„VORSICHT, LUKASCHISMUS!“

(K)eine Wahl für Belarus

Wenn es irgendwo in Europa nach Revolte riecht, dann sind die Augen der Kameras und das Ohr der Öffentlichkeit schnell vor Ort. In diesem Fall in Belarus, wo im März tausende Menschen gegen Manipulation und Fälschung der vorangegangenen Präsi­dent­schafts­wahl protestierten. Angefeuert von westlichen Akteuren, die auch vor subversiven Mitteln gegen den amtierenden Präsidenten nicht zurückschreckten, konnte in den Nachrichten eine medienwirksame Demonstration kritischer Opposition zum Lukaschen­ko-Regime gezeigt werden. Schnell kamen Vergleiche mit den Vorgängen in der Ukraine oder Georgien auf, mit einem gebannten Blick darauf, was denn aus diesen mutigen Protestlern für eine „echte“ Demokratie in Bela­rus werden würde. Nun sind die Tage der Proteste auf dem Okto­ber­platz in Minsk erstmal vorbei. Hunderte Teilnehmer und Initiatoren sitzen im Gefängnis*. Alexandr Lukaschenko wurde mit offiziell 82,6% der Wählerstimmen im Amt bestätigt. Vorwürfe der massiven Wahl-Manipulation sind dabei wohl nicht von der Hand zu weisen. Doch die Vorwürfe, die gegen den als „letzten Diktator Europas“ bezeichneten Präsidenten die von verschiedensten Seiten geäußert werden, sind nicht alle so berechtigt, wie hierzulande gern einseitig dargestellt.

Seit zwölf Jahren regiert Lukaschenko nun und hat in dieser Zeit die Verfassung mehrmals zu seinen Gunsten ändern lassen. Laut dieser Verfassung, die 1994 Belarus als „einheitlichen, demokratischen und sozialen“ Staat konstituierte, hätte der Präsident nicht für eine dritte Amtszeit im Jahr 2006 kandidieren dürfen. Doch mithilfe eines 2004 ini­tiierten Referendums ließ er sich vorausschauend von der Bevölkerung mit offiziell rund 80% dafür ermächtigen. Bereits acht Jahre zuvor hatte sich Lukaschenko, ebenfalls durch ein Referendum, mehr Machtbefugnisse für seine Position eingeräumt, womit ihm seitdem umfangreiche legislative Rechte und die Möglichkeit des Erlasses von Sondergesetzen zustehen. Die durch diese Verfassungsänderung auch neu formierte Legislative in Form einer Nationalversammlung ist in ihrer Bedeutung für die Regierung stark zurückgestellt. Durch diese allmähliche Zurechtstutzung der Verfassung, die einer autoritären Restauration gleichkommt, gibt es kaum Chancen, eine Veränderung politisch herbeizuführen. In der jetzigen Nationalversammlung sind ohnehin praktisch keine oppositionellen Kräfte vertreten. Und eine starke, geeinte, fähige Opposition gibt es in Belarus nicht, was verschiedene Gründe hat:

Anders als in den meisten GUS-Ländern gab es in Belarus in den 1990ern keine durchdringende „wilde Privatisierung“ der Staatsbetriebe, wodurch sich eine einflussreiche oppositionelle Oli­garchen­schicht mit direktem Zugang zu den Medien hätte herausbilden können. Rundfunk und Zeitungen sind weitgehend verstaatlicht und freie Medien haben zu schwache Auflagen. Zugang zum Internet, dem noch am wenigsten kontrollierten Medium, ist bisher nur wenigen Weißrussen möglich, auch wenn ihre Zahl steigt. Kundgebungen oder Demonstrationen werden oft nicht genehmigt oder an den Stadtrand verlegt. Teilnehmer illegaler politischer Veranstaltungen werden mit rigoros vorgehenden Sicherheitskräften konfrontiert und mit hohen Geldbußen oder Gefängnis bestraft. Manche Parteien und politische Organisationen werden gleich ganz verboten und es gab auch Fälle prominenter Politiker, die ungeklärt „verschwanden“.

Ein weiteres Problem dagegen betrifft die Opposition selbst. Seit 1994 haben sich mehrere, sowohl westlich orientierte „Modernisten“, die sich liberaldemokratisch und auch nationalistisch präsentieren, sowie die sowjetophilen „Traditionalisten“ in verschiedenen Parteien organisiert. Dabei verfolgen einige Parteien eher einen Zickzackkurs zwischen Auflehnung und Opportunismus. Einen einheitlichen Oppositions-kurs und mehrheitlich akzeptierten Gegenkandidaten gegen Lukaschenko zu finden, blieb auch für die diesjährige Wahl ein großes Problem. Man konnte sich schließlich zwar in einem Bündnis zusammenfinden und einen Kandidaten vorweisen, die Ergebnisse der Wahl fielen dann aber eindeutig aus: Von den insgesamt vier Kandidaten konnte keiner an Lukaschenko auch nur annährend heranreichen. Seitens der Opposition wurde versucht, durch Anfechtung der Wahlergebnisse eine Neuwahl zu veranlassen, um so, ähnlich wie in der Ukraine oder Georgien, einen Machtwechsel durch Mobilisierung der Massen zu erzwingen. Aber die Proteste in der Wahlnacht und den darauf folgenden Tagen zogen nicht so viele Menschen an, wie vonnöten gewesen wären, um unterstützt durch westliche Drohgebärden genügend Druck auszuüben.

Denn auch wenn die Ergebnisse der Wahlen manipuliert wurden – der Präsident genießt einen stabilen Rückhalt in weiten Teilen der weißrussischen Bevölkerung. Es ist anzunehmen, dass er tatsächlich eine absolute Mehrheit der Wähler hinter sich hatte. Eine vom Volk selbst gewählte Präsidialautokratie also? Offenbar gibt es im Lukaschenko-Land, in dem noch 2/3 der Wirtschaft in Staatshand sind, für die Bevölkerung keine ausreichenden Gründe, ihre Situation verändern zu müssen. Einkommen und Renten beispielsweise, werden auf halbwegs befriedigendem Niveau gesichert, die Staatswirtschaft ist relativ stabil und die Landwirtschaft wird gut subventioniert. So genießt der Präsident Popularität vor allem bei den Alten, denen es im Vergleich zur Sowjetzeit sogar etwas besser geht. Viele der älteren Generation trauen den Versprechungen des Westens nicht. Und so stellen sie sich hinter ihren Patronarchen, der sich auch um seinen Nachwuchs kümmert: Perspektivlose oder aufstrebsame Jugendliche aus den ländlichen Gegenden und Kleinstädten werden für den abgesicherten Staatsdienst rekrutiert und somit loyale Regimebefürworter in die großen Städte geholt. Ein zunehmend in Belarus, wie auch in Russland, geschürtes nationalistisches Pathos wirkt zudem für viele identitätsstiftend und damit das System stabilisierend. Sowjetisches Erbe und orthodox-patriarchale Gesellschaftsstrukturen haben sich auf die politische Kultur des Wahlvolks niedergeschlagen. Autoritäts­gehorsam, Neigung zu Konformismus, mangelndes Demokratiebewusstsein und eine nur widerwillige Bereitschaft für wirtschaftliche und politische Reformen haben außerdem zur Popularität von Lukaschenkos Kurs beigetragen.

„ZEIT ORDNUNG ZU SCHAFFEN!“

Doch in Minsk weht den Leuten schon der warme Westwind um die Nase. Vom westlichen Lebensstandard angelockt und durch Massendemonstrationen à la Ukraine ermutigt, wollen auch sie die Vorzüge demokratischer Freiheiten für sich beanspruchen. Da es dabei um elementare Rechte, wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit geht, welche gerne als Blendwerk kapitalistischer Bestrebungen hochgehalten werden, ist eine Unterstützung der Protestler durch USA und EU gewiss. Schließlich geht es um Sicherheit: Öl- und Gastransite aus Russland, weitere Expan­sions­zonen an den neuen Grenzen der Europäischen Union, strategische Ausweitung des militärischen Einflussbereichs – über­haupt um die Eingliederung in die westliche Familie, wogegen sich Lukaschenko in Orien­tierung auf den großen russischen Bruder wehrt. An einem stabilen, demokratisch und marktwirtschaftlich ausgerichteten Belarus als neuen Nachbarn hätte die EU großes Interesse. Konflikte mit Polen und anderen Staaten stellen ein Sicherheitsrisiko dar, die diplomatischen Beziehungen sind schon länger gestört. Eine gemeinsame EU- Position bezüglich Belarus fehlte aber bisher. Nach der Wahl gab es viel Aufregung und Proteste seitens verschiedener westlicher Politiker und internationaler Organisationen, die mehr Druck auf Lukaschenko fordern bis hin zu wirtschaftlichen Sanktionen. Ob diese Drohkulisse am Ende den oppositionellen Kräften und liberalen Organisationen wirklich nützt, sei dahingestellt. Und Rufe nach einem Einschreiten Russlands wirken auch eher unbeholfen, da die Verbindung zwischen Putin und Lukaschenko zwar nicht auf hohen Sym­pathiewerten beruht, wohl aber auf ähnlichen Interessen.

Ein Kräfteringen also, in dem es keine wirkliche Alternative gibt. Aber es gibt Ansätze kritischer Kultur. Es existiert vor allem in Minsk ein breites Spektrum an politisch, gesellschaftlich und künstlerisch aktiven Gruppen, Initiativen und nicht staatlichen Organisationen, an denen auch viele junge weißrussische Menschen teilhaben. Die Jugendbewegung „Zubr“, der Verband der Jugend-NGO „Rada“ (von staatlicher Seite aufgelöst) beispielsweise oder andere subkulturelle Bewegungen, die sich für eine freie Jugendkultur einsetzen und kritische Literatur, Kunst und Musik hervorbringen. Sie werden meist angeleitet oder unterstützt von ausländischen NGOs und Regierungen und sind schon deshalb ein Dorn im Auge des wachsamen Herrschers. Aber es sind lediglich Ansätze einer engagierten Öffentlichkeit in den städtischen Zentren, deren Unterstützer ständig fürchten müssen, dass ihre Aktivitäten verboten werden und sie ihren Job oder Ausbildungsplatz verlieren. Es ist fraglich, ob große Teile der ländlichen Bevölkerung überhaupt von den Protesten erfahren haben, wenn dann sicher nur in bewährter staatspropagandistischer Weise, was Lukaschenko eher dient als schadet. Sanktionen der EU könnten das nationalistische Klima gegen den „feindlichen Westen“ anheizen und dazu führen, dass sämtliche freiheitlichen Bewegungen weiter eingeschränkt werden.

Von einer Identifizierung mit den so genannten demokratischen Werten ist man, eben­falls wie in Russland, in den weißrussischen Machteliten weit entfernt. Es liegt also an den jüngeren Generationen, langfristig wirkliche Alternativen aufzubauen, die eine freie­re Gesellschaft ermöglichen. Doch der Weg da­hin scheint allzu weit entfernt. Die Voraus­setzungen für eine offene, selbstgestaltende Gesellschaft sind in Belarus noch schlechter als in der Ukraine, deren Schwierigkeiten und Probleme auf dem Weg in die liberale Demokratie gerade für die einfache Be­völkerung unübersehbar sind. Und was tun, wenn die Kameraaugen sich wieder abwenden und ungesehen von der westlichen Öffentlichkeit weiter die Menschen inhaftiert, eingeschüchtert und festgehalten werden?

Die Proteste auf dem Oktoberplatz in Minsk waren ein wichtiger emanzipatorischer Schritt in Richtung Mitbestimmung, was prinzipiell wichtig und unterstützenswert ist. Die Opposition hat mehr Menschen für Proteste mobilisieren können als in all den Jahren zuvor, wohl mit gewachsenem Selbstbewusstsein und dank westlicher Hilfe. Wie viel vom kämpferischen Geist noch vorhanden ist, wird vielleicht der 26.April zeigen, der Tschernobyl-Gedenktag, an dem es traditionell, wenn bisher auch eher verhaltene, Lukaschenko-kritische Demonstrationen und Kundgebungen gibt. Einige der in den letzten Tagen Festgenommenen werden deshalb noch länger weggesperrt bleiben, um die Ausweitung der Proteste und einen möglichen Zusammenschluss verschiedener oppositioneller Kräfte zu verhindern. Denn diese könnte an Popularität und Stärke gewinnen und möglicherweise auch in jene ländlichen und kleinstädtischen Regionen vordringen, die bisher von all den Vorgängen in der Hauptstadt wenig mitbekommen haben. Lukaschenko will eine freie, kritische Informationsverbreitung verhindern – denn Öffentlichkeit und eine selbstbewusste Gesellschaft sind Gefahren, die, einmal entfesselt, nicht mehr so leicht zu ignorieren oder zu unterdrücken sind.

nyima

* Im Zuge seiner Amtseinführung am 8.4. wurden viele Oppositionelle aus der Haft.

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