisch gesehen wird, weil es halt mit bestehender Normalität bricht. Was ich ein stückweit auch richtig finde. Eine Unterdrückung erstmal über eine Überprivilegierung eine zeitlang zu bekämpfen, finde ich in Ordnung. Sowas wie Frauenredequote und solche Sachen finde ich durchaus legitime Mittel.

Franzi: Wobei ich es spannender finde z.B. eine Redequote für Leute einzuführen, die wenig reden. Mir fällt’s schon auch an Frauen auf, wenn die so krass dominant sind …

An dieser Stelle wird das Gespräch langsam ausgeblendet. justus & shy im Außendienst geben zurück ins Studio.