Von Sündenböcken in Jägerkasernen

Die Geschichte eines Gerüchtes

Als die EU am 19. Dezember 2009 den Visumzwang für Mazedonien, Serbien und Montenegro aufhob, war dort die Freude groß: Bis zu 90 Tage sollten sich Angehörige dieser Staaten nun legal innerhalb der EU-Schengengrenzen aufhalten dürfen. Was dann geschah, war vorherzusehen. Tausende von Menschen wechselten aus rechtlicher Perspektive von einem legalen Status in den anderen und beantragten vor Ablauf ihres Touristenvisums Asyl. Denn zu Hause war ein hartnäckiges Gerücht im Umlauf: Wer im Besitz eines biometrischen Passes sei, hieß es, könne nach Westeuropa auswandern. In Belgien oder in den skandinavischen Staaten erhalte man sogar Asyl. Für Angehörige von Minderheiten wie mazedonischen Roma oder Albanern, die unter struktureller Arbeits- und Perspektivlosigkeit leiden, ein verlockendes Angebot.

545 Menschen sollen es laut dem Medienservice allein in Sachsen gewesen sein, die in den ersten neun Monaten nach Abschaffung des Visumzwangs Anträge auf Asyl gestellt haben, im Vergleich zu insgesamt 45 im Jahr 2009. Der Spiegel schrieb von einer „Asylbewerberwelle“, Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) von einem „offenkundigen Missbrauch“ des Asylrechts. Sachsens damaliger Innen- und amtierender Staatsminister Markus Ulbig (CDU) wetterte: „Wer missbräuchlich Asyl beantragt, schadet denen, die unseren Schutz brauchen. Hier muss der Staat reagieren.“ Der Staat reagierte wie ein autoritärer Vater, der nicht weiß wie er seine undisziplinierten Kinder, bestrafen soll, indem er bereits im vergangenen Oktober die finanziellen Rückkehrhilfen strich – 400 Euro pro erwachsenen Asylsuchenden aus Serbien und Mazedonien, der „freiwillig“ das Land verlässt. Schließ­lich sei nicht auszuschließen, verlautete in sächsischen Regierungskreisen, dass die Asyl­be­werberInnen nur gekommen wären, um das Geld abzugreifen.

Das Argument hatte schon jemand anderes salonfähig gemacht: Sarkozy, während der massiven Abschiebungen von Roma aus Frankreich. Für den Staat ist die freiwillige Rückkehr billiger als Abschiebungen. Und sie werfen in den Statistiken für die EU und die Internationale Organisation für Migration (IOM) ein wärmeres Licht auf die im internationalen Kontext als repressiv bekannte Ausländerpolitik in Deutschland.

In einer Pressemitteilung vom September 2009, beklagte die Landesdirektion Sachsen eine „punktuelle Belastung“ speziell durch Asylbewerbern aus Mazedonien, deren Unterbringung sich immer schwerer gestalte. Man arbeite an Lösungen, hieß es weiter. Trotz des überproportionalen Gebäude-Leerstandes in Sachsen, sind es oft ehemals militärische Gebäude, die dann zur Unterbringung der Flüchtlinge umfunktioniert werden. Wie in Schneeberg im Erzgebirge, wo die mazedonischen Flüchtlinge im Zuge der „Migrationswelle“ in einer Jägerkaserne untergebracht wurden. Noch vor ihrer Einquartierung heizte Bürgermeister Frieder Stimpel (CDU) die Stimmung in der Regionalpresse an. Ein Anstieg von Diebstählen im Ort sei nicht auszuschließen. Zudem sei eine Erstaufnahmeeinrichtung in Schneeberg „nicht gerade förderlich, wenn ich dort Gewerbe ansiedeln will“. Die Gefahr in Verzug durch die eingereisten „Nichtdeutschen“, wie „Ausländer“ im Kriminalistik-Slang genannt werden, sieht auch der neue Eigentümer der Jägerkaserne Gustav Struck, Bruder des ehemaligen deutschen Ver­tei­di­gungs­ministers Peter Struck (SPD). Auch er könne nicht ausschließen, dass die Vermarktung des Geländes durch die Unterbringung von Asylbewerbern erschwert werde.

Die Landesdirektion Chemnitz bemühte sich, die mazedonischen Familien zur „Zurücknahme der Asylanträge und zur freiwilligen Ausreise“ zu bewegen. Im November fuhren schließlich zwei mit Flüchtlingen gefüllte Reisebusse von Sachsen nach Mazedonien.

Auch in Leipzig ist die Überredung zur freiwilligen Ausreise bereits übliche Praxis geworden. Im Flücht­lings­heim in Grünau, werden speziell mazedonische Roma-Familien, die das Einver­ständ­­nis ihrer freiwilligen Ausreise unterschreiben sollen, von Behörden-Ver­tre­ter­Innen aufgesucht. Für Lunchpakete werde gesorgt.

Auch auf europäischer Ebene wurden Maßnahmen getroffen. Brüssel ermahnte die mazedonischen Behörden. Das zeigte bereits Wirkung, denn diese schlossen im März mehrere Reiseagenturen, die Ausreisewillige nach Westeuropa transportiert haben sollen. Eines der betroffenen Busunternehmen in der Hauptstadt Skopje gehörte der Familie eines Abgeordneten, der die Roma im mazedonischen Parlament vertritt. Währenddessen wird in Skopje ein architektonisches Prestige-Projekt geplant: bis 2014 sollen Denkmäler und repräsentative Bauten im Zentrum von Skopje für 80 Millionen Euro saniert werden. Gelder für ökonomisch rückständige Gebiete wie die, in denen Roma leben, werden indes nicht locker gemacht. Derlei Unsinnigkeit und vermeintliche Widersprüchlichkeit erlebt man aber auch in Leipzig. Denn die MigrantInnen sind nicht willkommen, obgleich es doch laut dem Amt für Statistik und Wahlen der Stadt, „überdurchschnittlich Migran­ten­familien unterschiedlichster Herkunft [sind], die durch Kinderreichtum dafür sorgen, dass die Geburtenraten in Leipzig in den letzten Jahren beständig über bundesdeutschem Durchschnitt lagen.“

Fortsetzung zu den Leipziger Verhältnissen folgt.

Clara Fall

Lokales

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