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Die Redaktion … spielt

… mit Kellen, Wölfen und Messern

Seit letztem Monat spiele ich wieder Tischtennis. Draußen, im Park oder gleich auf dem Spielplatz um die Ecke. Ich habe mir dafür eine kleine Tasche zugelegt, mit zwei Kellen und drei Bällen. Einer davon ist orange. Wenn ich jetzt bei Freunden an der Tür klingele und frage, ob sie mit auf den Spielplatz kommen, fühle ich mich wie fünf.

Außerdem spiele ich Okami – ein japanisches Videospiel, in dem ein weißer Wolf die Welt von finsteren Dämonen befreit. „Okami“ auf japanisch bedeutet Wolf, große Gottheit und weißes Papier. Mit mehreren Pinseln bewaffnet zerschneide ich Steine, male Wasser in ausgetrocknete Flüsse, lasse zerstörte Brücken neu entstehen und zeichne Sonnen in schwarze Wolken. Gottesgleich also. So richtig überzeugt von dem Spiel bin ich noch nicht. Die Idee mit den Pinseln statt Waffen hat aber was.

Letztes Jahr habe ich mit Freunden oft Flat Out gespielt – auch ein Videospiel, bei dem der Fahrer aus dem Auto in einem bestimmten Winkel und mit einer bestimmten Geschwindigkeit katapultiert wird, um auf eine Dartscheibe oder ins Tor oder durch Feuerringe zu fliegen. Am Ende liegt der Fahrer immer tot in der Ecke. Auch irgendwie gottesgleich, nur mit dem Unterschied, nicht die Welt zu retten, sondern einfach nur viele Punkte zu ergattern.

Ende letzten Jahres litt ich dann an einer Spiele-Überdosis. Non-Stop Flat Out, Romee, MauMau, Mensch ärgere dich nicht, Trivial Pursuit, Scrabble. Das Problem: Ich kann nicht verlieren und diskutiere bis aufs Messer, wenn ich Ungerechtigkeit wittere. Nicht mit allen. Eigentlich nur mit denen, die mir am nächsten stehen. Und eigentlich völlig sinnlos. Nicht so gut. In Spielen sehe ich dann nur noch Psychokriege, in denen sich jeder behaupten will.

Die Tischtennis-Saison ist aber noch jung. Bis jetzt habe ich mich noch nicht ins Spiel hineingesteigert. Bis jetzt will ich noch nicht immer gewinnen. Bis jetzt geht es noch um den Spaß. Manchmal muss ich mir noch still vorsagen, dass ich doch gewinnen will, um mich zu konzentrieren. Ich frage mich, wie lange es anhält. Gestern habe ich schon meinen Namen auf eine Kelle geschrieben.

tung

dagegen

Das Leben soll ja ein Spiel sein, ein Spiel des Lebens. Auf dieses Spiel hab’ ich aber keinen Bock mehr! Ein Kredit aufnehmen und das Studium beenden? Ich hab’ keinen Bock! Arbeiten und Karriere machen? Ich hab’ keinen Bock! Heiraten und Kinder kriegen? Ich hab’ keinen Bock! Eins ist mir mittlerweile klar geworden – an diesem Spielbrett bin ich falsch. Wird wohl Zeit, mir mein eigenes zu basteln. Ein Brett, wo ich über Los gehe, und alle um mich herum 20.000 Euro einziehen dürfen. Bis dieses Brett steht, dauert es aber noch ein Weilchen. Erstmal die Grundlagen schaffen: altes Brett nehmen und kaputtschlagen!

carlos

mitunter mit Gedanken

Mit sinnvollen wie sinnfreien, hellen wie dunklen und (gesellschaftlich) wertvollen wie auch völlig indiskutablen. Gedankenspiele sind dabei vor allem eines – die freie Entfaltung im Inneren, die Alternative zu realen Handlungszwängen, die Möglichkeit, überhaupt über gesellschaftliche Normen und Grenzen hinauszudenken. Da die Freiheit des einen bekanntlich da aufhört, wo die der anderen beginnt, ist es (fast) nur im Selbst möglich, wahnwitzige Ideen zu entwickeln oder überhaupt die eigene Persönlichkeit so zu entfalten, dass die gesellschaftliche Determination keinen Zombie hinterlässt. Das freie Spiel mit den Gedanken ermöglicht es mir erst woanders und mit anderen spielerisch tätig zu werden. Bei Gesellschaftsspielen, Wettkampfspielen, Wortspielen, sexuellen Spielen oder im Schauspielerischen, ja auch bei Machtspielen.

Ich spiele, also bin ich.

k.mille

… Karten- und Rollenspiele

Vielleicht ein bisschen old school, aber ich steh drauf: am runden Tisch mit Freunden und allerlei Genussmitteln sitzen und mit viel Phantasie in analoge Spielewelten tauchen. Die ansonsten bekämpfte Konkurrenzgesellschaft leb ich hier auch gern mal aus, inklusive Rumpöbeln. Ohne schlechtes Gewissen.

Besonders gut funktioniert das bei Skat-Abenden. Man muss gar kein alter Mann sein, um dort mit viel tamtam aufzutrumpfen, oder bei schlechteren Karten den Skat-Gott ob der Kartenverteilung zu verfluchen. Besser noch den Gegner beschimpfen, wenn er am gewinnen ist. Aber ich will hier kein falsches Bild hinterlassen, denn oftmals spiele ich auch ganz friedfertig – vor allem dann, wenn ich selbst ganz vorne throne.

Eine andere gute Gelegenheit, um sonst beherrschte Emotionen, konträre Haltungen oder ungeahnte Facetten des selbst mal auszuleben, bieten sich in so genannten Krimi-Rollenspielen. Als Abendfüllendes Programm konzipiert, schlüpfen 8-10 Menschen (am besten Freund_innen) in ganz unterschiedliche Rollen und spielen beispielsweise einen Mönch, Magier oder Möchtegern-Popstar. Die Aufgabe besteht nun darin herauszufinden, wer aus der illustren Runde der_die Mörder_in einer fiktiven getöteten Person ist. Zwar sind die Mordgeschichte, diverse Indizien und personelle Verstrickungen durch das story-board vorgegeben, allerdings bleibt noch genügend Spielraum um der Rolle den eigenen Stempel aufzudrücken. Herrlich, mit welcher Genugtuung ich als arroganter Magier über den Pöbel herziehen kann. Noch dazu erfinde ich auch neue Zauber, so dass irgendwann alle hoffentlich vor Furcht erstarren….

Der Phantasie freien Lauf lassen kann man übrigens auch mit dem Dixit-Kartenspiel. Platz drei meiner aktuellen best-of-Liste. Wunderschöne, verspielte und interpretationsoffen gezeichnete Bilder bilden hier die Basis. Die Aufgabe besteht darin eines davon assoziativ mit Worten zu belegen, ohne zu viel dabei zu verraten. Denn bestimmte Karten der Anderen sollten auch irgendwie dazu passen können.

Ja ich steh auf Spiele. Vor allem dann, wenn sie zwischenmenschliche Geselligkeit fördern, Phantasie anregen und mir ermöglichen in fremde Welten zu tauchen oder mich mal richtig gehen zu lassen. Mit vielen analogen Karten-, Brett- und Rollenspiele geht das vortrefflich. Und zu entdecken gibt es da noch jede Menge. Vielleicht ein bisschen old school – aber ich steh drauf.

momo

… mit

Sehr schön, denn wer spielt nicht gern? Brettspiele, Kartenspiele, Wortspiele, Schauspiele etc..

Soweit so gut. Doch ist das schon alles? Was spiele ich? Denn immerhin heißt die Rubrik ja „Die Redaktion spielt“ und mir schwirren bei diesem Begriff so massenhaft Gedanken durch den Kopf. Daher habe ich vor mit dem Begriff spielen zu spielen und zu schauen, was denn eigentlich alles dahinter steckt.

Anfangs denkt man häufig an Kinder, denn die sind ja ständig am Spielen. Dies ist meist ein positives Spielen. Man hat Spaß, kann etwas dabei lernen und verbringt eine schöne Zeit. Mit steigendem Alter spielt man dann immer weniger. Zumindest diese Art von Spielen. Allerdings ist nicht jede Art von Spielen eine rein positive. Menschen spielen auch im Stillen, ohne der anderen Person davon zu berichten. An dieser Stelle wird das Spielen nicht nur einseitig, sondern zum Teil auch manipulierend. Ich will damit nicht sagen, dass dies in jedem Fall bewusst geschieht und immer eine genaue Absicht dahinter steht, aber es kommt durchaus vor. Manchmal spielt man Menschen aber auch etwas vor, um nicht oder weniger verletzbar zu sein bzw. eine andere Person nicht zu verletzen. Ob das nun gut oder schlecht ist – darüber lässt sich streiten. Darum soll es aber an dieser Stelle auch gar nicht gehen. Sehen wir mal eben davon ab und wenden uns wieder der positiven Art von Spielen zu. Ich mag zum Bleistift auch Wortspiele sehr gern. Und auch beim Sex wird des öfteren gespielt, die unschuldigen Rollenspiele der Kindheit wandeln sich so z.B. in eine ganz andere Richtung oder allein der Begriff Sexspielzeug weist darauf hin, dass Sex durchaus einen spielerischen Charakter haben kann und hey, macht ja auch Spaß – sollte es zumindest ;). Manchmal spielt man auch einfach mit Gedanken. Es ist interessant wie weitläufig, dieser Begriff ist, aber wie oft er nur so eindimensional betrachtet wird. Zugegeben, er ist so weitläufig, dass ich irgendwie nicht so recht einen roten Faden zustande bringe. Ich springe von einem Gedanken zum nächsten. Schreibe – verwerfe. Ein Teil sagt mir, dass ich mir doch ohne weiteres ein „Spiel“ raus suchen könnte, um das Ganze einfacher zu gestalten aber ein Anderer fände das schlichtweg viel zu langweilig. Dann lieber ein holpriger Text, der nicht so einfach von der Hand geht und außerdem ist es ja auch per se nichts schlechtes. Es kann durchaus einen positiven Effekt haben einmal feste Schemata zu überwinden und den Gedanken(spielen) freien Lauf zu lassen.

R!

Gegen den Stillstand

Die Proteste in Bosnien und Herzegowina

Im Februar diesen Jahres gingen in Bosnien und Herzegowina mehrere Tausend Menschen auf die Straßen. Gegen die korrupte politische Elite des Landes, gegen Privatisierungen und gegen Massenarbeitslosigkeit. Ausgang nahmen die Demonstrationen in Tuzla. Anlass waren dort die Privatisierungen von fünf Fabriken, wogegen Arbeiter_innen demonstrierten, die seit mehr als einem Jahr keinen Lohn erhalten haben und nicht mehr krankenversichert sind. Später weiteten sich die Proteste auf Sarajevo, Mostar, Bihac, Zenica und weitere Städte aus.

Schon im Juni 2013 war es zu größeren Protesten gekommen. Anlass damals war die lahmgelegte Bürokratie, die keine Personenregisternummern für Neugeborene ausstellen konnte, weil sich die Politiker aus Föderation und serbischer Republik in Bosnien und Herzegowina nicht einigen konnten. Konsequenz: keine Geburtsurkunden, keine Pässe. Ein Baby benötigte eine dringende Knochenmarktransplantation, welche nur im Ausland möglich ist, konnte aber nicht ausreisen. Die Proteste wurden daher mancherorts als „Bebolucija“ (Baby-Revolution) bezeichnet.

Die Proteste diesen Februar haben jedoch eine andere Qualität erreicht. Mehr Menschen, mehr Aggressivität. Regierungsgebäude wurden gestürmt und in Brand gesetzt, Demonstrant_innen und Polizist_innen verletzt. Vier Kantonsregierungen sind in Folge aufgelöst worden: in Tuzla, Una-Sana, Sarajevo und Zenica-Doboj.

Die Ursachen für den Ärger in der Bevölkerung liegen in einem Netz zwischen politischen und wirtschaftlichen Stillstand, getragen von geschichtspolitischen Auseinandersetzungen und ethno-nationalistischer Propaganda in der Politik.

Das politische System in Bosnien und Herzegowina ist zementiert auf dem Gerüst des „Daytoner Friedensabkommens“. Dieses beendete zwar 1995 die kriegerischen Auseinandersetzungen, übertrug jedoch die Konflikte auf die politische Ebene. Vorwiegend als ethnischer Konflikt verstanden, handelten die Diplomat_innen ein ethnisch fundamentiertes politisches System aus. Bosniaken, bosnische Serben und Kroaten sollten sich die Macht teilen. Andere Gruppen in Bosnien und Herzegowina, etwa Roma oder Juden, fanden in dieser Sichtweise keinen Platz. Das Land wurde in zwei Entitäten geteilt, die bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska, sowie den entitätsfreien Bezirk Brcko.

Dieser politische Stillstand paart sich mit einer anhaltenden wirtschaftlichen Misere. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist immens hoch, liegt bei über 63%(1). Korruption in Politik, Verwaltung und Gerichtswesen ist weit verbreitet.(2) Die Anti-Korruptionsbehörde hat erst letztes Jahr ihre Aktivitäten aufgenommen und bisher keine erkennbaren Ergebnisse geliefert. Die zahllosen Privatisierungen von ehemaligen Staatsbetrieben nach Ende des Krieges verliefen oftmals völlig intransparent. Das Auswärtige Amt betrachtet die Privatisierungen als abgeschlossen und fügt auf seiner Webseite in einem Nebensatz hinzu: „rund 90 Prozent des Eigenkapitals liegen in ausländischer Hand“.(3)

Das Vertrauen in die „internationale Gemeinschaft“ ist ebenfalls gering. Die NGOs, die nach dem Krieg wie Pilze aus dem Boden schossen, werden oftmals nur noch als eigener Wirtschaftszweig ohne Bedeutung für die Bevölkerung gesehen. Die internationalen Organisationen als Garant des Status Quo. Der Beitritt in die Europäische Union steht in weiter Ferne, und auch hier wächst die Skepsis, ob sich mit diesem denn auch wirklich positive Veränderungen verbinden.

Die Proteste gehen in verschiedensten Städten weiter, auch wenn nur noch mit wenigen Menschen, regelmäßig in Sarajevo, aber auch punktuell, wenn Arbeiter_innen ihre lang ausstehenden Löhne einfordern. Die täglichen Abendnachrichten sind voll davon. Am 9. Mai trafen sich bis zu 500 Menschen in Sarajevo, die zuvor in Protestmärschen aus der ganzen Föderation nach Sarajevo gelaufen waren. In mehreren Städten wurden Plena eingerichtet, auf denen aktive Bürger_innen über das weitere Vorgehen beraten und konkrete Forderungen formuliert haben. Einige dieser Forderungen wurden bereits auf lokaler Ebene umgesetzt, wie beispielsweise die Abschaffung von Jahresgehältern an schon abgewählte Politiker. Diese Plena fanden in riesigen Sälen statt und brachten mancherorts hunderte Menschen an einem Abend zusammen. Gegen den Stillstand und für neue Perspektiven.

tung

(1) UNDP, Human Development Report 2013

(2) Transparency International; www.transparency.org/country#BIH. Bosnien und Herzegowina befinden sich auf dem Corruption Perception Index auf Platz 72, zusammen mit Serbien, hinter Kroatien und Montenegro, aber vor Kosovo und Albanien, und auch vor Ländern wie Griechenland oder Bulgarien.

(3) www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/BosnienUndHerzegowina/Wirtschaft_node.html

Vom Widerspruch einer Idee

Das Einheits- und Freiheitsdenkmal in Leipzig

Dieses Jahr sollte das Einheits- und Freiheitsdenkmal auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz zum 25. Jubiläum der gewaltlosen Proteste am 9. November 1989 in Leipzig eingeweiht werden – als bunter Platz der 70.000, als bunte Bodengrafik mit den Errungenschaften der Proteste oder als Herbstgarten „Keine Gewalt“ mit Apfelbäumen.(1) Letztendlich wird nichts gebaut. Die Nerven auf der politischen Ebene liegen blank. Das Interesse in der Bevölkerung am Bau eines derartigen Denkmals ist so niedrig wie nie zuvor.
Im November 2007 beschloss der Bundestag, ein sogenanntes „Einheits- und Freiheitsdenkmal“ in Berlin zu errichten.(2)
Linke und Grüne stimmten dagegen. Den Grünen fehlte eine gesellschaftliche Debatte. Sie sahen in dem Beschluss staatlich verordnete Erinnerungskultur. Die Linke kritisierte darüber hinaus die geschichtspolitische Verschmelzung von „friedlicher Revolution“, deutscher Einheit und deutschen Freiheits- und Einheitsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Leipzig war schon damals in der Diskussion, wegen seines symbolischen Gehalts als Schauplatz der Proteste. Der Beschluss wurde im Dezember 2008 konkretisiert.(3)
Leipzig wurde paralleler Gedenkort. Der Anspruch: Ein Erinnerungsort, nicht so bedeutungsschwanger wie die Idee für Berlin, kein klassisches Denkmal auf einem Sockel, aber viel Bürgerbeteiligung. Der Bund, der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig gaben gemeinsam mehr als 6 Millionen EUR frei, um parallel zum geplanten Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin einen Erinnerungsort in Leipzig zu errichten.(4)
Davon wurden bis jetzt rund 450.000 EUR ausgegeben.(5) Umfragen, Workshops, Foren und Onlineplattformen wurden organisiert und eingerichtet, um Bürger_innen und Expert_innen aus unterschiedlichen Bereichen in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Ein internationaler Wettbewerb mit Teilnehmendenhonoraren und Preisgeldern wurde ausgeschrieben. Der ersten Wettbewerbsphase mit drei Preisträger_innen folgte eine Weiterentwicklungsphase, die anfangs nicht geplant war. Die vormals Drittplatzierten gingen als Sieger hervor, die vormaligen Sieger als Drittplatzierte. Letztere klagten. Das Oberlandesgericht Dresden gab der Klage im Februar diesen Jahres Recht und erklärte die Weiterentwicklungsphase für ungültig. Daraufhin verlangte die Bürgerinitiative „Einheits- und Freiheitsdenkmal Leipzig“ in einem offenen Brief den Abbruch des Wettbewerbs und einen kompletten Neuanfang.(6) Und auch der Stadtrat zog nach. Das Wettbewerbsverfahren um den Bau des Denkmals zur Erinnerung an die „friedliche Revolution“ 1989 auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz solle beendet, der Neuanfang verschoben werden. Auf 2039 zum Beispiel, den 50. Jahrestag. Die Linke wirbt nun für ein Bürgerbegehren zur Frage als Teil ihres Wahlkampfes zu den anstehenden Kommunalwahlen.
Zeit für Schuldzuweisungen aus allen politischen und gesellschaftlichen Ecken. Schuld sei die Stadt mit ihrer intransparenten und amateurhaften Verfahrensplanung. Schuld sei die frühe Entscheidung für den Wilhelm-Leuschner-Platz als Erinnerungsort, der völlig ungeeignet sei, weil er keine Rolle bei der „friedlichen Revolution“ gespielt hätte. Die Stadt wolle die zugesagten Fördergelder nutzen, um die Brachfläche ohne große Eigeninvestitionen zu gestalten. Eine städtebauliche Entwicklung dieses Ortes sei aber derzeit wichtiger als ein Denkmal. Schuld seien die Agenturen, die mit ihren Entwürfen zur Gestaltung des Erinnerungsortes einem würdevollen Gedenken nicht gerecht würden, oder zumindest ihre Ideen der Bevölkerung nicht genügend erklären konnten. Schuld seien die lokalen Medien, die zur Polarisierung der Bevölkerung und damit negativen Stimmung gegen das Denkmal beigetragen hätten. Schuld sei die Zeit, die einfach noch nicht reif für ein derartiges Denkmal sei.

Die derzeitige Situation als Ausdruck für den Widerspruch zwischen Erinnerungspolitik von oben und der Mitsprachemöglichkeit der Gesellschaft von unten. Wer Verfahren festlegt, bestimmt maßgeblich das Ergebnis. Wer Regeln für Mitsprachemöglichkeiten festsetzt, schließt bestimmte Akteure an bestimmten Stellen ein, andere aber auch aus. Das politische Gedenken an die Macht der Gesellschaft über die Politik, gescheitert an der Gesellschaft. In diesem Sinne kann man der derzeitigen Situation sogar etwas Positives abgewinnen. Vielleicht sollte man ein Denkmal zur Erinnerung an den Prozess errichten.
Vielmehr ist die verfahrene Lage aber Ausdruck der realitätsfernen Idee, es gäbe eine gesamtgesellschaftlich geteilte Interpretation sowie Repräsentation der Ereignisse im November 1989. Eine solche große Erzählung kann von oben vorgegeben werden. Wünschenswert ist das nicht, wie das Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin eindrücklich zeigt: Eine begehbare Schale auf dem Sockel Kaiser Wilhelms I. auf der Berliner Schlossfreiheit, eingeordnet in eine lineare und zielgerichtete historische Erzählung des Strebens der Deutschen nach Einheit und Freiheit.(7) Die Vielfalt an Interessen- und Deutungsmustern von Geschichte in der Gesellschaft kann ein einzelner Erinnerungsort nicht widerspiegeln. Die Frage ist also nicht, wie alle Stimmen mit der Schaffung eines Erinnerungsortes zufriedengestellt werden können, sondern wie alle Stimmen Gehör finden können.
Der Prozess ist ein Erinnerungskonflikt geworden, in dem unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Einstellungen um Deutungen, Anerkennung und Ressourcen streiten. Die Stadt, das Land wie auch der Bund sind Akteure in diesem Konflikt, und können diesen daher nicht regeln, geschweige denn lösen. Derzeitige Vorschläge von Abbruch, Neuanfang und Verschiebung werden diesem Sachverhalt nicht gerecht. Die Konflikte werden weiterbestehen und sollten als solche in ihrem konstruktiven Potential verstanden werden.
Ein Erinnerungsort sollte Ort für Diskussionen sein, nicht Diskussionen zum Abschluss bringen. Und das hat nichts mit Zeit zu tun. Nichts mit den Entwürfen. Nichts mit dem Ort. Aber mit dem Verfahren, welches auf unbrauchbaren Konzepten von gesellschaftlicher Mitsprache und Erinnerungskultur basiert.

tung

(1) www.denkmaldialog-leipzig.de
(2) dipbt.bundestag.de/doc/btd/16/069/1606974.pdf
(3) dip21.bundestag.de/dip21/btp/16/16193.pdf
(4) www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/unsere-stadt/leipziger-freiheits-und-einheitsdenkmal/schritte-20092010/
(5) Quelle: facebook-Auftritt „Freiheitsdenkmal Leipzig“; Antwort des Beigeordneten für Kultur der Stadt Leipzig auf eine Anfrage der CDU-Fraktion
(6) www.l-iz.de/html/downloads/Einheitsdenkmal-Offener-Brief.pdf
(7) Der Siegerentwurf des Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin trägt den Titel „Bürger in Bewegung“. Auf einer begehbaren Schale, die sich wie eine Wippe mit dem Gewicht der Wippenden bewegt, ist der Schriftzug platziert: „Wir sind das Volk – Wir sind ein Volk“. Mehr dazu: www.freiheits-und-einheitsdenkmal.de

Lokales

Unter dem Deckmantel des Friedens

Das Doppeljubiläum zu Völkerschlacht und Denkmal

„Der Oktober 2013 steht in Leipzig und der Region ganz im Zeichen des Gedenkens, Feierns und Erlebens.“ (1) Ein sogenanntes Doppeljubiläum. 200 Jahre Völkerschlacht. 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal. Die Frage, was es denn in diesem Kontext genau zu feiern gäbe, beantwortet der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums und Leiter der Organisation des Doppeljubiläums, Dr. Volker Rodekamp, unterschiedlich. Bei einem Gesprächsabend in der evangelischen Thomasgemeinde sagte er: „Da gibt es eigentlich gar nichts zu feiern, aber es gibt viel zu erinnern, was uns nachdenklich stimmen sollte“ (2). Auf dem offiziellen Jubiläums-Internetauftritt spricht er dann aber doch wieder vom Anspruch, „ein großes europäisches Fest zu feiern“ (3).

Also feiern ja, aber doch auch Gedenken, Krieg ja, aber doch auch Versöhnung und Frieden, deutscher Nationalismus ja, aber doch auch europäische Geschichte. Wie das zusammengeht, bleibt unklar. Wie genau spannt man denn den Bogen von der bis dahin größten kriegerischen Auseinandersetzung mit 110.000 Toten in vier Tagen im Jahr 1813 über das Völkerschlachtdenkmal als „volkserzieherisches“ Nationaldenkmal zur Einschwörung auf die „vorbehaltlose Unterstützung deutscher Weltmachtpolitik“ (4) im Vorjahr des Ersten Weltkriegs 1913 zum Doppeljubiläum 2013 mit dem Motto „1813-1913-2013: Eine europäische Geschichte“?

Was sofort ins Auge sticht, ist das markentaugliche Branding, welches dem Völkerschlachtdenkmal widerfahren ist. Bunte Farben, klare Formen. Auch zum Ausmalen für Kinder, „wenn die Sonne mal nicht scheint“ – der „Kreativität freien Lauf lassen“(5). Das Denkmal wird zum „Völki“, zum Touristenmagnet Leipzigs. Mehr als 5.000 Besucher haben sich aus der ganzen Welt angemeldet, um die Völkerschlacht nachzustellen. Reenactment – um Geschichte erlebbar zu machen. Aber warum Kriege erlebbar machen? Um das Ausmaß von Kriegen zu zeigen, muss man nur täglich Nachrichten lesen oder schauen. Um den Opfern von 1813 zu gedenken, muss man nicht deren Todesumstände nachstellen. Um Freundschaften zu schließen, muss man nicht mit Uniform und Waffen aufeinander losgehen.

Das Kriegs-Reenactment als „Völkerverständigung“ zu definieren, ist ebenso verzerrend, wie das Völkerschlachtdenkmal als „Mahnmal des Friedens“ zu deuten oder das Doppeljubiläum als „Friedensfeuer 2013“ zu bezeichnen. Das meinen wohl im Grunde auch die Veranstalter. Im offiziellen Rahmenprogramm ist jedenfalls wenig zum Thema Frieden zu finden. Waffen, Steine, Helden, Gefechtsorte und Kriegsalltag stehen eindeutig im Vordergrund. Es gibt die Friedensgebete der Kirchen, europäische Friedensmusik, die Friedensbäume an Orten der Erinnerung zur Völkerschlacht und die Gedenkmedaille aus dem originalen Waffenschrott der Völkerschlacht. Diese mahnt uns zu „Frieden und Freiheit“, geziert mit dem Schriftzug: „Aus Eisen des Schlachtfeldes von Leipzig – das rechteckige Liebhaberstück”(6).

Friedens- und Erinnerungsarbeit auf Kriegsgräbern ist nicht neu. Eine konstruktive und kritische Auseinandersetzung mit der gewaltvollen Vergangenheit, aber auch mit den aktuellen Kriegen, in die europäische Staaten involviert sind, sieht jedoch anders aus. Was macht denn das Denkmal zum Symbol des Friedens? Weil einige Akteure es so sehen wollen? Weil Menschen aus ganz Europa für das Jubiläum zusammenkommen? Weil es als Negativbeispiel der Geschichte positive Impulse für eine friedliche Zukunft sendet? Weil Europa, damals im Krieg, heute friedlich ist? Ist es das? Der Vorrang von militärischen vor zivilen Konfliktinterventionen zeichnet ein anderes Bild. Den Bogen „1813-1913-2013“ als „eine europäische Geschichte“ zu spannen, als eine Geschichte vom Krieg zum Frieden, bleibt ohne die inhaltliche Auseinandersetzung leer. Das ist keine Erinnerungskultur im Zeichen des Friedens, sondern unter dem Deckmantel des Friedens.

tung

(1) www.voelkerschlacht-jubilaeum.de/jubilaeum-17/items/intro-jubilaeum.html
(2) www.l-iz.de/Leben/Gesellschaft/2013/01/Leipziger-Voelkerschlacht-Doppeljubilaeum-2013-45886.html
(3) www.voelkerschlacht-jubilaeum.de/jubilaeum-17/items/wir-wollen-ein-grosses-europaeisches-fest-feiern-dr-volker-rodekamp-im-gespraech-ueber-das-doppeljubilaeum-im-oktober-2013.html
(4) strassedermonumente.de/voelkerschlachtdenkmal.html
(5) www.voelkerschlacht-jubilaeum.de/denkmal-20/items/test.html
(6) www.l-iz.de/Leben/Gesellschaft/2012/04/Voelkerschlacht-Waffenschrott-wird-zu-Medaillen-41044.html

Lokales

Leere Orte

Antifaschistische  Erinnerungskultur in Kosovo

Den antifaschistischen Denkmälern in Kosovo ist die Bedeutung abhanden gekommen. Die ehemaligen Orte der Erinnerung sind leer. Der Zweite Weltkrieg spielt dort in den aktuellen Diskussionen um Vergangenheitsarbeit keine Rolle. Eindimensionale Konfliktanalysen haben zu eindimensionalen Ansätzen im Bereich der Vergangenheitsarbeit geführt. Die sogenannte internationale Gemeinschaft hat Vergangenheitsarbeit als wichtige Komponente des State-Building vorgegeben. Sich selbst stilisieren die internationalen Akteure lieber als Helfer statt als Konfliktakteur und damit Teil dieses Prozesses.

Zwei Themen, zwei Perspektiven – zum Einen die Vergangenheitsarbeit, zum Anderen die antifaschistischen Denkmäler in Kosovo. Eigentlich sollte das Eine ein Sammelbecken für das Zweite sein. Ist es aber nicht. Ich möchte im Folgen­den die zwei Themen aneinanderreihen, auf leeren Seiten, ohne vorschnelle Schlüsse zu ziehen, aus unterschiedlichen Perspektiven, ohne zu argumentieren. Deswegen springt der Text.

Antifaschistische Denkmäler

Wir sitzen im Büro des Partisanenverbandes in Pristina. Offiziell nennt sich dieser LANC – Vereinigung der Veteranen des antifaschistischen nationalen Befreiungskampfes. Wir – das ist die Forschungsgruppe Reconstructing the Past in Kosovo: Cultural Memory between Facts and Fiction (1), bestehend aus jungen WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, die sich vergessenen oder tabuisierten Themen im Bereich Vergangenheitsarbeit widmet und die ei­gene damit verbundene Geschichtskonstruktion kritisch hinterfragt. Als Ausgangspunkt und Orientierung für die Archivarbeit dienen uns dabei dokumentarische Verfahren in der Kunst. Das erste Atelier in diesem Rahmen widmete sich den antifaschistischen Denkmälern und deren Rolle in der heu­tigen Erinnerungskultur in Kosovo.

Das Statut des Partisanenverbandes nennt den Schutz, die Sanierung und auch die Errichtung antifaschistischer Denk­mäler als Ziele – neben der Bewahrung antifaschistischer Traditionen, Werte und Ideale, sowie der Förderung der historischen Wahrheit über den antifaschistischen Befreiungskampf und dem fortführenden Gedenken an herausragende Persönlichkeiten aus dieser Zeit. (2) Die Zerstörung antifaschistischer Denkmäler, die von 1953 bis 1989 in der autonomen Region/Provinz Kosovo als Teil Jugoslawiens erbaut wurden (mehr als 300, wenn man Büsten und Schilder mitrechnet), unterteilt der Verband in 3 Phasen: von 1989 bis 1999 (unter serbischer Besatzung), 1999 bis 2001 (von albanischen Aufständischen), und von 2001 bis heute (eine Erklärung bleibt hier aus). (3)

Wir trinken Macchiato und Rakia. Neben Vahide Hoxha, die das Gespräch mit ihren 87 Jahren als Präsidentin leitet, sitzen noch sechs weitere Mitglieder um den Tisch und berichten aus ihrer Arbeit. Das Durchschnittsalter liegt bei geschätzten 80 Jahren. Der Verband habe es verpasst, die Jugend für die Ideale des antifaschistischen Kampfes zu gewinnen. Das Problem scheint ein altes. Das jüngste Mitglied am Tisch ist 74 Jahre alt. Eine Büste von Fadil Hoxha, verstorbener Ehemann von Vahide Hoxha und einer der führenden Partisanen während des Zweiten Weltkrieges, steht in der äußersten Zimmerecke. Sie hätten keine Genehmigung bekommen, die Büste in Gjakova/Gjakovica aufzustellen, seinem Geburtsort. Deswegen stände sie nun hier. Es sei eine Schande.

Ob der Partisanenkampf für Ehre oder Verrat steht, darüber ist man sich nicht einig in Kosovo. Das Gebiet war während des Zweiten Weltkrieges zwischen Italien, Deutschland und Bulgarien in drei Besatzungszonen aufgeteilt. Unter faschistischer Besatzung genossen die Albaner weitreichende nationale und kulturelle Rechte. Den Partisanen fiel es deshalb schwerer als in anderen Teilen Jugoslawiens, die Bevölkerung für den antifaschistischen Kampf zu rekrutieren. Führende Persönlichkeiten unter den kosovarischen Partisanen proklamierten das Recht Kosovos auf Selbstbestimmung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kosovo jedoch Autonome Region Jugoslawiens. Deshalb fällt es auch heute den „letzten“ Partisanen nicht leicht, sich als Helden in die Kämpfe um die Unabhängigkeit Kosovos einzureihen.

Vergangenheitsarbeit in Kosovo

Seit der Unabhängigkeitserklärung am 17. Februar 2008 haben 101 UN-Staaten Kosovo als Staat anerkannt. Andere Staaten wie Russland, China oder Indien, und EU-Staaten wie Spanien, Griechenland und Slowakei erkennen Kosovo dagegen nicht an. Der Ahtisaari-Plan, Grundlage für die kosovarische Verfassung, beinhaltet die explizite Empfehlung, dass Kosovo einen umfassenden und gender-sensiblen Ansatz für Vergangenheitsarbeit etablieren sollte, welche die breite Auswahl an Transitional-Justice-Initiativen berücksichtigt (§ 2.5.). Der Bereich der Vergangenheitsarbeit oder auch Transitional Justice beinhaltet dabei strafrechtliche Verfolgung und Wahrheitsfindung, ebenso wie institutionelle Reformen, Reparationen sowie Erinnerungs- und Traumaarbeit. Das International Civil­ian Office hat kurz vor seinem Abzug letztes Jahr eine Arbeitsgruppe formiert, welche eine solche Strategie ausarbeiten soll. Die Gruppe besteht aus Vertretern unterschiedlicher Ministerien, Zivilgesellschaft, Opfergruppen und internationalen BeobachterInnen.

Während der gewaltsamen Konflikte in Kosovo sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertrieben und 13.100 Menschen getötet worden (HLC 2011; 01/1998 bis 12/2000) (4). Noch immer gelten 1.754 Personen als vermisst (ICRC 2013) (5).

Für die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen ist der Internationale Strafgerichtshof für das Ehemalige Jugoslawien (ICTY) zuständig, sowie nationale Gerichte in den Staaten des ehemaligen Jugoslawien. In Kosovo gehört die nationale Rechtsprechung in solchen Fällen weiterhin zu den Aufgaben der EU-geführten Rechtsstaatsmission EULEX. Der Bereich Wahrheitsfindung wird vor allem von der regionalen Fact-finding-Koalition REKOM geprägt. In dieser haben sich vor sieben Jahren die wichtigsten Dokumentationszentren der Region des ehemaligen Jugoslawien zusammengeschlossen. Heute besteht das Netzwerk aus mehr als 1800 nicht-staatlichen Organisationen, Verbänden und Individuen. (6) Ziel ist es, Druck auf die Regierungen auszuüben, damit diese eine regionale Kommission zur Investigation und Dokumentation von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zwischen 1992 und 2001 einsetzen. Mehr als eine halbe Million Unterschriften konnten die Organisationen vor zwei Jahren sammeln. Nationale und lokale Konsultationen vergrößern den Unterstützungskreis und erlauben fortwährende Diskussionen, wie eine solche Kommission aussehen sollte.

Das Humanitarian Law Center in Pristina hat darüber hinaus letztes Jahr ein Buch herausgegeben, welches die Namen und Todesumstände der Getöteten und Vermissten zwischen 1998 und 2000 dokumentiert. Besonders große gesellschaftliche Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang gilt den Familienverbänden der vermissten Personen. Viele Familien warten nun seit mehr als 13 Jahren darauf zu erfahren, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Noch immer werden Massengräber aufgedeckt, Überreste entlang von DNA-Material identifiziert und an die Familien übergeben.

Auch im Bereich Erinnerungs- und Traumaarbeit sind viele unterschiedliche nicht-staatliche und kulturelle Organisationen aktiv (z.B.: YIHR, Alter Habitus, CRDP). (7) Immer mehr KünstlerInnen thematisieren den Umgang mit der Vergangenheit – in Theaterstücken (DramaturgInnen wie Doruntina Basha oder Jeton Neziraj), in Rocksongs (etwa der Band Jericho) und in der Kunst (KünstlerInnen wie Dren Maliqi, Flaka Haliti, Sokol Beqiri oder Albert Heta). Auch viele Kulturfestivals in Kosovo wie das regionale Dokumentarfilmfestival DOKUFEST oder das Internationale Literaturfestival polip haben heute einen Schwerpunkt zum Thema Vergangenheitsarbeit.

Antifaschistische Denkmäler

Vahide Hoxha zeigt uns ihr Album, ihre Dokumentation zu den antifaschistischen Denkmälern in Kosovo – die einzige, die der Verband besitzt: vergilbte Blätter, manchmal mit Fotos, manchmal ohne, gespickt mit leeren Seiten und handschriftlichen Notizen zum Jahr der Einweihung und zur Person des Architekten. Mit zitternden Händen blättert sie von Seite zu Seite und diskutiert mit unserem Fotografen Marko Krojac, ob dieses und jenes Denkmal noch steht. Marko verspricht, ihr die fehlenden Fotos nachzuliefern. Leider kam es nie dazu, zwei Monate später stirbt sie.

Marko Krojac ist spomeniac, eine Verbindung aus dem serbischen Wort für Denkmal „spomenik“ und dem englischen Wort „maniac“. Seit Jahren reist er durch die Landschaften des ehemaligen Jugoslawiens, um auch die kleinsten antifaschistischen Denkmäler aufzuspüren und zu fotografieren. Bisher umfasst seine Sammlung mehr als 500 davon. (8) Bekannt sind vor allem die utopischen Denkmäler von Bogdan Bogdanovic in Jasenovac, Mostar, Bihac oder Prilep. Ein Denkmal, das Marko 2011 in Peja/Pec (im Westen Kosovos) fotografierte, steht zwei Jahre später nicht mehr. (siehe Foto) Die Gemeinde hat sich entschieden, das Denkmal umzusetzen, weg aus dem Stadtpark, hinaus in die Berge an einen Ort, der an Partisanenkämpfe erinnert. Diese Entscheidung sei in Absprache mit dem Partisanenverband getroffen worden, versichert uns Zija Mjulhaxha, Verbandsmitglied und ehemaliger Bürgermeister der Stadt Peja/Pec zu Zeiten Jugoslawiens. Er könne es verstehen, dass sich die Menschen seiner Stadt nach einem Denkmal sehnen, welches alle „Kämpfer“ für das unabhängige Kosovo symbolisiert, einfach sei es dennoch nicht für ihn, bei Spaziergängen nun einen leeren Ort vor sich zu sehen.

Ein Mann, der in unmittelbarer Nachbarschaft zum besagten Ort wohnt, hat eine andere Erklärung: Das sei ein serbisches Denkmal gewesen, deswegen ist es gut, dass es weg ist. Ein anderer Nachbar berichtigt ihn, dass es kein serbisches, sondern ein antifaschistisches Denkmal gewesen sei. Aber auch er meinte, es sei besser, nach vorn zu schauen. Und bei allem, was Deutschland für Kosovo getan hat, müsse man die Deutschen nicht mehr als Faschisten in Erinnerung behalten. Im Jahr 2003 wäre schon einmal eine Granate am Sockel des Denkmals explodiert. Die Fenster der umliegenden Häuser seien zerstört worden, das Denkmal selbst habe aber kaum etwas davon abbekommen.

Zija Mjulhaxha zeigt uns ein Foto, welches das Denkmal während des Abrisses vor wenigen Monaten zeigt. Marko ist sich sicher, dass es eine Fotomontage ist. Ich frage mich, aus welchem Grund jemand eine Montage gestalten sollte. So richtig real sieht das Bild aber wirklich nicht aus. Die ehemals vier metallenen, abstrakten Statuen mit erhobenen Fäusten liegen im sauberen Schnitt meterhoch vor dem Sockel und hinter drei Männern, die sich lachend vor dem entzweiten Denkmal zeigen. Hilfe bei der „Abtragung“ des Denkmals hat die Gemeinde Peja/Pec von der italienischen KFOR-Einheit bekommen, die in der Region stationiert ist. Italienische KFOR-Soldaten hätten das technische Gerät gebracht und die Arbeiten am Denkmal verrichtet. Wo die zwei Teile des Denkmals jetzt aufbewahrt werden, bevor sie an die alternative Stelle in den Bergen gebracht werden, konnte uns keiner sagen. Wer weiß, ob es sie noch gibt. Mjulhaxha beschwichtigt, das Denkmal sei an einem sicheren Ort. Ein Anruf beim KFOR-Pressesprecher mit der Frage, ob wir Bildmaterial und Informationen von der Aktion und ein Interview mit einem beteiligten Soldaten bekommen könnten, blieb ohne Erfolg. Er könne gar nicht verstehen, was ich wollte, und warum die KFOR ein solches Forschungsprojekt unterstützen sollte. Deutschland und Italien waren neben Bulgarien die faschistischen Besatzungsmächte in Kosovo im zweiten Weltkrieg – knapp 70 Jahre später helfen italienische KFOR-Soldaten, antifaschistische Denkmäler abzureißen.

Es lassen sich viele andere Geschichten zu antifaschistischen Denkmälern in Kosovo erzählen. Das antifaschistische Grab auf dem Märtyrerhügel Pristinas, welches auf der einen Seite von UCK-Gräbern und auf der anderen Seite von Rugovas Grab umringt ist, welches erst letztes Jahr renoviert wurde, aber mit völlig neuen Farben und ohne die Namenstafeln der gefallenen Partisanen. Anstelle der Namenstafeln sieht man heute Zeichnungen von kiffenden Aliens oder ejakulierenden Penissen. Anstelle der Erinnerung an den Kampf gegen den Faschismus dient der Ort heute vorwiegend der schönen Aussicht, als Spielplatz und als Dunkelkammer für Drogen und Stunden zu zweit. Oder der Obelisk auf dem Platz der Brüderlichkeit und Einheit im Zentrum Pristinas, dessen Bedeutung sich vom Monument der Revolution zum Monument der Ethnien gewandelt hat. Eine Statue im Umfeld symbolisiert nicht mehr die Partisanen, sondern erinnert durch eine Graffiti-Intervention vor einigen Jahren nun an die „internationalen Helfer“ Kosovos. Neueste Pläne der Stadt sehen eine Umbenennung des Platzes in Adem-Jashari-Platz (nach einem UCK-Kämpfer), den Abriss des Obelisken und den Bau einer Tiefgarage vor.

Vergangenheitsarbeit in Kosovo

Was will ich sagen? Dass antifaschistische Denkmäler nicht einfach abgerissen werden sollten? Sag ich das als Deutsche, oder weil das für den kosovarischen Diskurs über den Umgang mit Vergangenheit unumgänglich ist? Ich fühle mich weder als Deutsche noch als jemand, der so allgemeine Aussagen treffen wollte. Also keins von beiden. Sag ich das als Antifaschistin? Was bedeutet eigentlich Antifaschismus, was antifaschistische Geschichtsschreibung und wie ändern die sich in diesem Rahmen gewonnenen Interpretationen von Geschichte über die Zeit? Und was ist Antifaschismus gekoppelt an nationale Identitäten? Sag ich das, weil ich die Denkmäler schön finde oder schöner als UCK-Monumente oder Bill-Clinton-Statuen? Ja, ich finde das Utopische schöner als das männlich Heroische. Aber Denkmäler generell stehen gegen meine Auffassung, dass Erinnerungskulturen ständig im Wandel begriffen sind, und somit dem Material Stein völlig widersprechen. Was ist es denn dann?

Es geht mir um die verschriebene Objektivität internationaler Akteure in Kosovo. Deutschland ist und war Akteur des Konflikts in Kosovo, und sollte sich daher nicht als globales Vorbild für Vergangenheitsarbeit stilisieren, sondern eine aktive selbstreflexive Rolle in den Diskussionen um Vergangenheitsarbeit in Kosovo einnehmen. Der Rekurs auf Deutschlands Rolle im Zweiten Weltkrieg in Kosovo ist dafür unumgänglich. Und dies sollte nicht erst dann geschehen, wenn die Denkmäler abgerissen und die letzten Partisanen gestorben sind, sondern jetzt.

tung

(1) betweenfactsandfiction.wordpress.com/
(2) veteranet-lanc.org/index.php?option=com_content&view=article&id=50&Itemid=55
(3) veteranet-lanc.org/index.php?option=com_content&view=article&id=46&Itemid=53
(4) www.kosovomemorybook.org
(5) www.icrc.org/eng/resources/documents/feature/2013/05-31-kosovo-missing.htm
(6) www.zarekom.org/The-Coalition-for-RECOM.en.html
(7) Für einen Überblick über aktuelle und vergangene Initiativen: www.dwp-kosovo.info
(8) Galerie auf Flickr zu den Monumenten der Revolution: www.flickr.com/photos/23162282@N05/sets/72157610619105737/
*Die fehlende Erklärung und Nennung von Akteuren des gewaltsamen Konfliktes in Kosovo ist Intention. Anstatt eindimensionaler Konfliktanalysen und des Wiederholens von Klischees ist es manchmal besser zu schweigen.

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