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Der Traum ist aus

Ein persönlicher Wendeherbst: Vom Freiheitstraum zum Einheitstrauma

 

Ich war im Oktober ’89 fast 15 Jahre alt, seit Sommer Gruftie und interessierte mich seit circa einem Jahr für Politik, vielleicht auch schon länger. Zu Hause und in der Schule diskutierte ich über Reisefreiheit, Konvertierbarkeit der Währung, mehr persönliche Freiheiten und Friedenspolitik, Abrüstung und Wehrpflicht, mir stand ja auch das Trainingslager (ZV1) bevor, wo ich keinesfalls hinwollte. Zu dieser Zeit reisten sehr viele Leute aus der DDR aus, und auch die Anzahl der Flüchtlinge über die Tschechoslowakei und Ungarn nahm seit Sommer extrem zu. In die für uns erste Montagsdemo gerieten meine Freundin und ich eher zufällig. Wir kamen mit der Bahn (von der Tanzstunde) und die Bahn fuhr nur bis zum Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz). Wir mussten also, um nach Hause zu gelangen,aussteigen und durch die Stadt laufen, aber soweit kamen wir nicht. An der Nikolaikirche waren Menschenmassen, und neugierig wie wir nun mal sind, gingen wir nachsehen, was da los war. Solcherlei Menschenauflauf war untypisch für einen normalen Montag, es gab ja auch damals keine ständigen Demos, so wie heute, sondern nur Angeordnete zum 7.10. und 1. Mai.

Das war am 9. Oktober. Vom 2.9. in Leipzig und 7.10. in Berlin hatte ich nichts mitbekommen, sonst wäre ich sicher weniger unbeschwert gewesen. Obwohl ich auch damals schon ein Widerspruchsgeist war, der sich nicht so schnell einschüchtern lässt. Außerdem war ich jung und hatte keine Erfahrungen mit Gewalt. Wir kamen durch die kleine Gasse am Elefantenhaus und hatten eine stark eingeschränkte Sicht. Jedenfalls sahen wir uns soweit wie möglich um, unterhielten uns mit Anwesenden und erfuhren so den Grund des Auflaufs. Hier waren wir richtig!

Langsam baute sich eine Spannung auf: durch das lange Herumstehen, durch die Polizei, die langsam einen Kessel bildete, sonst aber ruhig blieb, und durch gegenseitiges Hochschaukeln. Man witzelte, dass man den Bullen sagen könnte, man müsse hier durch, weil der Zug nach Ungarn gleich fährt etc.

Dann begannen, während in der Kirche noch das Friedensgebet andauerte, die Sprechchöre mit „Wir bleiben hier“; „Neues Forum zulassen“, „Keine Gewalt“; „Wir sind das Volk“ und Leute begannen „die Internationale” zu singen. Wir beschlossen nun endgültig, an der Demo teilzunehmen. Wir waren aufgeregt, leicht enthusiastisch, aber doch angstfrei. Ich konnte mir damals in meinem jugendlichen Leichtsinn, trotz Peking, nicht vorstellen, dass der Staat Knüppel und Hunde gegen die Bürger einsetzen würde. Wir waren ja keine Fußballrowdys, wir randalierten nicht, sondern waren friedlich. Vom 17.6.1953 hatte ich eigentlich keine Ahnung, wusste nur, dass es mal Proteste gegen die Normerhöhung gegeben hatte, aber nicht, wie sie endeten.

Wir liefen also mit, riefen mit, sangen die Internationale mit und erlebten einen unglaublichen Zusammenhalt während der Demo. Dabei kamen wir mit vielen Menschen ins Gespräch, es wurden Weintrauben (Mangelware) und Getränke durchgereicht, ebenso Kerzen. Vor der runden Ecke hielt die Demo an. Während weiter gerufen wurde, befestigte man Kerzen auf den Stufen. Schließlich ging es weiter und wir liefen kurze Zeit später nach Hause, es war “nichts” passiert. Zu Hause angekommen, erzählte ich meinen Eltern davon, baute Luftschlösser vom veränderten System und was alles möglich sein würde.

Mir ging es gut als Ostkind, ich bin auch heute noch sehr froh darüber, im Osten Deutschlands aufgewachsen zu sein, aber ich hatte Träume vom Reisen (Regenwald, London) und wollte nicht zum ZV und hasste und hasse Kontrolle, Überwachung und staatliche Zwänge. Meine Eltern, besonders meine Mutter, fanden die Idee schon gut, waren aber besorgt, dass mir etwas passieren könnte. Nach einiger Zeit der Diskussion à la „Revolutionen sind toll, aber nicht wenn du daran teilnimmst und dir wehtun könntest“, erklärte ich, dass sie mich schon einsperren müssten, um zu verhindern, dass ich dort wieder hinginge.

Im Laufe der Woche begannen wir in der Schulklasse über Reformen zu diskutieren, „Neues Forum“ in die Bänke zu kratzen etc. Am nächsten Montag (16.10.) gab es vom Klassenlehrer ‘ne Ansprache, dass es verboten sei, sich den kriminellen Elementen anzuschließen, die der Klassenfeind geschickt habe, … also im Klartext: Geht nicht zur Montagsdemo, wer erwischt wird, bekommt Ärger.

Wir fuhren nicht zur Tanzstunde, sondern bummelten durch die Stadt, dabei entdeckten wir am Neumarkt Bullen auf LKWs mit kläffenden Schäferhunden, die nicht gerade zutraulich aussahen, da wurde uns schon ein bisschen mulmig. Um die Kirche herum waren schon wieder Menschenmassen, wir liefen eine Weile drumherum, guckten uns die Leute an und überlegten, ob man die Stasitypen erkennt: Typen im Trenchcoat z.B. waren für uns potentielle Verdächtige. Ein paar Leute standen auf Containern einer Baustelle. Vor der Kirche lungerten „Wessi-Reporter“ herum, die die Leute anstachelten und ihnen sagten, was sie in die Kamera rufen sollten. Widerwärtig. Wir sind doch keine Zootiere.

Die Demo lief wie die Woche zuvor. Diesmal hatten auch wir Kerzen dabei und die zerschnittenen Marmeladenglasdeckel aus Plastik, die verhindern sollten, dass einem das heiße Wachs auf die Hände tropft. Auch diesmal passierte nichts. Die Leute riefen wie gehabt nach Gorbi, dem Neuen Forum, Reformen, ”Wir bleiben hier“ etc. Kontext der Forderungen war keine Wiedervereinigung sondern eine bessere, freie DDR. Die Leute wollten nicht abhauen, sie wollten Mitbestimmungsrechte, (Reise)-freiheit, keine Überwachung und vieles mehr, vor allem wollten sie die verbesserte DDR erhalten, statt im großdeutschen Reich anzukommen. Zu Hause sah ich mir die Nachrichten auf DDR 1 an, die Tagesschau und dann noch den schwarzen Kanal.

Wir gingen auch an den folgenden Montagen zur Demo (23.10., 30.10., 6.11.). Die Stimmung wandelte sich, es gab nun viele Transparente, die Parolen veränderten sich. Es wurde das Politbüro und die Stasi angegriffen, es hieß nun häufiger ”Die Mauer muss weg“.

Von der Mauereröffnung am 9.11. erfuhr ich erst spät, da ich vorher im Kino war, und konnte es erst gar nicht glauben. Irgendwann Ende ’89 fuhr auch unsere Familie für einen Tag “in den Westen”. Ich konnte mir einen Doppelkassettenrecorder und leere Tapes kaufen und war zufrieden. Im Osten hätte mich der Recorder 1200 Mark gekostet, war also mit Taschengeld und Ferienjob nicht drin. Ich war zufrieden, mehr wollte ich dort gar nicht.

Wir gingen weiterhin demonstrieren. Parallel zu den Veränderungen im Politbüro, veränderte sich auch der Charakter der Montagsdemos. Es gab nun die Möglichkeit “in den Westen“ zu fahren, Bananen bis zum Erbrechen zu essen … Die Bürgerseele war zufrieden, es wurden zusehends weniger Demonstranten. Nun hörte man verstärkt Rufe nach Wiedervereinigung, nach “Deutschland einig Vaterland”, es wehten überall Deutschlandfahnen, Nazis verteilten Propagandamaterial von DSU, Republikanern etc..

Plötzlich gab es nur noch sehr wenige, die die DDR verbessern wollten, einige Betonköpfe die alles so lassen wollten, wie es 40 Jahre lang war, und eine Menschenmasse, die darum bettelte mit Bananen von neuen Führern dressiert zu werden. Eine Weile tat ich mir das noch an, hörte mir die Überzeugungen der Stalinisten und der Helmutverehrer an, bis mir schlecht wurde. Ich diskutierte mit bzw. gegen Altstalinisten und neue alte Nationale, doch musste ich einsehen, dass mit keinem zu reden war. Die einen genauso stur wie die anderen. Die Masse wollte sich sofort und bedingungslos von der BRD vereinnahmen lassen. Mein Einwand, dass wir in 20 Jahren als gleichberechtigte Staaten darüber nachdenken könnten, ob eine Vereinigung Sinn macht, wurde mit der Androhung von Gewalt abgewürgt.

Ich hatte die Vision, dass wir Zeit brauchen, das System zu ändern, die Wirtschaft auf dem internationalen Markt zu etablieren und eine stabile, frei konvertierbare Währung zu bekommen. Ich war gegen eine (sofortige) Wiedervereinigung, sah Existenzen scheitern, alles kaputtgehen, was hier wertvoll war. Alle die zu faul waren etwas zu verändern, hätten gehen sollen, ich wollte ein neues Land aufbauen mit denen, die motiviert dazu waren ein Land zu schaffen, das echte politische Mitwirkung zuließ, das fast alle Freiheiten bot, aber als Wirtschaftsgrundlage nicht den Kapitalismus hatte. Was Arbeitslosigkeit war, wusste ich aus den Erzählungen der Westverwandtschaft. Ich wollte nicht vor Schaufenstern mit tollen Auslagen stehen, die ich aber nicht kaufen kann, weil das Geld fehlt. Dann lieber nur 1/10 der Waren, dafür aber für alle. Ich sah DDR-Erzeugnisse in Westdeutschland, wusste von Exporten in alle Welt und malte uns realistische Chancen aus, bei gerechter Verteilung der Gewinne an alle, statt an wenige in hohen Ämtern.

Da waren doch im Oktober so viele Menschen, die etwas anpacken wollten, die das Land verbessern wollten – wo waren sie hin? Ich war plötzlich wieder umgeben von Menschen, die auf Handlungsanweisungen der Regierung warten, nur diesmal sollte der Führer nicht Erich sondern Helmut heißen. Resigniert und total gefrustet gab ich auf. Für die nächsten Jahre konnte mir Politik weitgehend gestohlen bleiben. Ich hatte Stress mit Nazis, Deutschland wurde Fußballweltmeister und „wiedervereinigt”. Der dadurch angestachelte nationale Wahn erreichte mit Rostock, Solingen und Mölln seinen Höhepunkt.

Klasse fand ich, trotz aller Enttäuschungen, die Zeit um 1990. Im Alltag war irgendwie fast alles möglich, und da kaum noch jemand an den Gesetzen der DDR festhielt und wir noch nicht unter gesamtdeutscher Gesetzgebung standen, war auch fast alles erlaubt. Man konnte besetzen, schwarz irgendwo einziehen (leere Wohnungen gab es seit Sommer ’89 genug), klauen gehen, überall Parties veranstalten etc.. Alle wollten nun Demokraten sein: die Bullen, die Lehrer, die Beamten, alle wollten im neuen System eine Arbeit erhalten und nicht unangenehm auffallen. Man gab sich bürgerfreundlich.

Aber ab dem 3.10.90 war es damit vorbei. Es gab wieder geltende Gesetze, Neue wurden erlassen.

Noch bis ’94 oder ’95 war Politik etwas was mich eher zufällig traf, wie Wahlen, paar Demos in die ich zufällig geriet etc.. Erst Mitte der 90er konnte ich mich wieder bewusst für politische Aktionen einsetzen. Als dieses Jahr „Goodbye Lenin“ im Kino lief, habe ich genauso geweint, wie gelacht. Zu lebendig wurde wieder die Zeit in der alles möglich schien um dann doch so zu enden.

 

banane

(1) Zivilverteidigung, Wehrlager für Mädchen und Jungen während der 9. Klasse, als Vorbereitung auf die Armee

Geschichte wird gemacht – Das Leipziger Bermudadreieck

Bei der Materialsammlung zum Thema Hausbesetzungen in Leipzig ist mir aufgefallen, dass es viel zu umfangreich ist, um mal eben so abgehandelt zu werden. Was also folgt ist eine Fortsetzungsstory über eine verrückte Zeit, die bei weitem nicht nur ein Wende-Aspekt, und noch lange nicht vorbei ist. Sie soll in ihrem Rahmen zum Versuch einer Geschichtsschreibung von unten beitragen.

 

40 Jahre DDR, das sind 40 Jahre, in denen „die Arbeiterklasse unter Leitung der Partei- und Staatsführung“ das Wohnungsproblem immer erfolgreicher löste. Es ging dabei um Fünfjahrespläne, Parteitage und vor allem Formulierungen. Aber so einiges wurde denn doch getan, Plattenbauten sind schnell gebaut und vor allem realsozialistisch irgendwie korrekt. Sie benötigen nur Platz, der durch Tagebau und Landwirtschaft ja nicht immer ganz einfach zu beschaffen ist. Und da alte Häuser die Eigenschaft haben zu verfallen, wenn sie nicht ab und zu erneuert werden und das nun mal teurer ist als Neubauten, löst sich das Problem von selbst: Alte Häuser weg, Platten her.

Dieses Schicksal sollte auch Connewitz treffen, irgendwann in den 90ern. Solange sollten keine Wohnungen mehr in der Gegend vermittelt werden, um die Brachiallösung auch umsetzen zu können. Bis es soweit war, musste das Wohnungsproblem eben erst mal verschoben werden – da sind alle, die freiwillig die Statistik verlassen, um auf eigene Faust in baufälligen Altbauten zu wohnen, eine Erleichterung.

Und so kreuzten sich im 80er-Jahre-Leipzig, ganz besonders in Connewitz zwei Entwicklungen, die des „Leerwohnens“ von Seiten der Führung des werktätigen Volkes und die des „Schwarzwohnens“ von unten. Dieses wurde vor allem von Leuten aus der Punk- und Bluesszene, viele von ihnen Studierende, praktiziert. Eine sich politisch definierende “Szene” gab es aber kaum, Punks und AnarchistInnen scharten sich um ein paar Bands, wie „Wutanfall“ und „L‘Attentat“. Besondere Bedeutung hatten zu dieser Zeit kirchliche Projekte, die politische Subkultur unterstützten oder zumindest in ihren Räumen duldeten. Der „Mockauer Keller“ der Kirchengemeinde avancierte zum DDR-weitem Punkertreff, was natürlich nicht konfliktfrei ablaufen konnte – erste Auseinandersetzungen mit Nazis fallen in diese Zeit. Sie beschränkten sich zunächst auf Schlägereien bei Partys und hatten einen relativ unpolitischen Charakter.

Das plötzliche Chaos der Wende platzte also mitten in eine Zeit, die schon so von subkultureller Dynamik geprägt war.

Bei den montäglichen Massendemos roch es mehr und mehr nach Veränderung und Umsturz, überall war es plötzlich modern gegen “Die da oben” und “Die Roten” zu sein. Die völkischen Töne auf den Demonstrationen, die mit der Zeit immer mehr zunahmen (“Wir sind ein Volk” usw…), waren Wasser auf die Mühlen der Nazis, die sich durch ihr aggressives Auftreten und ihre „Oppositionsrolle“ massiv Zulauf verschaffen konnten.

Auf der anderen Seite taten sich plötzlich Möglichkeiten für Autonomie und Freiheit auf. Es war auf einmal möglich, Häuser nicht nur schwarz zu bewohnen sondern auch „offiziell“ zu besetzen. Den Anfang machten dabei Ende `89 einige Jugendliche in der Connewitzer Stöckartstraße (“Stö”), es folgten zwei Besetzungen im Stadtzentrum, die Quer- und Sternwartstraße, die sich ganz besonders mit dem Nazi-Problem konfrontiert sahen.

Aus dem Umfeld des Mockauer Kellers ging währenddessen eine Punk- und Hardcore-Konzertreihe mit Namen REAKTION hervor. Regelmäßig wurden Bühnen angemietet und internationale Bands eingeladen – mehr und mehr kam die Idee eines eigenen Zentrums für politische Subkultur auf, das sich nach einer spektakulären Rathausbesetzung im Conne Island einnisten konnte.

Der Verein Connewitzer Alternative e.V. (CA), aus der Stö hervorgegangen, hatte sich derweil auf die Fahnen geschrieben, das Wohnungsproblem direkt anzupacken und in Verhandlungen mit der Stadt „Instandbesetzungen“ legalisieren zu lassen. Anfang 1990 sprach die letzte “Volksbaukonferenz” einen Abrissstop für Leipzig aus (ein völliger Umsturz der „Stadtplanung“) und das Amt für Stadtsanierung vergab an alle, die sie haben wollten, Nutzungsverträge. Die CA bündelte nun die Verträge für 14 besetzte Häuser im Rahmen eines Genossenschaftsmodells, bis die städtischen Immobilien irgendwann im Wendechaos wieder an die LWB übertragen wurden. Diese akzeptierte die DDR-Dokumente nicht mehr und daraus ergab sich ein jahrelanger juristischer Hickhack um Leih- und Erbpachtverträge, Restitution (Rückführungsanträge ehemaliger BesitzerInnen) und Hausordnungen, bei dem immer wieder mit Räumungen gedroht wurde: “Was Sie da machen ist ja Hausfriedensbruch.”

Der Umstand, dass die LWB die Mieten immer weiter in die Höhe trieb, damit das Recht auf Wohnen immer mehr zugunsten von Kapitalinteressen opferte und für “nichtvermietbaren Wohnraum” wie in der Stö auf einmal volle Miete haben wollte, gaben der BesetzerInnenszene immer mehr lokalpolitische Relevanz.

Mittlerweile waren mehr Häuser besetzt worden, viele davon in Connewitz, wie die Leopold- und Meusdorferstraße. Und es ging immer weniger nur um Wohnraumbeschaffung, sondern immer mehr um Freiräume für politische Praxis, um Kultur und Punkrock. Im Laufe des Jahres 1990 etablierte sich im Connewitzer “Bermudadreieck” zwischen Wolfgang-Heinze- und Bornaischer Straße ein linker „Kiez“: Eine Gegend, in der es möglich war, für eine Weile unterzutauchen, quasi aus dem grauen Normalltag zu verschwinden. Der „Zug nach Connewitz“ mag aber auch einfach daran gelegen haben, dass viele Leute nach der abendlichen Kneipentour keine Lust mehr hatten, quer durch die Stadt nach Hause zu wandern. Auch außerhalb sprach sich die Sache herum und so wimmelte Connewitz von bunten Leuten, die die anarchische Atmosphäre schnuppern wollten oder auch gleich dablieben. Leute die damals dabei waren, sprechen heute von einer “Dauerparty“ – mit immer neuen Kneipen in den Erdgeschossen und Straßenlagerfeuer.

Aber auch die Nazis waren nach der “Wiedervereinigung” im Aufwind – Volksgemeinschaftszugehörigkeit schien auf einmal ein ungeheuer wichtiges Kriterium zu sein. Kohls “Blühende Landschaften” waren nirgends zu sehen und am allgemeinen Frust waren natürlich die “Anderen” schuld: Ausländer sind Untermenschen und “nehmen die Arbeit weg”, Linke “wollen nicht arbeiten” und passen erst recht nicht ins Wahnbild eines homogenen Faschismus.

Und so war es letztendlich auch der um sich greifende rechte Straßenterror, der die Szene radikalisierte…

 

soja

 

Im nächsten Heft könnt ihr was über die Leipziger Antifa-Geschichte, das Klarofix und die sagenumwobene Nacht des 27.11.1992 lesen.

Quelle: u.a. “Haare auf Krawall”, Klarofix Sondernummern

„…es war auch ziemlich akzeptiert von der Allgemeinheit…“

Connewitz in den wilden Wendezeiten. Die Reihe geht diesmal mit dem Interview eines Besetzungsveteranen weiter, der auch heute noch gut dabei ist.

FA!: Du warst doch 1990 bei den Leipziger Hausbesetzungen dabei, wie bist du denn mit den Leuten zusammengekommen und was war überhaupt eure Motivation, diese Häuser zu besetzen?

Marc: Das fing damit an, dass ich im Rahmen von Gegenaktionsvorbereitungen zu einer großen Helmut-Kohl-Demonstration Leute kennengelernt habe, die grad in Lindenau ein Haus besetzt haben. Dort bin ich dann eingezogen, im Frühjahr 1990. Ende des Jahres sind dann Leute von da nach Connewitz gezogen, als es anfing, zum Zentrum von Linken und Besetzern zu werden. 1990 gab es da erstmal die Besetzungen in der Stöckartstraße, die waren auch gleich sehr organisiert, als Verein in der „Connewitzer Alternative“ (1). Das hat dem Ganzen eine gewisse Dauerhaftigkeit gegeben. Aber es gab in Leipzig eben auch andere Besetzungen. Wir hatten, wie gesagt, ein Haus in Lindenau. Dann gab´s Leute, die in der Querstraße ein Haus besetzt hatten, oder es gab die Häuser in der Sternwartenstraße. Ich weiß aber nicht, wie viele „stille“ Besetzungen es zu der Zeit gab, das heißt, dass Leute einfach in leere Häuser oder Wohnungen eingezogen sind. Das war damals eine verbreitete Praxis und auch ziemlich akzeptiert von der Allgemeinheit, da man die Häuser ja damit ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt hat, statt sie vergammeln und leerstehen zu lassen oder sie abzureißen. Das hat es der Besetzerszene, die sich damals in Leipzig und anderen Städten gebildet hat, leicht gemacht, weil sie ja nicht das Stigma hatte, etwas unmoralisches zu tun, sich irgendwas zu nehmen was ihnen nicht gehört oder so. Es war eben sehr viel verbreiteter als es das heute ist, gerade bei jungen Leuten.

FA!: Gab es denn bei den Jugendlichen eher eine positive Aufbruchstimmung oder war es eher die Ablehnung eines Trends, also der „Deutschen Einheit“?

Marc: Von „den“ Jugendlichen zu sprechen, ist sowieso Quatsch. Selbstverständlich waren die Hausbesetzer in Leipzig eine Minderheit, als sogenannte „linke Szene“, die damals anfing, sich als „autonom“ zu verstehen. Für mich und die meisten Leute, mit denen ich damals rumgehangen hab, war das ziemlich stark davon bestimmt, dass man vor diesem neuen Deutschland Angst hatte und dachte, man müsste was dagegen tun. Das war sichtbar und spürbar. Überall gab es diese Nazi-Kids, die anfingen, sich zu organisieren oder organisiert wurden, die auf der Straße Leute zusammengeschlagen haben Und dagegen was zu setzen: Eigene Kultur und eben ein Stück weit auch militante Gegenwehr, war für uns damit verbunden, zusammen zu wohnen. Das war nicht nur die Frage: Hab ich ´ne Wohnung oder hab ich sie nicht, sondern natürlich auch dieses ganze Gefühl, was sich drumherum bewegt hat: Gemeinsame Konzerte oder zusammen kochen, alles das, was mit Hausbesetzungen verbunden ist, hat mit Kollektivität und eben auch mit sich-gemeinsam-gegen-die-feindliche-Umwelt-wehren zu tun. Trotzdem war es natürlich von einer Aufbruchstimmung geprägt, weil für uns erstmal alles erlaubt war. So dass wir zunächst wenig Angst hatten, irgendwo rauszufliegen oder mit Bullen konfrontiert zu sein. Das war erstmal überhaupt nicht die Schwierigkeit. Ich kann mich erinnern, dass ich 1990/91 viel mehr Angst hatte, dass Faschos unsere Häuser überfallen.

FA!: Wie hat denn die Präsenz der Nazis die Bewegung letztendlich beeinflusst? Hat das zu einer stärkeren Militanz geführt, oder mehr zu einem Rückzug?

Marc: Beides. Erstmal hat es natürlich dazu geführt, dass ich Leute aus bestimmten Stadtteilen zurückgezogen und in anderen wieder gesammelt haben. In der Sternwartenstraße gab es mehrere besetzte Häuser, wo circa 40 Leute gewohnt haben und in Connewitz gab´s diese Häuser. Leute sind natürlich aus Grünau verschwunden, aus nachvollziehbaren Gründen. Aus Mockau auch, da gab´s so Gruppen um die FAP, die sich gemeinsam um sechs Uhr zum Frühsport getroffen haben und so ´ne Scheiße. Das war kein Platz, wo man sein wollte. Andererseits gab´s dann in Connewitz so eine Kneipenszene von besetzten, selbstverwalteten Kneipen, was natürlich dazu geführt hat, dass sich da immer mehr Leute angesammelt haben. Hier gab es die Infrastruktur, wo man sich sowieso gerne aufhielt. Wir sind oft zu Fuß oder mit dem Fahrrad von Connewitz nach Lindenau getourt, was natürlich ziemlich oft eine unangenehme Erfahrung war. Viele haben dann gesagt: Ok, dann ziehen wir gleich nach Connewitz.

FA!: Also waren die Nazis quasi schuld, dass Connewitz sich als linkes Zentrum etabliert hat?

Marc: Nicht nur. Die Nazis waren für dieses Gefühl mitverantwortlich, dass man sich zusammenkuschelt und sich gemeinsam gegen die feindliche Umwelt zur Wehr setzt. Aber es lag eben auch daran, dass es hier aktive Leute gab, die dafür gesorgt haben, dass es sich lohnte, hier zu sein, und eben nicht in Lindenau. Obwohl es in Letzsch und Plagwitz immer Leute gab, die da gewohnt haben, und versucht haben, was zu tun. Es war nicht so, dass alle nach Connewitz gezogen wären, aber im Laufe des Jahres 1991 gab es so eine Massierung, wo Leute hierhergekommen sind, weil es hier einfach gefetzt hat und eben sicherer war. Es gab Leute, die sich gar nicht mehr aus dem Kiez rausgetraut haben. Leute sind hier gelandet, haben sich nur noch innerhalb ihrer fünf Straßen bewegt und sich beim Straßenbahn fahren immer zwei Freunde mitgenommen, weil sie Angst hatten. Für uns aus Lindenau war das natürlich immer etwas lächerlich. „Also Leute, was stellt ihr euch vor, wie‘s in der Welt zugeht?“

FA!: Die Häuser waren ja nach den Ereignissen im November `92 und dieser Anti-Besetzungs-Kampagne konkret von der Räumung bedroht. Wie habt ihr reagiert? Eher mit stärkerer Konfrontation oder mit Verhandlungsbereitschaft und Öffentlichkeitsarbeit?

Marc: 1992 wurde erstmal mit Öffentlichkeit reagiert. Nach dem Riot im November und nachdem Thümi erschossen worden war, hat diese Szene erkannt, dass sie ziemlich von der Berichterstattung anderer abhängig war und das, was in den Zeitungen stand, nie das war, was man selber dachte und wollte. Anfang `93 sind dann solche Strukturen entstanden, wie der Ermittlungsausschuss, der zuerst KGB (Koordinierungsgruppenbüro) hieß. Oder eben Öffentlichkeitsarbeit im Sinne von: Wir machen unsere eigene Zeitung und wir machen das regelmäßig. Deshalb ist im Sommer `93 auch das erste KLAROFIX rausgekommen, um Öffentlichkeit über das herzustellen, was die Szene bewegte und für sie Plattform zu sein. Vorher gab es eben irgendwelche Plena gegeben, oder eine Gruppe hat ihre Flugblätter an irgendwelche Häuserwände tapeziert.

Bei Konfrontation weiß ich nicht, was du dir vorstellst. Sicher gab es Schlägereien mit Nazis, aber es gab keine konfrontativen Aktionen gegen die Stadt.

FA!: Waren die Nazis denn die einzigen Gegner der Szene, oder gab es auch Reibereien mit Nachbarn, die die Leute raus haben wollten?

Marc: Ich würde sagen, solche Nachbarn gab´s immer. 1991, als das ZORO besetzt wurde, gab es ziemlich früh Leute, die dagegen waren, dass das Haus von „solchen Leuten“ bewohnt und bewirtschaftet wird. Da gab es den Besitzer vom Hotel „Alt-Connewitz“, der einen Bürgerverein gegründet hat, um irgendwie gegen die Szene vorzugehen. Und gerade im Laufe des Jahres `92 hat die Kampagne gegen die Besetzungen dann einen Höhepunkt erreicht. Auch diese Spaltungsversuche in die „Guten“ von der Connewitzer Alternative und die bösen, radikalen Autonomen. Diese Spaltung ist von außen rangetragen worden, hat aber zu einem guten Teil auch funktioniert. Es gab da viele Auseinandersetzungen um solche Fragen.

FA!: Es hat sich ja seit Anfang der 90er eine Menge getan. Wie würdest du die Entwicklung denn insgesamt bewerten?

Marc: Naja – klar sind die Zeiten, als in der Stadt viele Leute unterwegs waren, um Häuser zu besetzen, vorbei. Andererseits hat sich die Szene gehalten und ein wenig ausdifferenziert. Seit Anfang der 90er sind ja neben den Projekten und Häusern, die verschwunden sind, auch einige neue dazugekommen, die ja zu einem großen Teil auch von Leuten gemacht werden, die 1992 noch gar nicht in der Stadt oder noch in der Schule waren. Insgesamt ist die Situation in Leipzig also nicht so schlecht.

Ich habe den Eindruck, dass gerade junge Leute, die das damals nicht mitbekommen haben, die Infrastruktur, die es gibt, für viel selbstverständlicher halten, als sie ist. Ich habe oft Besuch aus anderen Städten, der ziemlich überrascht ist, wie viel es hier in der Stadt gibt. Wir haben hier in Leipzig ’ne ziemlich außergewöhnliche Situation, was natürlich vor allem daran liegt, dass es immer Leute gegeben hat, die sich gekümmert haben, die an ihren Sachen drangeblieben sind und hoffentlich auch in Zukunft dranbleiben werden.

FA!: Dann vielen Dank für das Interview, Marc!

(1) zu Gruppen und Strukturen, die zum größten Teil jetzt noch existieren, siehe: www.left-action.de

Wendezeiten

„Was soll die Toleranz?“

Teil II der Connewitz-Story – Über eine Nacht vor 11 Jahren, nach der ziemlich viel anders war, als vorher. Die Bullen schießen, denn zum schießen sind sie da.

Halb acht Uhr abends in der Connewitzer Leopoldstraße: Einige Jugendliche sind dabei, ihren Frust an Autoscheiben abzulassen. AnwohnerInnen rufen die Polizei. Diese rückt kurz darauf mit 19 Beamten und einer Beamtin an, um die „KFZ-Schäden zu überprüfen“. Zwei „Tatverdächtige“ werden verhaftet, einige Freunde holen derweil Hilfe aus dem nahegelegenen Conne Island. Kurz darauf sind 20 Leute in der Leopoldstraße und attackieren die Einsatzkräfte mit Steinen. Nach dem Verlust ihrer Frontscheibe fühlt sich Polizistin Oertel derart bedroht, dass sie scharf schießt: Daniel H. (17) wird in die Hüfte getroffen. Die Einsatzkräfte ziehen sich zurück. Es ist 22.35 Uhr.

Die Kunde, dass die Polizei auf Menschen schießt, verbreitet sich in Connewitz wie Tabasco im Mund. Die Gerüchteküche trägt ihren Teil dazu bei: Die Räumung sämtlicher besetzten Häuser stehe bevor, und ähnliches. Bald steht auf der Leopoldstraße die erste Barrikade, es folgen weitere auf derW. Heinze- und der Stöckartstraße („Stö“). Währenddessen sammeln sich am Connewitzer Kreuz drei Hundertschaften Bereitschaftspolizei aus Leipzig, Halle, Dresden und Chemnitz. Brutale Personenkontrollen werden durchgeführt, „der linken Szene zuzurechnende Personen“ verprügelt oder verhaftet. Ein Nazi-Mob rottet sich derweil unbehelligt am gleichen Ort zusammen.

Gegen 24 Uhr dann die ersten Steinwürfe auf die Einsatzkräfte: Die „Ordnungshüter“ schlagen zurück – mit Knüppeln, Wasserwerfern, Tränengas, Nebelgranaten und Hunden werden die circa 200 „Störer“ die Bornaische Straße, Richtung Süden gedrängt. Schaufensterscheiben gehen zu Bruch, einiges wird geplündert. Auch Nazis sind jetzt auf einmal dabei, teils gegen die Polizei, auf jeden Fall aber gegen die Linken. An den Barrikaden macht mensch sich daran, diese anzuzünden. Die Wasserwerfer verbrauchen 20.000 Liter und können problemlos im Werk II aufgetankt werden.

Als sich die Polizei dem ZORO nähert, bricht dort Panik aus: Einige wollen fliehen, andere den Zugang dichtmachen. Ein paar der auf der Straße gehetzten Leute fliehen ins Haus, was von Grün-Weiß zum Sturm genutzt wird: Ohne Vorwarnung werden die Türen zertrümmert und so viele Leute verhaftet, wie in die Gefangenenbusse passen. Diese werden draußen noch einem Spießrutenlauf mit gezielten Schlägen auf den Kopf ausgesetzt.

Die ganze Nacht über sind Greiftrupps der Polizei im Viertel unterwegs, Feuerwehr und Sanitäter arbeiten auf Hochtouren. Bis zum offiziellen Ende der Aktion um 4:18 Uhr gibt es nur noch sporadischen Widerstand. Von einer Erstürmung der Stö-Barrikade sieht die Einsatzleitung aber ab – ein kleiner Triumph für die BesetzerInnen. Die Bilanz am nächsten Morgen sieht trübe aus: 42 Verhaftungen, ca. 1 Million DM Sachschaden, viele Verletzte und Schwerverletzte. Darunter Daniel, der die nächsten Wochen auf der Intensivstation verbringt.

Es bleiben einige Fragen offen: Warum waren Bereitschaftspolizei und Feuerwehr schon Stunden vor dem Krawall in Alarmbereitschaft? Warum braucht die Polizei 20 Leute zur „Überprüfung von KFZ-Schäden“? Und welche Rolle spielten die Nazis bei der Sache? – Spekulation. Fakt ist, dass nach den Ereignissen des 27./28. November eine Diffamierungskampagne gegen die alternative Leipziger Szene startet, die jetzt meist mit „kriminell“ tituliert wird. Polizeistreifen fahren von nun an im Schritttempo durch Connewitz und sämtliche reaktionär-konservativen Kreise haben ihren Senf dazuzugeben. Faschistisch anmutende Forderungen, die „Ratten“ endlich alle zu „erschießen“, halten unkommentiert Einzug in die Tagespresse. Die Obrigkeit nutzt die öffentliche Hetze geschickt aus: Herr Tschense, damals Leiter des Wohnungsamtes und heute inoffizielle Nummer Zwei der Stadtpolitik, kommentiert süffisant: „Ob die ihre Häuser rot, grün oder blau anmalen, ist mir egal. Aber wer nachts Autos anzündet und das alternativ findet, gehört in eine Kohlengrube. Das kann nur heißen: Räumung.“

Geräumt wird dann letztlich doch nur ein Haus in der Leopoldstraße, und das auch noch illegal. Die Stadt stellt den BewohnerInnen nach einer Weile die Braustraße 12 zur Verfügung. Auch die Alternative Wohnungsbaugenossenschaft Connewitz (AWC) und andere Gruppen können durch ausdauernde Verhandlungen die Lage wieder konsolidieren.

Folgenschwer bleibt allerdings die Durchsetzung der berüchtigten „Leipziger Linie“ von Seiten der Stadtverwaltung: Neue Besetzungen werden ab jetzt auf keinen Fall mehr toleriert. Die glorreiche Ära der wilden Squats geht auch in Leipzig für‘s erste zu Ende.

soja

Wendezeiten