Weltsozialforum 2013 in Tunis

Mehr als ein internationales Politevent?

Das Weltsozialforum – ein Raum der besonderen Art. Menschenmassen, die (sich) bewegen. Ein riesiges Unigelände in Tunis, auf dem sich ca. 50.000 Menschen aus 130 verschiedenen Ländern tummeln. Rund 1.200 Veranstaltungen und Workshops, in denen sich Leute aus über 4.000 verschiedenen politischen Gruppen, Organisationen und sozialen Bewegungen begegnen. Ein Raum für Austausch und Ver­netzung linker Strömungen. Doch was bewegt sich wirklich dort? Welchen Nutzen hat das WSF für soziale Bewegungen? Nur noch ein Polit­event zur transnationalen Selbstinszenierung? Angereichert mit eigenen Eindrücken aus dem tunesischen Weltsozialforum, gehe ich der Frage im Folgenden nach.

Das Weltsozialforum hat inzwi­schen Tradition. Es wurde als alternativer, antikapitalistischer Raum für soziale Bewegungen und als Gegenveranstaltung zum alljährlichen Weltwirtschaftsforum in Davos 2001 ins Leben gerufen und fand zuerst im brasilianischen Porto Allegre (Brasilien) statt. Beinahe jährlich tagte es fortan an verschiedenen Orten (oft in Brasilien), wurde zwischenzeitlich dezentralisiert und multiplizierte sich auch Dank europäischer, asiatischer, afrikanischer und diverser lokaler Ableger/Foren, wie z.B. in Deutschland. Das elfte zentral ausgerichtete Weltsozialforum tagte nun Ende März 2013 in der tunesischen Hauptstadt – zum ersten Mal auf arabischem Territorium. Kein Zufall, denn die Revolutionen in den arabischen Ländern sind ein großes Thema linker Bewegungen, die sich global organisieren wollen. Und in Tunesien nahm der arabische Frühling 2011 seinen Anfang. Ebenso bewusst gewählt war das diesjährige Motto „Würde“, welches breit genug ist, politische Themen verschiedenster Art zu fassen, zugleich jedoch im Besonderen auf die Kämpfe um Frauenrechte verweist. Übrigens ein Thema, das beim tunesischen WSF, wie auch in den sozialen Bewegungen der Länder des arabischen Frühlings, großen Raum einnimmt.

Obgleich sich die Zahl der Teilnehmenden inzwischen mehr als halbiert hat, war das Themen- und Beteiligungsspektrum sehr breit aufgestellt. Die inhaltliche Ausrichtung wurde in 11 Themenschwerpunkte zusammengefasst. Diese umspannten sowohl revolutionäre Proteste und Alternativmodelle zum globalen Kapitalismus, als auch die Problematisierung von Rassismus und Diskriminierung, „geistiges Eigentum“ und die Freihandel- und Schuldenspolitik des Nordens sowie den Kampf für Bewegungsfreiheit, umfassende Demokratisie­rung, Naturschutz, Gemeingüter, Umweltgerechtigkeit und eine friedlichere Welt durch die Abschaffung militärischer Basen, Atomwaffen und besetzter Gebiete (1).

Ganz konkret gab es Podiumsdiskussionen, Vorträge, Workshops und Runde Tische, auf denen wahlweise theoretische, eher wissenschaftlich-politisch orientierte Diskurse stattfanden oder sich zu ganz praktischen Themen ausgetauscht wurde. Viele Veranstaltungen drehten sich um den arabischen Frühling, bspw. die Rolle des Islam in den arabischen Revolutionen oder die Kritik an der EU, die neoliberale und hegemoniale Herrschaftsverhältnisse unter dem Deckmantel der Entwicklungspolitik fördert. Oftmals stellten auch die verschiedenen Gruppen ihre Arbeit in den Vorträgen vor oder koppelten dies mit spezifischen Fragestellungen. So besuchte ich bspw. eine Veranstaltung, in der sich Gewerkschaften aus verschiedenen Ländern vorstellten und über die notwendige Unabhängigkeit zur Regierungspolitik für ihre gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit reflektierten. Ein von tunesischen Frauenbewegungen organisierter Runder Tisch war besonders bewegend, denn dort wurde konkret über gemeinsame Forderungen diskutiert, die in der künftigen Verfassung festgeschrieben werden sollen. Sprachlich waren jedoch gerade jene Veranstaltungen, bei denen heiß unter Basisaktivist_innen diskutiert wurde, oftmals eine Herausforderung. Zwar wurde sich stetig um arabische, französische, englische und spanische Übersetzung bemüht, doch war dies nicht immer möglich.

Neben den inhaltlichen Veranstaltungen fanden auch zwei Demonstrationen durch Tunis statt, zum Auftakt eine riesige und wortgewaltige Frauenversammlung, zudem Ausstellungen, Informationsstände und zahlreiche kulturelle Veranstaltungen. Auch spontan fanden immer wieder Menschen zusammen, die gemeinsam Musik machten, Kundgebungen und kurze Demonstrationen über den Unicampus veranstalteten.

Ansichten

Das Spektrum der beteiligten Organisationen und Menschen war sehr breit und reichte von systemerhaltenden sozialpartnerschaftlich orientierten Institutionen, über antikapitalistische Gruppierungen bis hin zu militanten und zum Teil auch nationalistischen Strömungen. Letzteres fiel mir vor allem im Hinblick auf den Israel-Konflikt negativ auf. Zwar gab es auch sehr konstruktive Veranstaltungen, in denen israelische und palästinensische Aktivist_innen Perspektiven für ein Zusammenleben ausloteten und sowohl die Besetzungs- und Siedlungspolitik Israels, als auch die militanten Gegenschläge der radikalen Palästinenser_innen kritisierten. Allerdings gab es eben auch Jene, die dem israelischen Staat keinen Platz auf der globalen Landkarte einräumen wollen, und ihrem Hass bspw. durch eine auf dem Boden liegende israelische Fahne, auf der jede_r rumtrampeln konnte, Ausdruck verliehen. Insgesamt schien mir, als sei der palästinensische Befreiungskampf ein Thema, unter dem sich die globale Linke gemeinsam sammelt – die meisten jedoch ohne den rassistischen Umkehrschluss, den Menschen in Israel ihr Existenzrecht abzusprechen. So z.B. fiel mir bei der riesigen Frauenversammlung auf, dass die (nicht wenigen) Sprechchöre, die sich gegen die hegemoniale Politik des Staates Israels richteten, dann zu vereinzelten Stimmen wurden, wenn sie antisemitische Inhalte implizierten.

Generell fiel auch auf, dass sich viele der Bewegungen im globalen Süden auf ihre Nation oder Ethnie beziehen, um für soziale und politische Rechte zu streiten. Zwar überrascht das nicht, da Diskriminierungen meist anhand jener Grenzziehungen stattfinden, allerdings besteht auch hier schnell die Gefahr des Umkehrschlusses, sprich der Überhöhung der eigenen „Volksgruppe“, mit diskriminierenden Auswirkungen für die jeweils Konkurrierende. Perspektiven einer Weltgesellschaft in der die Menschen als Gleiche gelten und keine Diskriminierung aufgrund ihrer „Kultur“ stattfindet, wurden zwar von den Veranstaltern formuliert, wirkten jedoch vor Ort angesichts der nationalen und ethnischen Selbstdefinierung der Gruppen manchmal wie ein verbaler Platzhalter ohne inhaltliche Füllung. Richtig antinationale Meinungen waren eher selten sichtbar. Mit Blick auf die Geschichte in den einzelnen Regionen ist dies nicht verwunderlich, zugleich offenbart es einmal mehr die Unterschiedlichkeit der jeweiligen linken Bewegungen. Dennoch, das WSF ist zwar unglaublich heterogen, wohl aber keine Ansammlung nationalistischer Bewegungen. Im Anspruch eint sie die Vision einer Weltgesellschaft ohne Unterdrückung; eine (antikapitalistische) Welt, in der soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität und die Freiheit der Individuen gewährleistet sind.

Aussichten

Doch welchen Nutzen hat das WSF überhaupt – und vor allem für wen? Ist es heute noch ein Begegnungsraum zur Stärkung von sozialen Bewegungen oder lediglich ein Tummelplatz verschiedenster Gruppierungen, die mit ihrer Teilnahme nur noch Partikularinteressen verfolgen?

Gegenseitiger Austausch, sprich das voneinander Lernen sowie die Vernetzung zu anderen Aktivist_innen im globalen Raum – diese zwei Aspekte sind wesentlich für die am Sozialforum Beteiligten. Das ist einerseits nützlich für die eigenen lokalen Auseinandersetzungen und bietet andererseits die Möglichkeit, Visionen einer „besseren Welt“ im globalen Rahmen anzugehen. Angesichts global verbreiteter Ausbeutungs- und Diskriminierungspraktiken, die oftmals durch das geteilte kapitalistische Bezugssystem in Verbindung miteinander stehen, ist diese Perspektive auch wichtig, um Verbesserungen auf lokaler Ebene langfristig und nachhaltig durchsetzen zu können.

Gleichzeitig soll das WSF linke Kräfte nach innen und außen stärken. Die Wirkung nach innen ist zweifelsfrei feststellbar, denn jede_r Dagewesene war beeindruckt von den Menschenmassen. Ich und unsere kleine IG Metall Delegation inkusive. Einen Eindruck von ihren sozialen Kämpfen mitzubekommen, gibt neue Energie und macht Mut, dass sich der Einsatz für die eigenen Visionen lohnt, dass mensch damit nicht alleine steht. Und die Kraft, die der WSF-Raum dadurch bündelt, wirkt nach und strahlt weit.

Inwieweit diese Kraft auch nach außen strahlt, ist jedoch fraglich. Zum Einen liegt das daran, inwiefern auch die dort verhandelten Inhalte wieder in die lokalen Gruppen und Organisationen getragen werden – und das wiederum hängt stark von der jeweiligen (Basis-)Anbindung der Teilnehmenden ab. Zwar wurden auch viele der Veranstaltungen per Livestream ins Netz übertragen, doch eine weitreichende Wirkung kann durchaus (noch) bezweifelt werden. Zum anderen spielt die internationale mediale Aufmerksamkeit eine große Rolle, um sowohl die Daheimgebliebenen zu stärken, als auch jene zu erreichen, die bisher wenig Berührungspunkte zu alternativen Visionen einer gerechteren Wirtschafts- und Sozialpolitik hatten. Leider jedoch hat sich die allgemeine mediale Außenwirkung in den letzten zehn Jahren extrem verringert. Von einem Presserummel rund um das WSF kann kaum die Rede sein. Wer sich nicht für die Thematik interessiert und linke Seiten und Zeitungen liest, bekommt z.B. hier in Deutschland nichts mit – abgesehen von einem kurzen, inhaltsarmen Bericht in den Tagesthemen.

Das Weltsozialforum wurde zudem mit dem Anspruch ins Leben gerufen, ein Raum für soziale Bewegungen zu sein und ihren antikapitalistischen Kampf zu stärken. Diesen Anspruch kann es prinzipiell nur sehr bedingt erfüllen. Eben weil das WSF meist an einem zentralen Ort statt­fin­det, an den oft nur Jene reisen, deren Or­­ganisationen es finanziell unterstützen kön­nen, ist es kein Raum, in dem sich Gras­wurzelbewegungen vernetzen und direkt voneinander lernen können. Zunehmend ist es hingegen eine Zusam­men­kunft von Funktionsträgern, die ab­hän­gig von ihrer Organisation mehr oder weniger nah an und mit der Basis arbeiten.

Deshalb aber ist der Ort des Sozialforums ein wesentlicher Aspekt, denn die lokalen Basisbewegungen profitieren durchaus vom „WSF-Spirit“. Gerade in Tunis wurde dies sehr deutlich. Bis zu 80% der Teilnehmenden kamen aus Tunesien (2), auch deshalb stand die Zukunft des arabischen Frühlings vielfach im Zentrum der Veranstaltungen. Und im Gespräch mit einigen Tunesiern, die sich in ihrer Revolution 2011 engagierten, wurde besonders deutlich, wie wichtig das WSF für sie ist – nicht nur zur eigenen Stärkung, sondern auch, weil die lokale Bevölkerung mitbekommt, um welche Themen und Visionen es beim Sozialforum geht. Viele fürchten derzeit, dass die Ziele, für die sie vor zwei Jahren auf die Straße gingen – soziale Verbesserungen, Menschenrechte und politische Teilhabe – angesichts der aktuellen politischen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Parteien bzw. durch den Einfluss der islamischen regierungsbil­den­den Partei (Ennahda) gefährdet sind. Ihr Ringen um progressive Inhalte in einer neuen Verfassung, ihr Kampf um Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit jenseits globaler kapitalistischer Abhängigkeitsverhältnisse braucht den globalen Rückenwind durch Foren wie dem WSF. Tunesische Aktivist_innen können diesen gut nutzen. Für konkrete Veränderungen basierend auf Menschenwürde. Gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse. Unter dieser Perspektive betrachtet ist das WSF vor allem für lokal verortete soziale Graswurzelbewegungen nützlich und wichtig. Und es sollte auch in Zukunft in jenen Zentren stattfinden, in denen sich gerade viel bewegt. Dort wird es am meisten gebraucht.

momo

(1) Die Themenschwerpunkte ausführlich: weltsozialforum.org/2013/2013.wsf.2/index.html
(2) weltsozialforum.org/2013/2013.wsf.presse.0/2013.wsf.presse.texte/news.wsf.2013.48/

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