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Im Unterholz der Moderne (2)

Ein Beitrag zur Kritik des esoterischen Denkens

Religion und Herrschaft waren historisch schon immer eng verbunden. Die ältesten Staatswesen waren Theokratien. Der Herrscher war zugleich oberster Priester, ein Mittler zwischen den Welten der Menschen und der Götter, oft genug galt er selbst als (halb-)göttliches Wesen. Seine Aufgabe war es, die stets vom Chaos bedrohte kosmische Ordnung im Gleichgewicht zu halten. Die soziale Ordnung wurde also als mikrokosmische Widerspiegelung einer makrokosmischen göttlichen Ordnung gesehen, aus der sich die Legitimation der Herrschaft ableitet. Die Herrschaft erschien gleichsam als im Ursprung der Welt, der ewigen Ordnung der Dinge verankert (1). Das altgriechische Wort „arche“ etwa bedeutet nicht umsonst sowohl „Ursprung“, „Prinzip/Regel“ als auch „Herrschaft“. Dieses etymologische Beispiel ist auch ein Indiz dafür, wie tiefgreifend die eben skizzierte Kosmologie Weltwahrnehmung und -interpretation strukturiert: Herrschaft reproduziert sich, indem sie von den Beherrschten als in der Natur der Dinge liegend akzeptiert wird.

Mit dem Übergang vom Feudalismus zum mo­dernen Kapitalismus und zur parla­men­tarisch-demokratischen Staatsform hat die (christliche) Religion zwar viel von ihrer früheren Bedeutung eingebüßt. Mit der bürgerlichen Revolution ist die Herrschaft aber bekanntlich nicht verschwunden. Mit den inneren Widersprüchen und Konflikten, die jedes Herrschaftssystem notwendig produziert, reproduziert sich auch die Mythologie, bis heute wirkt sie (in säkularisierter Form) fort. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass mittlerweile die Natur die Stelle Gottes als höchste Berufungsinstanz eingenommen hat.

Mythologischer Kreisverkehr

Das heißt nicht, dass man künftig auf den Begriff der Natur verzichten müsste. Die Frage ist eher, von welcher Vorstellung von Natur mitunter die Rede ist. Die Feststellung, dass der Mensch einen Körper hat, also auch ein biologisches Wesen ist und darum z.B. essen muss, um nicht tot umzufallen, ist an sich unproblematisch. Nur ist das in den meisten Fällen eben nicht gemeint, wenn von der „Natur des Menschen“ geredet wird. Vielmehr versteckt sich dahinter oft die Idee einer höheren Macht, die unser soziales Handeln bestimmt. Selbst der Vernunftsbegriff lässt sich als Teil einer Mythologie verwenden. „Vernunft“ bezeichnet in diesem Rahmen dann die Erkenntnis der vermeintlichen göttlichen oder natürlichen Gesetze und die Unterordnung unter dieselben – der Begriff markiert dann genau die Stelle, an der der Denkprozess abgebrochen wurde, eine nicht mehr hinterfragbare Wahrheit behauptet wird. Dagegen gilt es, an den inneren Widersprüchen anzusetzen, die so verdeckt werden sollen, am vernünftigen Denken festzuhalten und die angeblichen Selbstverständlichkeiten kritisch zu hinterfragen.

Denn eben diese Setzung einer starren Norm ist ein wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Mythologie. Das grundlegende Muster ist simpel: Vom zu erklärenden Phänomen wird eine jenseitige „Ursache“ abgeleitet, und von dem so konstruierten Fixpunkt her dann wie­derum das diesseitige Phänomen interpretiert. Die Welt ist eben so, weil Gott sie so eingerichtet hat; Herrschaft gibt es, weil die Menschen „von Natur aus“ nach Macht streben (und weil bestimmte Menschen von Natur aus minderwertig sind und einfach beherrscht werden müssen). Im Kern lassen sich alle Formen mythologischen Denkens also auf einen simplen Zirkelschluss reduzieren. Statt z.B. auf die „menschliche Natur“ zu verweisen, könnte man auch einfach sagen: „Menschen sind halt so“. In der Realität verstecken sich die Zirkelschlüsse allerdings oft im Kern ausgeklügelter theologischer, philosophischer und sogar wissenschaftlicher Theoriegebäude.

Dabei sind die so konstruierten „ewigen Wahrheiten“ selbst geschichtlich geformt. Das mythologische Weltbild erscheint nur deshalb plausibel, weil der jenseitige Fixpunkt (der göttliche Wille oder die Ordnung der Natur) jeweils eben so konstruiert wird, dass er als „Ursache“ zu den zur Debatte stehenden diesseitigen „Wirkungen“ passt. Da sich aber die Phänomene, die so erklärt und gerechtfertigt werden sollen, historisch verändern, müssen sich auch die „ewigen Wahrheiten“ entsprechend anpassen. Wenn z.B. die Existenz von Dinosauriern eine allgemein anerkannte Tatsache ist, wirkt die naive biblische Schöpfungsgeschichte eben nur noch bedingt überzeugend, der Schöpfungsglauben muss andere Formen annehmen, um die christliche Lehre mit den weltlichen Fakten in Einklang zu bringen.

Obwohl die Mythologien also fortwährend der materiellen Realität angepasst werden müssen, sind sie doch mehr als bloße ideologische „Anhängsel“ derselben. Ideologie und materieller „Unterbau“ stützen sich vielmehr in einem komplexen Rückkopplungsverhältnis gegenseitig. So haben rassistische und sexistische Denkmuster einen großen Anteil daran, den Zugang zu Ressourcen und Machtpositionen zu reglementieren, die Diskriminierung erzeugt eine materielle Realität, die wiederum der Ideologie scheinbare Plausibilität verleiht. Aus dieser wechselseitigen Entsprechung von Ideologie und materieller Realität lässt sich aber auch ein Erkenntnisgewinn ziehen: Eine Analyse der heute vorherrschenden Formen der Mythologie erlaubt auch Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche. Als Anschauungsobjekt soll uns hier die heutige Esoterik dienen.

Archetypischer Nonsens

Dabei erscheint es ratsam, einige Eigenheiten des esoterischen Denkens anhand eines Beispiels zu verdeutlichen. Beobachten wir den Zirkelschluss also einmal „in freier Wildbahn“, in der Archetypenlehre des Freud-Schülers und Tiefenpsycholo­gen Carl Gustav Jung. Jung bietet sich nicht nur deshalb an, weil er ein wichtiger Vordenker und „wissenschaftlicher Gewährsmann“ der heutigen Esoterikszene ist, sondern auch weil er immer noch eine gewisse Reputation als Wissenschaftler hat. Seine Mittlerstellung zwischen Wissenschaft und Esoterik hat auch den Vorteil, dass er im Gegensatz zu anderen Esoterikern nicht nur Behauptungen aufstellt, sondern auch versucht, diese sachlich zu begründen. Es ist aufschlussreich, in welche Widersprüche er sich dabei verwickelt.

Jung will den religiösen Vorstellungen mit Hilfe der Psychologie eine empirische Basis verschaffen und sie zugleich rechtfertigen, indem er sie in der Natur des Menschen, in einem mysteriösen „kollektiven Unterbewussten“ verankert. Basis der Religion sind Jung zufolge die Archetypen, „geistige Formen, deren Vorhan­densein nicht durch persönliche Erfahrung erklärt werden kann und die urtümliche, angeborene und ererbte Formen des menschlichen Geistes darstellen“ (2). Diese symbolischen Formen“ treten u.a. spontan in Träumen auf. Jung verlegt also das „Göttliche“ in die Tiefen der menschlichen Psyche. Damit liefert er u.a. die theo­retische Grundlage für die Vermischung unterschiedlichster religiöser Traditionen, einen Synkretismus, der für die heutige Esoterik typisch ist. Wie die meisten Esoteriker_innen glaubt Jung, eine ewige Wahrheit entdeckt zu haben, die bruchstückhaft in allen Religionen zu finden ist. Das Universum wird als Entäußerung eines göttlichen Geistes interpretiert. Das individuelle Bewusstsein ist ein Teil dieses „Geistes“. Eine reichlich konservative Weltsicht: Jung sieht den Menschen in eine ewige Ordnung der Welt eingebettet, die sein Handeln und Denken bestimmt.

Wenn der „Geist“ im Mittelpunkt der Welt steht, ist es nur logisch, alle Erscheinungen der Welt als bloße Zeichen zu betrachten, die auf diesen „ursprünglichen“ Geist zurückverweisen – als Archetypen eben. Der Wissenschaftler Jung verfällt einem vorwissenschaftlichen Denken, er konstruiert einen symbolischen Kosmos, der sich nach dem Muster der Analogie strukturiert. In dem Vortrag „Das Irrationale gestern und heute“ (3) charakterisiert Umberto Eco die Logik dieses Weltbildes so: „Eine Pflanze wird nicht anhand ihrer morphologischen und funktionalen Eigentümlichkeiten definiert, sondern anhand ihrer Ähnlichkeit (…) mit einem anderen Teil des Kosmos. Ähnelt sie vage einem Teil des menschlichen Körpers, so hat sie Sinn, weil sie auf den Körper verweist. Aber der betreffende Teil des Körpers hat Sinn, weil er auf einen Stern verweist, und dieser hat Sinn, weil er auf eine Tonleiter verweist, und diese wie­de­rum, weil sie auf eine Hierarchie von Engeln verweist, usw. ad infinitum.“

Während Jung in diesen endlosen Kreuz- und Querverweisen eine verborgene Wahrheit zu finden meint, benennt Eco die Konsequenz mit dankenswerter Klarheit: „Jedesmal, wenn man glaubt, ein Geheimnis aufgedeckt zu haben, ist es ein solches nur, wenn es auf ein anderes Geheimnis verweist, und das immer weiter bis zu einem letzten Geheimnis. (…) Das letzte Geheimnis (…) ist, dass alles Geheimnis ist.“ Ein solches Denken „verwandelt die ganze Bühne der Welt zum Sprachphänomen, und zugleich entzieht es der Sprache jede kommunikative Macht.“ Die ewige Wahrheit ist ziemlich nichtssagend, die Querverweise führen nirgends hin.

Jung reduziert die äußere materielle Realität nicht nur zum Hirngespinst: Um die grundlegende Behauptung seiner Theorie plausibel zu machen, muss er die Außenwelt komplett ausblenden. Um behaupten zu können, dass die archetypischen Bilder „nicht durch persönliche Erfahrung erklärt werden“ können, also angeboren sein müssen, muss Jung die Existenz der Gesellschaft ebenso ignorieren wie den Fakt, dass Menschen mitei­nander kommunizieren.

Die viel näherliegende Möglichkeit, dass religiöse Vorstellungen (und Ideen über­haupt) nicht genetisch vererbt, sondern kulturell tradiert werden, will Jung nicht sehen. Kritiker_innen hält er entgegen: „Sie versäumen (…) zu berücksichtigen, dass, wenn die Archetypen (…) vom Bewusstsein erworbene Vorstellungen wären, man sie selbstverständlich begreifen (…) würde, wenn sie in unserem Bewusstsein auftauchen. Ich kann mich sehr wohl aller jener erinnern, die mich, durch ihre eigenen Träume (…) befremdet, zu Rate zogen: Sie tappten hinsichtlich ihrer Bedeutung völlig im Dunkeln“, weil „die Träume Bilder enthielten, die auf nichts ihnen Erinnerliches zurückgeführt werden konnten.“ Kaum zu glauben. Schließ­lich wimmelt es in der schnöden Außenwelt geradezu von Archetypen. Ja, wie Jung selbst ein paar Seiten weiter erklärt, sind diese geradezu „allgegenwärtig“. Das Bild einer Schlange oder eines Baumes kann ebenso einen „Archetyp“ darstellen wie eine Mutter mit Kind – es ist sicher kein Wunder, dass solche Symbole in allen Kulturen (und ab und an auch in Träumen) auftauchen.

Noch absurder wird es, wenn Jung mit diesem theoretischen Instrumentarium politische Zeiterscheinungen angeht. So waren seiner Meinung nach nicht etwa die Nazis für das 3. Reich verantwortlich, sondern vielmehr ein Archetyp: der germanische Gott Wotan. Welche Motive diesen dabei trieben, bleibt leider unklar. Aber das kommt dabei raus, wenn mensch die Realität im Lichte „ewiger Wahrheiten“ interpretiert. Von einer wirklichen Analyse z.B. der Bedingungen, unter denen nationalistische oder antisemitische Ideologien entstehen und sich ausbreiten, ist man damit weit entfernt. Dass Jung selbst gelegentlich zu rassistischen und antisemitischen Ausfällen neigte, ist an­­ge­sichts der seiner The­orie zugrundeliegenden biologis­tischen Kurzschlüsse nicht verwunderlich (4).

Esoterische Nabelschau

Trotzdem hat Jungs Denken in der heutigen Esoterik Schule gemacht. Schauen wir uns die dabei wirkenden Faktoren mal etwas genauer an, die Widersprüche und Konflikte, auf die das esoterische Denken eine Antwort liefern soll. Denn trotz ihrer Berufung auf alte Traditionen ist die Esoterik ein sehr modernes Phänomen – erst unter den Bedingungen einer weitgehenden Säkularisierung, der Auflösung traditioneller Milieus und einer damit einhergehenden Pluralisierung der Religiosität wird die Idee einer in allen Religionen verborgenen Wahrheit überhaupt denkbar. Dass die Esoterik ein spezifisch modernes Phänomen ist, ist aber noch zu ungenau. Präziser gesagt ist die Esoterik die Religiosität der postfordistischen Marktwirtschaft, sie hat ihre besondere Form erst nach dem 2. Weltkrieg annehmen können.

Auch wenn sie ihre weltanschaulichen Vorläufer im Okkultismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat, so beruht sie doch auf einer viel breiteren so­zia­len Basis als dieser, der weitgehend eine Sache des gehobenen Bürgertums und des Adels war. (Die Angehörigen anderer Schichten waren damals viel zu sehr da­mit beschäftigt, ihr Auskommen zu sichern, um sich diesen Luxus der Kom­mu­­­­nikation mit „höheren Mächten“ leisten zu können.) Erst die sozialstaatlich gestützte Ausweitung des Kon­sum­sektors in der fordistischen Wirtschaft der Nachkriegsjahre, die dadurch wachsende Rolle der Freizeit als Ort der Identitätsfindung und die damit einhergehende wachsende Bedeutung postmaterialistischer“ Einstellungen schuf die Bedingungen für eine weitere Ausbreitung des esoterischen Den­kens. Die­se Veränderung ihrer sozialen Basis hatte auch Aus­wir­kungen auf die theoretische und praktische Ausprägung der heutigen Esoterik.

Was die Esoterik von älteren Formen der Religiosität unterscheidet, ist die Bedeutung, die sie dem einzelnen Individuum und dem „Selbst“ zuweist. Galt im Christentum noch das Credo „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“, war dort also die Mitgliedschaft im Verein der Gläubigen entscheidend, ist die Suche nach dem Seelenheil heute zur Privatsache geworden. Die Gruppenzugehörigkeit verliert an Bedeutung, die Religiosität wird zunehmend „Ich-zentriert“. Damit entsteht eine „patchwork-Religion“, die je nach Belieben zusammengeschustert wird.

Darin teilt sich keine ewige Wahrheit mit, sondern eher die subjektive Befindlichkeit des modernen Individuums, des den Zufällen des Marktes ausgesetzten Konkur­renz­subjekts. Die Tendenz zur Individualisierung war dem Prozess der kapitalistischen Modernisierung von Anfang an zu eigen. Mehr noch ist das „Individuum“ geradezu eine Erfindung der Moderne. Als seine erste theoretische Darstellung lässt sich Descartes´ reines Vernunftssubjekt sehen, das nach dem Motto „Ich denke, also bin ich“ nur die eigene Existenz zweifelsfrei gelten lässt. Die Leibniz´sche „Monade“ gehört ebenso in diese philosophische Traditionslinie wie Adam Smiths Vorstellung einer Gesellschaft von freien Marktsubjekten, die in Konkurrenz miteinander und in der Verfolgung ihres egoistischen Eigeninteresses bestmöglich das Allgemeinwohl fördern. Marx und Engels haben bei Gelegenheit sehr richtig auf den illusorischen Charakter der liberalen Theorie hingewiesen: „Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner (…) Vorstellung (…) zum Atom aufblähen, d.h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnislosen (…) Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung“, gerade die Loslösung des Individuums aus der traditionellen Großfamilie, die Befreiung aus der Leibeigenschaft und der feudalen Ständeordnung schafft die Bedingungen für den Siegeszug des Kapitalismus, der das Individuum nun dem unpersönlichen Zwang des Marktes unterwirft (5).

Möge die Macht mit euch sein

Die Angebote der Esoterik entsprechen perfekt dem Bedürfnis, trotz aller aus dieser Unterwerfung unter die Marktgesetze fol­­gender Unsicherheiten an der Illusion fest­­zuhalten, man hätte alles unter Kontrolle. Dass diese Angebote auf eine entsprechende Nachfrage treffen, ist nicht zu­letzt eine Folge des vorläufigen Schei­terns des Versuches, durch solidarisches Handeln reale Veränderungen zu erreichen, ins­besondere also der gescheiterten Revolte von 1968. Ebenso fällt der große Esoterik-Boom, der Ende der 70er Jahre einsetzte, wohl nicht ganz zufällig zeitlich mit dem Übergang zum Postfordismus zusammen. Mit dem damals einsetzenden Nie­der­gang der Schwerindustrie (dank der billigeren Konkurrenz aus Fernost) verschwindet auch der industrielle „Massenarbeiter“. Die Dynamik des Marktes untergräbt auch die Fundamente, auf die sie sich ursprünglich stützte. Gegenüber der Schwerindustrie gewinnen andere Bereiche, Mikroelektronik und Dienstleistungen an Bedeutung. Das hat auch Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. So verliert die bürgerliche Kleinfamilie als normatives Modell zunehmend an Bedeutung. Aus der wachsenden Pluralisierung und Segmentierung des Arbeitsmarktes und der privaten Lebenswelten folgt ein Verlust tradierter Orientierungen, den damit stetig anwachsenden Entschei­dungs­möglichkeiten und -zwängen entspricht ein ebensolches Wachstum realer und vermeintlicher Lebensrisiken.

Die Esoterik ist ein Mittel, diese Risiken vermeintlich handhabbar zu machen, indem der realen Ohnmacht eine imaginäre Allmacht entgegengestellt wird. Das entsprechende Denkmuster lässt sich etwa so zusammenfassen: Die menschliche Seele ist Teil einer geistigen „kosmischen Energie“. Da er so einen direkten Draht zum „Göttlichen“ hat, kann der Mensch dessen Wesen, die Regeln dieser ewigen Ordnung des Kosmos direkt erfassen – nicht mittels des Verstandes, sondern durch intuitive unmittelbare Erkenntnis. Indem er sich dieser Ordnung unterwirft, wird er selbst der göttlichen Macht teilhaftig, die Vereinzelung ist aufgehoben, die Kontrolle über das eigene Schicksal wiederhergestellt.

Diese Denkfigur lässt sich in unzähligen Vari­anten wiederfinden. Während die Sata­nist_innen der Church Of Satan in sozialdarwinistischer Manier die Regeln der kapitalistischen Ökonomie verinnerlicht haben und sich als auserwählte Elite im „Kampf aller gegen alle“ imaginieren, leugnen andere schlicht die äußere Realität. Eine populäre Variante dieser Strategie ist das Positive Denken, wie es von Dale Carnegie und ähnlichen Au­tor_in­nen propagiert wird. Es geht dabei nicht um simplen Optimismus. Auch hier steht im Hin­tergrund die Idee einer jenseitigen Macht, die durch die Kraft der Ge­­danken beeinflusst wird: „Alles wird gut, wenn du nur fest genug dran glaubst.“ Ora­keltechniken wie Tarot, Pendeln, Astrologie oder das fernöstliche I Ging versprechen Sicherheit, indem sie scheinbar die Folgen möglicher Entscheidungen voraus­sagen, während magische Praktiken die Ergebnisse selbst zu beeinflussen versprechen. Man könnte darin auch ein Symp­tom enormer Orien­tierungslosigkeit sehen.

In dem Maße, in dem esoterische Praktiken und Denkmuster sich verbreiten, ist auch eine Abkopplung von einem entsprechenden Milieu zu beobachten. Die Praktiken individiualisieren sich, Esoterik entwickelt sich mehr und mehr zur „Klien­tenreligion“. Entsprechend der bewährten Verfahrensweise der kapitalistischen Ökonomie, auch aus der Beseitigung der von ihr selbst angerichteten Schäden noch Profit zu schlagen, boomen die psychologischen Hilfsangebote. Dabei geht es oft weniger um die Linderung konkreter psychischer Leiden, vielmehr wird (ähnlich wie bei Jung) die Psychologie selbst zum Religionsersatz, indem sie z.B. eine „ganzheitliche“, umfassende Entwicklung der Persönlichkeit und ähnliche Hilfestellun­gen bei der Sinnsuche verspricht.

Wie anhand der Jungschen Theorie schon gezeigt (Wotan und die Nazis!), führt die Ignoranz des esoterische Denkens gegenüber gesellschaftlichen Strukturen und den sich aus diesen ergebenden Sachzwängen mit schöner Logik zur Verschwö­rungstheorie. Die Idee einer im Hintergrund wirkenden bösen Macht kann dabei in relativ „rationalistischen“ Varianten (das Böse als eine Gruppe von Menschen, Freimaurer, Illuminaten, Juden usw.) auftreten, aber auch geradezu kosmische Aus­­maße annehmen. Die Über­­gänge sind fließend. So landet der Autor William C. Gray am Ende eines Buches über ma­gische Prak­tiken (6) bei der Vi­sion einer kos­mischen Schlacht, in der die Mächte der Ordnung mit den Mächten des Chaos kämpfen. Das Wirken der letzteren findet Gray in allerlei irdischen Erscheinungen (von der modernen Kunst bis zur Atombombe) wieder. Der bei Neonazis und Esoterikfans beliebte Jan Udo Holey (siehe auch hier in diesem Heft) dagegen weitet im Laufe seines dreibändigen Machwerks „Ge­heim­ge­sell­schaf­ten“ die Verschwörung der anfangs noch recht menschlich anmutenden „Illuminaten“ (die Holey recht unverhohlen mit den Juden identifiziert) in immer gigantischere Dimensionen aus.

Auch die Idee einer im Geheimen wirkenden feindlichen Macht dient in scheinbar paradoxer Weise der Bewältigung von Ängsten. Das „allmächtige Selbst“ nimmt hier die Gestalt des „Eingeweihten“ an, der die Lügengespinste der Weltverschwörer durchschaut. Die Verschwörungstheorie schafft Orientierung, indem sie eine Ursache für alle Probleme annimmt und die Welt sauber in ein dualistisches „Gut-böse“-Schema sortiert. Sie liefert so eine irrationale Antwort auf sehr reale Ängste. Wirkliche Kritik z.B. der Marktgesetze dagegen würde ja gerade die eigene „Markttauglichkeit“ gefährden. Die Beschäftigung mit der Herkunft bestimmter Ängste scheitert oft daran, dass diese durch das Infragestellen der gesellschaftlichen „Normalität“ noch verstärkt werden. Die Angst davor, von der Gesellschaft als „überflüssig“ aussortiert zu werden, treibt zur Konformität, wird handhabbar gemacht, indem man sich zumindest symbolisch der eigenen Zugehörigkeit versichert. Durch das Konstrukt einer „fremden“, von außen kommenden Macht lassen sich die negativen Folgen der kapitalistischen Ökonomie scheinbar erklären, ohne sich in Opposition zu den realen Verhältnissen zu stellen (7).

Gerade in ihrer inhaltlichen Beliebigkeit, ihrer scheinbaren Abkoppelung von jeglicher äußeren Realität ist die Esoterik also ein sehr sensibler Seismograph sozialer Widersprüche. Dass dabei auch rassistische und antisemitische Denkmuster oder antiquierte Geschlech­ter­rollen reproduziert werden, ist nicht verwunderlich. In der „Offenbarung“, der „Intuition“ als vermeintlich unmittelbarer Form der Erkenntnis tauchen die unhinterfragt übernommenen gesellschaftlichen „Selbstverständlichkeiten“ wieder auf. Ganz intuitiv kann man so z.B. zu der furchtbar tiefgreifenden Erkenntnis kommen, das „Schwule“ eben doch irgendwie abartig oder Frauen „von Natur aus“ anders als Männer seien. Dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sind, ist den Esoteriker_innen nicht vorzuwerfen – wohl aber, dass sie sich mit dem freiwilligen Verzicht auf den Verstand als Werkzeug kritischen Denkens dümmer machen, als sie sein müssten. Illusionen mögen vielleicht entlastend wirken, helfen tun sie sicher nicht, wenn es darum geht, reale Probleme zu lösen.

(justus)

 

(1) siehe Norman Cohn, „Die Erwartung der Endzeit – Vom Ursprung der Apokalypse“, Insel Verlag, Frankfurt 1997.

(2) alle Zitate soweit nicht anders angezeigt aus C.G. Jung, „Symbole und Traumdeutung“, in „Traum und Traumdeutung“, Deutscher Taschenbuchverlag 2001, Seite 50 -59, Hervorhebungen von mir.

(3) zu finden in Umberto Eco, „Im Labyrinth der Vernunft“, Reclam Leipzig 1999, S. 376-390.

(4) siehe Micha Brumlik, „C.G. Jung zur Einführung“, Junius Verlag 1993, S. 44 bzw. 126.

(5) Karl Marx/Friedrich Engels, „Die Heilige Familie – Kritik der kritischen Kritik“, in MEW Bd. 2, Dietz Verlag Berlin, 1976. Siehe dazu auch Gabriel Kuhn, „Jenseits von Individuum und Staat – Individualität und autonome Politik“, Unrast 2007.

(6) William C. Gray, „Magie. Das Praxisbuch der magischen Rituale“, Goldmann Verlag, München 1994.

(7) siehe z.B. Gugenberger/Schweidlenka/Petri, „Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts“, Deuticke Verlag Wien/München 1998.

„Anders ist so unpolitisch“

Im Gespräch über Aktivismus, Widerstand und Selbstorganisation

Hanna Poddig ist nicht nur seit Jahren in der antimilitaristischen und Umweltbewegung aktiv. Wegen ihrem Buches „Radikal mutig: Meine Anleitung zum Anderssein“ und dem dadurch geweckten medialen Interesse wird sie in Zeitungsinterviews, Radiosendungen und Talkshows geradezu als neues Aushängeschild der Aktivist_innenszene präsentiert. Davon fühlte sich wiederum die Leitung des Centraltheaters animiert, sie nach Leipzig einzuladen. An einem sonnigen Samstag im April trafen wir uns mit den „Vollzeit-Aktivistinnen“ Hanna und Franzi am weißen Haus des Centraltheaters, wo eine Woche lang Workshops und Aktionen zu Themen wie Atomkraft oder staatliche Repression ihren Ausgang nehmen sollen. Wir warten gemütlich, bis die beiden von oben aus den Bäumen, wo sie gerade ein Anti-Atom-Transparent befestigt haben, zu uns herabsteigen und Rede und Antwort stehen.

FA!: Wie seid Ihr zum Centraltheater gekommen und was erhofft Ihr Euch davon?

Hanna: Ich bin vom Centraltheater eingeladen worden, weil die auf mich aufmerksam geworden sind durch die Medien. Die haben mich angesprochen, ob ich nicht Lust hab zur Buchmesse eine Veranstaltung zu machen und hier aus meinem Buch zu lesen. Und dann haben sie gesagt, sie hätten da so eine Idee und da war mal Öff Öff da und ob ich nicht vielleicht auch Lust hätte. Ich seh das immer erstmal als Chance – solche Anfragen sind bei mir gar nicht verknüpft mit einer großen Hoffnung, ich glaube nicht, daß hier die Weltrevolution ausbrechen wird, auch wenn es jetzt nicht schlimm wäre. Ich sehe das als Chance an Leute ranzukommen, an die ich sonst nicht rankomme, mit meinen politischen Inhalten ein bißchen aus dem politischen Ghetto rauszukommen und nicht nur im eigenen Saft zu schmoren.

FA!: Klingt überzeugend. Wie seht Ihr Euch in der Reihe mit Öff Öff, der ja vor Euch Gast des Centraltheaters war?

Hanna: Was Öff Öff macht, finde ich grundsätzlich nicht falsch. Aber es reicht in meinen Augen nicht. Also ich glaube, daß er schon vorlebt, daß viele Dinge gar nicht so zwanghaft sind, wie viele Leute glauben. Daß ganz viel möglich ist, von dem viele Leute glauben, das geht gar nicht. Dafür schätze ich ihn, auch für Ideenreichtum und für so Recyclinggedanken und Selbstorganisation, da ist er schon ganz schön gut. Aber ich glaube, daß manche Dinge nicht beseitigt werden dadurch, daß ich sie nicht mache. Also dadurch, daß ich keine Gentechnik anpflanze, wächst sie trotzdem. Und dann muss ich sie kaputtmachen. Und an der Stelle glaube ich, daß dieses Nischendenken, sich eine eigene heile Welt aufzubauen, eben nicht reicht und mehr passieren muss. Das ist, glaube ich, was mich sehr zentral von Öff Öff unterscheidet. Ich hatte mal eine längere Email-Debatte mit ihm über das Thema „Hab ich einen Ausweis oder nicht“. Öff Öff legt ja viel Wert darauf  keinen Ausweis zu haben, weil er damit  das Konzept von Nation und Staat nicht legitimiert. Aber wenn ich keinen Ausweis hätte, wären politische Aktionen immer fünfmal so anstrengend, weil ich jedes Mal mitgenommen würde. Wer keine Aktionen macht, wird natürlich auch nicht mitgenommen, deswegen ist es für Öff Öff nicht so wild, keinen Ausweis zu haben. Mir ist es das nicht wert, ich mach’ lieber Genfelder kaputt und stopp’ Atomtransporte. Ich find’ das die cooleren Aktionen.

FA!: Was ist denn Eure Perspektive von gesellschaftlicher Veränderung? Wie stellt Ihr Euch gesellschaftliche Veränderung vor und wie denkt Ihr, daß Euer Handeln dazu beiträgt?

Franzi: Ich hab natürlich so ‘ne Utopie im Kopf, wie die Welt aussehen könnte. Ich möchte z.B. keine Hierarchien. Ich möchte, daß alle Leute möglichst Zugriff auf alle Ressourcen haben und es trotzdem möglich ist, daß Leute an einzelnen, persönlichen Dingen hängen können. Die Veränderung sollte schon irgendwie in die Richtung gehen. Mir reicht es z.B. nicht zu sagen ich bin gegen Atomkraft oder ich bin gegen Gentechnik. Sondern das sind für mich alles Symptome dieser ziemlich krassen Welt, in der wir leben. Veränderung beginnt für mich in den Köpfen von Leuten. Es kann nur passieren, indem ich praktisch Dinge verhindere, weil’s einfach nicht anders geht. Aber meiner Ansicht nach muss sich erstmal etwas in den Köpfen verändern, auch in der Hinsicht, daß ich versuche das in meinem Alltag umzusetzen und dafür zu kämpfen.

Hanna: Ich würde sagen, der wichtige Punkt ist Organisierung. Also nicht nur Inhalte vermitteln – das ist sicherlich auch wichtig, aber bei einigen Themen gar nicht notwendig. Z.B. Gentechnik: Da sind schon 80% der Leute dagegen und trotzdem wächst es auf den Feldern. Das heißt, es geht gar nicht um Überzeugung, sondern darum die Leute zu aktivieren, auf die Felder zu gehen und den Scheiß da weg zu machen. Das heißt, ich will schon erreichen, daß Menschen sich zusammentun und gemeinsam überlegen, was denn ihre Art und Weise sein könnte, dagegen aktiv zu werden. Ich sage jetzt nicht, daß alle Leute Genfelder plattmachen müssen. Sondern mir wär’s wichtig, daß Leute sich im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten und Kapazitäten organisieren, sich selber wieder was zutrauen.

FA!: Du bist ja nun „Vollzeit-Aktivistin“ – zumindest wirst Du so verkauft oder verkaufst Dich vielleicht auch selber so. Denkst Du, daß das Leben, das Du führst, ein Modell für andere sein könnte?

Hanna: Jein. Solange es noch eine Gesellschaft gibt, die ganz viel Scheiß abwirft, der als Müll sonst vernichtet wird oder vergammelt, den ich noch brauchen kann, versuche ich natürlich möglichst von diesen Dingen zu leben und keine neue Nachfrage zu schaffen. Das ist natürlich keine Utopie für alle Menschen. Es können nicht alle Menschen vom Müll leben, den würde dann ja keiner mehr produzieren. Trotzdem glaube ich, daß viele der Ansätze, die ich vorzuleben versuche, schon ein Modell für mehr Menschen sein können. Aber ich will nichts aufzwingen. Das heißt, es gibt schon Sachen, die ich so gar nicht will – ich würde jetzt nicht sagen, ich überlasse es meinem Nachbarn, ob er ein Atomkraftwerk betreibt oder nicht, da ist schon eine Grenze. Aber im Grunde will ich Leuten nicht vorschreiben, wie sie leben und worauf sie Lust haben sollen, oder was sie machen sollen …

Franzi: Ich würde auch unterscheiden zwischen Modellen, die vielleicht für hier und jetzt irgendwie passend sind und Modellen, die ich mir in der Utopie wünsche. Das Containern zum Beispiel, das passt, solang’s diese Welt gibt. Aber wenn’s diese Welt so nicht gäbe, dann müsste für alle, also auch für die jetzigen Vollzeitaktivist_innen, eine wie auch immer geartete Selbstversorgung oder Gemeinschaftsversorgung her.

FA!: Wie, denkt Ihr, kann die gesellschaftliche Veränderung am besten vonstatten gehen? Langsam, Stück für Stück, weil bei immer mehr Menschen das Bewusstsein geschaffen wird und die partizipieren an der Selbstorganisation? Oder auf den großen Knall hinaus?

Hanna: Ich glaube nicht an diese Logik von, ich sag mal, traditionellen Marxisten, die sagen mensch muss nur genug Marx-Lesekreise veranstalten und genug Leute müssen das Wissen haben,  dann kommt die Revolution von selber. Und wenn alle Leute das Kapital gelesen und verstanden haben und wir sind die einzigen die wissen, wie man’s zu deuten hat, dann macht es plötzlich ‘knall’ und die Welt ist ‘ne bessere. Ich glaube Menschen müssen Umgang miteinander lernen. Die Verhältnisse sind vom Menschen gemacht. Das heißt, es muss sich schon was am Verhalten ändern und das müssen Menschen auch üben. Das geht nicht von jetzt auf sofort, denn natürlich haben die Leute auch ganz viel Scheiße verinnerlicht. Trotzdem will ich auch nicht so mißverstanden werden, daß es heißt: Ach, die findet es auch gar nicht so schlecht, den Weg durch die Institutionen zu gehen. Das Gegenmodell heißt ja nicht Parteiarbeit. Sondern das Gegenmodell ist sowas wie radikale Transformation. Der Begriff ist ein bißchen sehr künstlich, aber das beschreibt noch am ehesten ein Hinarbeiten auf eine bessere Welt, ohne daß man mit den Einzelschritten den bestehenden Scheiß stabilisiert. Trotzdem kann ich mich natürlich über einzelne Sachen freuen und auch irgendwelche Detailkämpfe führen.

FA!: Hanna, Du hast da dieses Buch geschrieben und bist dadurch relativ medial präsent. Wie kamst Du dazu, dieses Buch zu schreiben und was war die Resonanz der Presse bzw. was für Erfahrungen hast Du damit gemacht?

Hanna: Also es war nicht meine Idee, das Buch zu schreiben, sondern die Idee des Verlags, der auf mich zugekommen ist und mich gefragt hat. So daß ich gedacht hab’, vielleicht kann das eine Chance sein, meine politischen Inhalte Leuten näherzubringen, die ich sonst nicht erreichen würde, weil das Medium Buch irgendwie eine andere Glaubwürdigkeit hat als ich als Person. Ich glaube, der Erfolg liegt zum einen an der sehr professionellen Marketingabteilung im Verlag und zum anderen daran, daß es schlicht Produkteigenschaften an mir gibt, die vermarktbar sind. Also klein, blond, weiblich und mehr oder weniger rhetorisch vorzeigbar. Das ist auch der mediale Hunger nach Protest, Exoten oder dem Vorführen von Menschen. Von daher weiß ich insgesamt nicht, ob ich sagen würde, es ist ein großer Erfolg. Nach einer Talkshow hat sich mal jemand bei mir auf ein Praktikum beworben und da hatte ich zwei Wochen lang einen Praktikanten. Das war für den  eine ganz neue Welt und auch ganz spannend, was er gelernt hat. Und das ist ein Erfolg, finde ich, weil dort jemand was neues gesehen hat, was er vorher nicht kannte, und das nicht nur einen Abend konsumiert, sondern wirklich zwei Wochen gelebt hat.

FA!: Glaubst Du, dadurch eine Vorbildfunktion zu haben und andere auch zum Mitmachen zu animieren?

Hanna: Ich bin schon eingeladen worden zu Veranstaltungen aufgrund der Medienberichterstattung. Ich hab dann immer gesagt, ich würde viel lieber Aktionstrainings machen als Lesungen. Ich hab schon an einer besetzten Uni Aktionstraining gemacht und die Leute haben danach Aktionen gemacht. Das sind schon Sachen, die mir Hoffnung machen, denn an diese Studis wäre ich sonst nicht rangekommen. Die haben mich wirklich im Fernsehen gesehen und gesagt: Ey, die wollen wir hier haben!

FA!: Es ist doch aber schon problematisch, wenn man als Superaktivistin so auf einen Sockel gestellt wird. Dadurch, daß man medial so präsent ist und zu einer Repräsentationsfigur wird, die andere Leute repräsentiert, auch wenn man eigentlich nur für sich selbst sprechen will.

Hanna:
Ich seh’ das Problem auch schon. Ich versuche auch bei Anfragen das weiterzuleiten an andere Leute. Das liegt schon genau daran, daß ich keinen Bock hab, die eine Stellvertreterin des neuen, hippen, jungen Aktivismus zu sein. Ich seh auch, daß ich da gar nicht so viel Einfluß drauf hab, was die aus mir machen. Im Nachhinein würde ich auch dem Buchtitel so nicht mehr zustimmen.  „Anders“ ist als Begriff einfach so inhaltsleer. War sowieso nicht meine Idee, sondern vom Verlag. „Anders“ ist zu unpolitisch, „anders“ ist grade alles.

FA!: Wie lange seid Ihr schon politisch aktiv? Seid Ihr jung politisiert worden?

Franzi: Bei mir überhaupt nicht. Ich war schon immer so’n bißchen Öko, aber Handlungen sind daraus nicht so richtig erfolgt. Irgendwann nach meiner Lehre hab ich immer mal bei einer attac-Gruppe vorbeigeschaut, bin darüber dann auf G8-Gipfel gekommen, Klimacamp-Orga, hab ‘ne eigene Rebel Clown Army gegründet, mit Gendreck weg! oder x-tausend zu tun gekriegt. Auf dem Weg zu einer Anti-Gentechnik-Kampagne in Portugal bin ich dann aber im Kelsterbacher Wald hängengeblieben. Und damit war ich dann auch schon in dieser Szene hier.

Hanna: Ich bin da auch reingewachsen. Am Anfang war ich mal auf ‘ner Demo und dann war ich häufiger auf ‘ner Demo. Nach dem Abi hab ich ein freiwilliges ökologisches Jahr gemacht bei Robin Wood und bin da hängengeblieben. Dann kannte ich da tausend Leute und hab’ da irgendwelche Jobangebote gekriegt. Dann habe ich für Gendreck weg! was gemacht, zum G8-Gipfel, und bin so irgendwie von einer Kampagne zur nächsten gewandert, bis ich dann irgendwann fand: Ich brauch gar keine feste Kampagne, für die ich arbeite. Ich bin jetzt einfach meine eigene Chefin.

FA!: Freischaffende Aktive …

Hanna:
Ja, das war für mich tatsächlich ein wichtiger Schritt, mich zu lösen von Verbänden, Vereinen und festen Kampagnen, zu sagen: Ich kann das alleine, ich hab das Know-How und ich find’s sinnvoller alleine. Natürlich nicht ganz allein, ich mach’ meine Aktionen ja nicht ohne andere Menschen… Aber eben ganz klassisch mit freien Menschen in freien Kooperationen. Was mir daran so wichtig ist ist, daß mich nicht irgendein Label mit irgendwem verbindet, sondern jedesmal auf’s neue irgendeine Absprache über irgendwas, worauf ich halt Lust hab’ oder sinnvoll und wertvoll finde.

FA!: In der „linken Szene“ ist Mackertum mittlerweile ja (zurecht) ein Thema, wobei mensch da noch mal zwischen  Bewegungsmackern und intellektuellen Mackern unterscheiden könnte. Gibt es bei den Aktionisten denn Aktionistenmacker?

Hanna: Ja, definitiv. Es gibt Leute, die nach Kletteraktionen immer wieder betonen wie cool die Kletteraktion war und dabei nicht erwähnen, daß es auch ein Bodenteam gab, ohne das sie nicht hätten klettern können. Da gibt es schon immer wieder. Leute, die nicht ausreichend häufig sagen, daß sie nicht alleine agieren. Immer wieder prolliges Heldengetue, daß das alles gar nicht so schlimm ist, daß die sich mal nicht so haben sollen. Ein unsensibler Umgang mit Ängsten, Befürchtungen, sowas.

Franzi: … die Erfahrenheit raushängen lassen und andere nicht daran ranführen.

FA!: Hat das was mit dem Geschlecht bzw. der Sozialisierung nach dem Geschlecht zu tun?

Franzi: Mir fallen meist männlich sozialisierte Personen ein, wo mir das auffällt. Ich kenne auch ein paar Frauen, die ich  als sehr mackerig empfinde. Wobei das eher was anderes ist als das gerade beschriebene… Es muss nicht unbedingt was mit dem Geschlecht zu tun haben, aber ich sehe es häufiger an Männern.
Hanna: Wobei es vielleicht auch wirklich was mit dem Sehen zu tun hat. Also daß es weniger auffällt bei Frauen, weil wir bei Männern eher drauf geeicht sind, kritisch drauf zu gucken. Uns eher mal zu freuen, wenn es auch mal ‘ne dominantere Frau gibt, die sich durchsetzt. Weil ist ja cool, daß sie das macht. Daß das in Szenekreisen viel mehr gedeckt wird, als daß es kritisch gesehen wird, weil es halt mit bestehender Normalität bricht. Was ich ein stückweit auch richtig finde. Eine Unterdrückung erstmal über eine Überprivilegierung eine zeitlang zu bekämpfen, finde ich in Ordnung. Sowas wie Frauenredequote und solche Sachen finde ich durchaus legitime Mittel.

Franzi: Wobei ich es spannender finde z.B. eine Redequote für Leute einzuführen, die wenig reden. Mir fällt’s schon auch an Frauen auf, wenn die so krass dominant sind …

An dieser Stelle wird das Gespräch langsam ausgeblendet. justus & shy im Außendienst geben zurück ins Studio.