„Was soll die Toleranz?“

Teil II der Connewitz-Story – Über eine Nacht vor 11 Jahren, nach der ziemlich viel anders war, als vorher. Die Bullen schießen, denn zum schießen sind sie da.

Halb acht Uhr abends in der Connewitzer Leopoldstraße: Einige Jugendliche sind dabei, ihren Frust an Autoscheiben abzulassen. AnwohnerInnen rufen die Polizei. Diese rückt kurz darauf mit 19 Beamten und einer Beamtin an, um die „KFZ-Schäden zu überprüfen“. Zwei „Tatverdächtige“ werden verhaftet, einige Freunde holen derweil Hilfe aus dem nahegelegenen Conne Island. Kurz darauf sind 20 Leute in der Leopoldstraße und attackieren die Einsatzkräfte mit Steinen. Nach dem Verlust ihrer Frontscheibe fühlt sich Polizistin Oertel derart bedroht, dass sie scharf schießt: Daniel H. (17) wird in die Hüfte getroffen. Die Einsatzkräfte ziehen sich zurück. Es ist 22.35 Uhr.

Die Kunde, dass die Polizei auf Menschen schießt, verbreitet sich in Connewitz wie Tabasco im Mund. Die Gerüchteküche trägt ihren Teil dazu bei: Die Räumung sämtlicher besetzten Häuser stehe bevor, und ähnliches. Bald steht auf der Leopoldstraße die erste Barrikade, es folgen weitere auf derW. Heinze- und der Stöckartstraße („Stö“). Währenddessen sammeln sich am Connewitzer Kreuz drei Hundertschaften Bereitschaftspolizei aus Leipzig, Halle, Dresden und Chemnitz. Brutale Personenkontrollen werden durchgeführt, „der linken Szene zuzurechnende Personen“ verprügelt oder verhaftet. Ein Nazi-Mob rottet sich derweil unbehelligt am gleichen Ort zusammen.

Gegen 24 Uhr dann die ersten Steinwürfe auf die Einsatzkräfte: Die „Ordnungshüter“ schlagen zurück – mit Knüppeln, Wasserwerfern, Tränengas, Nebelgranaten und Hunden werden die circa 200 „Störer“ die Bornaische Straße, Richtung Süden gedrängt. Schaufensterscheiben gehen zu Bruch, einiges wird geplündert. Auch Nazis sind jetzt auf einmal dabei, teils gegen die Polizei, auf jeden Fall aber gegen die Linken. An den Barrikaden macht mensch sich daran, diese anzuzünden. Die Wasserwerfer verbrauchen 20.000 Liter und können problemlos im Werk II aufgetankt werden.

Als sich die Polizei dem ZORO nähert, bricht dort Panik aus: Einige wollen fliehen, andere den Zugang dichtmachen. Ein paar der auf der Straße gehetzten Leute fliehen ins Haus, was von Grün-Weiß zum Sturm genutzt wird: Ohne Vorwarnung werden die Türen zertrümmert und so viele Leute verhaftet, wie in die Gefangenenbusse passen. Diese werden draußen noch einem Spießrutenlauf mit gezielten Schlägen auf den Kopf ausgesetzt.

Die ganze Nacht über sind Greiftrupps der Polizei im Viertel unterwegs, Feuerwehr und Sanitäter arbeiten auf Hochtouren. Bis zum offiziellen Ende der Aktion um 4:18 Uhr gibt es nur noch sporadischen Widerstand. Von einer Erstürmung der Stö-Barrikade sieht die Einsatzleitung aber ab – ein kleiner Triumph für die BesetzerInnen. Die Bilanz am nächsten Morgen sieht trübe aus: 42 Verhaftungen, ca. 1 Million DM Sachschaden, viele Verletzte und Schwerverletzte. Darunter Daniel, der die nächsten Wochen auf der Intensivstation verbringt.

Es bleiben einige Fragen offen: Warum waren Bereitschaftspolizei und Feuerwehr schon Stunden vor dem Krawall in Alarmbereitschaft? Warum braucht die Polizei 20 Leute zur „Überprüfung von KFZ-Schäden“? Und welche Rolle spielten die Nazis bei der Sache? – Spekulation. Fakt ist, dass nach den Ereignissen des 27./28. November eine Diffamierungskampagne gegen die alternative Leipziger Szene startet, die jetzt meist mit „kriminell“ tituliert wird. Polizeistreifen fahren von nun an im Schritttempo durch Connewitz und sämtliche reaktionär-konservativen Kreise haben ihren Senf dazuzugeben. Faschistisch anmutende Forderungen, die „Ratten“ endlich alle zu „erschießen“, halten unkommentiert Einzug in die Tagespresse. Die Obrigkeit nutzt die öffentliche Hetze geschickt aus: Herr Tschense, damals Leiter des Wohnungsamtes und heute inoffizielle Nummer Zwei der Stadtpolitik, kommentiert süffisant: „Ob die ihre Häuser rot, grün oder blau anmalen, ist mir egal. Aber wer nachts Autos anzündet und das alternativ findet, gehört in eine Kohlengrube. Das kann nur heißen: Räumung.“

Geräumt wird dann letztlich doch nur ein Haus in der Leopoldstraße, und das auch noch illegal. Die Stadt stellt den BewohnerInnen nach einer Weile die Braustraße 12 zur Verfügung. Auch die Alternative Wohnungsbaugenossenschaft Connewitz (AWC) und andere Gruppen können durch ausdauernde Verhandlungen die Lage wieder konsolidieren.

Folgenschwer bleibt allerdings die Durchsetzung der berüchtigten „Leipziger Linie“ von Seiten der Stadtverwaltung: Neue Besetzungen werden ab jetzt auf keinen Fall mehr toleriert. Die glorreiche Ära der wilden Squats geht auch in Leipzig für‘s erste zu Ende.

soja

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