Wissenschaft, die Wissen schafft: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Wissenschaftliche Forschung wird gerne – und oftmals auch zurecht – für ihre „Elfenbeinturm“-Perspektive kritisiert. Praxisnähe und Alltagspraktikabi­lität der gewonnenen Erkenntnisse werden nicht selten vermisst, auch fehlender Realitätsbezug wird der Wissenschaft gern vorgeworfen. Glücklicherweise aber halten solcherlei pauschal gefällte Urteile keiner näheren Analyse stand, da Verallgemeinerungen bekannterweise immer fehlerhaft sind. Das im Folgenden vorgestellte sozialwissen­schaft­liche Forschungsprogramm zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) widerlegt die gängige Kritik und bricht bewusst aus dem ihm zugeschriebenen „Elfenbeinturm“ aus. Obgleich die mitt­ler­weile zehn Jahre lang gesammelten Ergebnisse zu GMF noch sehr langsam über den „Rapunzelzopf“ der Forscher­_in­nen in die praktische Welt hinaus gelangen, tragen sie dennoch genügend Zündstoff in sich, um einiges an progressiven Veränderungen anstoßen zu können.

Rund die Hälfte der deutschen und auch europäischen Bevölkerung sind der Ansicht, dass es zu viele Zuwanderer in ihrem Land gäbe (1+2).

Dies ist eines von zahlreichen Ergebnissen der wohl größten und längsten deutschen Panelstudie, in die 2009 auch ausgewählte europäische Länder einbezogen wurden. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer prägte den (sperrig klingenden) Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und schuf 2002 zusammen mit Prof. Dr. Andreas Zick ein gleichnamiges sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Der Begriff selbst bezeichnet die Abwertung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen „aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen“ (1). GMF wird dabei als Syndrom verstanden, da sich die Vorurteilsstrukturen ähneln und ablehnende Tendenzen meist gegenüber mehreren Gruppen bestehen. Als gemeinsamer Kern des Syndroms wurde die sog. „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ identifiziert, also eine Grundeinstellung, in der die Menschen prinzipiell nicht als gleichwertig angesehen werden. In jährlich stattfindenden telefonischen Befragungen eines repräsentativen Teils der deutschen Bevölkerung (2011 wurden 2000 Menschen befragt) wurden und werden die verschiedenen Einstellungen ermittelt, um Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber bestimmten Menschengruppen analysieren zu können. Die Ergebnisse sind erschreckend und belegen v.a. das, was innerhalb der sog. Linken ohnehin lange vermutet und fortwährend angemahnt wird: Dass menschenfeindliche Einstellungsmuster in der sog. Mitte der Gesellschaft weit verbreitet sind.

Über 50% der europäischen und deutschen Bevölkerung meinten 2009, dass der Islam eine Religion der Intoleranz sei. Rund ein Viertel der 2009 befragten europäischen und 13% der deutschen Bevölkerung (2011) waren zudem der Meinung, dass Juden zu viel Einfluss in ihrem jeweiligen Land hätten.(1+2)

Die verschiedenen untersuchten Einstellungen des GMF-Syndroms wurden 2011 in insgesamt 12 Kategorien unterteilt: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamophobie, Eta­blier­ten­vorrechte, Sexismus, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Langzeitarbeitslosen, und speziell auch die Ablehnung von Asylbewerber_innen und Sinti & Roma (3). Bemerkenswert daran ist zudem, dass unter dem GMF-Konzept auch gesellschaftliche Einstellungsmuster gefasst werden, bei denen Abwertungen nicht nur „kulturell“, sondern auch mit „natürlicher“ oder „sozialer“ Überlegenheit begründet werden, wie bspw. bei den feindlichen Einstellungen gegenüber Langzeitarbeitslosen oder den Etabliertenvorrechten. Letzteres hebt auf eine soziale Hierar­chi­sierung bzw. Vorrangstellung von „Alteingesessenen“ ab. Das Konzept ist generell offen für weitere hinzukommende Kategorien, sofern sie sich auch auf eine dahinter stehende „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ beziehen. Die Ergebnisse der GMF-Untersuchungen wurden jährlich bei Suhrkamp unter dem Titel „Deutsche Zustände“ veröffentlicht und reflektiert.

Über die Hälfte der befragten deutschen Bevölkerung 2011 war der Meinung, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht daran interessiert seien, einen Job zu finden. Über 60% finden es darüber hinaus „empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen“ (1).

Wie bereits angedeutet, geht es den Wissenschaftler_innen indes nicht nur darum, Ausmaße und Entwicklungen menschenfeindlicher Einstellungen in der Gesamtgesellschaft (in fundierter und nachprüfbarer Weise) öffentlich zu machen und damit zu sensibilisieren. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt in der Analyse der Ursachen von GMF. Unter der Fragestellung, inwiefern die Veränderungen von GMF mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängen, wurden so bspw. soziale Desintegration und gefühlte Benachteiligung (sog. Relative Deprivation) als Faktoren und Erklärungsansatz ausgemacht. Mit anderen Worten steht der eigene gesellschaftliche Ausschluss in engem Zusammenhang mit der Abwertung anderer gesellschaftlicher Gruppen. Denn – so die naheliegende These – wenn es einem an Anerkennung mangelt, besteht die Tendenz, sich selbst durch die Abwertung anderer wieder aufzuwerten. Dabei wird zwischen drei Aspekten von Desintegration unterschieden, die gemeinsam Einfluss auf die Abwertung bestimmter anderer gesellschaftlicher Gruppen haben: Zum einen die sozio-ökonomische Einbindung, bei der es um den eigenen Status, also die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und Konsummöglichkeiten geht, die nicht nur als begrenzt, sondern v.a. auch zukünftig gefährdet wahrgenommen werden.

Zum zweiten ist die politische Einbindung oder negativ der politische Ausschluss – sprich gefühlte Macht- und Einflusslo­sig­keit bei (gesellschafts-)politischen und institutionellen Belangen – ein Faktor sozialer Desintegration. Empirisch betrachtet haben Menschen mit wenig Interesse an politischer Partizipation oftmals auch eher GMF-Einstellungstendenzen (4). Anders ausgedrückt, spiegelt sich die Frustration und Resignation über die eigene Einfluss­lo­sigkeit auf die Politik wohl auch in der der Abwertung von anderen gesellschaftlichen Gruppen wider.

Als dritter Aspekt sozialer Desintegration wird die „personale Dimension“ oder „sozial-emotionale Einbindung“ benannt, bei der es um eigene soziale Netzwerke geht bzw. um eben jene fehlende unterstützende Gemeinschaft, die nicht nur zur Selbstverwirklichung motivieren kann, sondern zudem Orientierung bietet und Sinn stiftet.

Darüber hinaus wurde empirisch auch nachgewiesen, dass fehlender Austausch mit als vermeintlich fremd wahrgenommenen Menschen Ungleichwertigkeitsvorstellungen begünstigt. Des weiteren befördern auch autoritäre Strukturen sowie Flexibilitätszwang und fehlende soziale Normen und Regeln GMF-Einstellungen. Insbesondere bei jenen Menschen, bei denen auch soziale Hierarchien Teil der eigenen Ideologie sind, ist die allgemeine Befürwortung von menschenfeindlichen Aussagen besonders ausgeprägt.

Mehr als 60% der Befragten in acht europäischen Ländern sind der Meinung, „dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen“ sollten. Fast ein Drittel dieser meinen zudem, dass es eine „natürliche Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen“ gäbe. (2)

Im europäischen Vergleich von 2009 wurde übrigens festgestellt, dass in den Niederlanden die geringsten GMF-Tendenzen zu beobachten sind, während in Polen und Ungarn die Vorurteilsstrukturen am ausgeprägtesten sind. Insgesamt wurden repräsentativ Menschen aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Portugal sowie den benannten Ländern befragt. Deutschland liegt im internationalen Vergleich insgesamt – trotz mitunter großer Unterschiede was die (In-)Toleranz einzelner Gruppen betrifft – eher im Mittelfeld.

54% der Deutschen stimmten 2011 der Aussage „Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit Weniger zufrieden geben“ zu (1).

Diese Aussage, die in der deutschen Studie unter „Etabliertenvorrecht“ kategorisiert und analysiert wird und wie eine altbekannte Stammtischparole klingt, wird wahrscheinlich auch gegen das GMF-Konzept als solches eingewandt – nämlich dann, wenn es um Schlussfolgerungen aus der „neuen“ GMF-Forschung gehen soll. Oder warum findet die Veröffentlichung derartiger alarmierender Ergebnisse über Feindseligkeiten in der Gesamtgesellschaft so wenig Beachtung in der Politik?

Mit dem Forschungsprogramm wurden drei große Ziele verfolgt (5). Zum einen sollte für die in der Mitte der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen sensibilisiert werden. Die umfangreichen – hier nur exemplarisch herausgegriffenen – Ergebnisse sollen erinnern und zum präventiven und ggf. intervenierenden Handeln anregen, um derlei Haltung nicht zum Normalzustand werden zu lassen. Doch statt angesichts der Ergebnisse tatsächlich massiv in integrative Programme und andere Präventionsmaßnah­men zu investieren, bei denen v.a. junge Menschen ein gleichwertiges Miteinander erleben und schätzen lernen, wird lieber dem Verfassungsschutz und der Polizei vertraut, die sich erst dann melden, wenn die Ideologie soweit gefestigt ist, dass sie zu menschenfeindlichen Handlungen geführt hat.

Zum zweiten nahm das Forschungsprogramm v.a. gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, um deren Einfluss auf GMF zu untersuchen. Die dahingehend aufbereiteten Ergebnisse rund um soziale Desintegration bieten jede Menge Anregungen für Veränderungen im politischen System und im Bereich der sozialen Sicherung. Daraus könnten sogar Forderungen abgeleitet werden, die nicht nur den Parlamentarismus als solchen ins Schwanken bringen, sondern auch das allgemeine kapitalistische Leistungsprinzip samt sozialer Vereinsamung kritisieren und diesem einen Selbstermächtigungsprozess entgegensetzen. Allerdings lassen sich auch realpolitische Verbesserungen mit dem GMF-Konzept in der Rückhand diskutieren, die mit stärkeren sozialen Leistungen und Netzwerken beginnen, einen Bogen zu mehr direkter Demokratie schlagen und beim bedingungslosen Grundeinkommen ihren Höhepunkt feiern könnten.

Zum dritten soll mit der Forschung zu GMF auch auf die Bedeutung generalisierender Ideologien, wie die der sozialen Hierarchisierung, hingewiesen werden. Das kritische Hinterfragen von Einstellungen und der dahinter liegenden Ideologie ist nicht nur eine fortwährende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sondern könnte auch gegen staatlich gesteuerte institutionalisierte Diskriminierung gewendet werden. Denn wenn bspw. erwachsene Flüchtlinge und Asylbewerber_innen gesetzlich geregelte Leistungen erhalten, die insge­samt 225 € nicht überschreiten (inklusiver aller Sachleistungen) und einer Residenzpflicht unterworfen sind, dann findet eine eklatante Ungleichbehandlung und soziale Hierarchisierung gegenüber den anderen in Deutschland lebenden Menschen statt, die zumindest Anspruch auf ein (mager bemessenes) Existenzminimum haben und Bewegungsfreiheit besitzen. Auch die Abschiebung von Flüchtlingen (hauptsächlich Roma) nach Serbien während des winterbeding­ten „Ausnahmezustandes“ Mitte Februar, ist für die dort größtenteils unerwünschte Bevölkerungsgruppe mitunter lebensgefährlich und zeugt von einer dahinter stehenden Ideologie, die dieser Menschengruppe keinen großen bzw. gleichrangigen Wert beimisst (6).

Schlussendlich ist durch die GMF-Forschung auch ein theoretisch fundiertes und empirisch geprüftes Konzept entstanden, das durchaus Potential hat, die Probleme, die sonst gemeinhin unter Rückgriff auf das Extremismusmodell erklärt werden, begrifflich und inhaltlich aus einer neuen Perspektive zu erfassen. Das GMF-Konzept setzt an den dahinter stehenden Werten an, die sich von tendenziellen Un­gleich­wer­tig­keits­vorstellungen zum gefestigten ideologischen Weltbild – wie bei Neonazis – wandeln können. Damit macht es Feindlichkeiten schon in ihrer „Keimzelle“ sichtbar – nicht erst wenn der Rechtsbruch erfolgt. Das rückt nicht nur Vorurteile aus der „Mitte der Gesellschaft“ in den Fokus, sondern eröffnet auch eine Reihe an Handlungsstrategien und Möglichkeiten der Übertragung in die Praxis. Als eine „echte Alternative“ zum Extremis­mus­mo­dell kann GMF laut Kausch/Wiedemann zwar nicht in Stellung gebracht werden, weil der Begriff keine Unterscheidung zwischen Alltagsdiskriminie­rungen und organisiertem Neonazismus zulässt und keine gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei der Bewertung von Ungleichwertigkeit eine Rolle spielen (7). Zudem bleibt ein quantitativ-empirischer Ansatz immer beschränkt in seinen Möglichkeiten komplexe Zusammenhänge und Ursachen zu erklären und müsste theoretisch und interdisziplinär weiter unterfüttert werden. Eine Weiterentwicklung des GMF-Konzeptes könnte diese und weitere Defizite durchaus beheben, andererseits ist es auch müßig, darüber zu diskutieren, da seitens der Politik der Wille fehlt, sich vom Extremismusmodell zu lösen. Natürlich ist es politisch praktikabler und bequemer, die „Freiheitlich Demokratische Grundordnung“ (FDGO) zum Maß zu nehmen und all jene als extremistisch zu brandmarken, die gegen sie verstoßen (siehe FA! #39 & 41).

Gerade diese Verengung auf die FDGO ist wohl einer der Hauptgründe, warum das GMF-Forschungsprogramm auch im Gesamten ein sozialwissenschaftliches Randthema bleiben wird. Mit dem GMF-Konzept wird der Finger in die Wunde gelegt und gesellschaftliche Einstellungsmuster der Ungleichwertigkeit werden problematisiert. Damit begibt sich die wissenschaftliche Forschung weg vom Elfenbeinturm in ein gesellschaftlich relevantes und politisch kontrovers besetztes Feld. Wen wundert es dann, wenn es auch Bestrebungen gibt, diesen „Elfenbeinturm“ weiter abzuriegeln und den „Rapunzelverdächtigen Haarwuchs“ der For­scher­_in­nen zu begrenzen?!

momo

(1) „Deutsche Zustände“. GMF-Langzeituntersuchung, Zusammenfassung: www.uni-bielefeld.de/ikg/Handout_Fassung_Montag_1212.pdf
(2) „Europäische Zustände“2009, Zusammenfassung: www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/studie.pdf
(3) Mit der Kategorie „Roma und Sinti“ wird auf Antiziganismus rekurriert (und an anderer Stelle auch so benannt). Obgleich die Bezeichnung „Sinti und Roma“ unzureichend ist, da wesentlich mehr Gruppen von Zigeuner_innen bestehen, die sich nicht darunter subsumieren lassen, ist diese Kategorisierung mit Blick auf den Wortlaut in der empirischen Studie erklärbar. Denn, analog zum Alltagsgebrauch, werden Roma&Sinti stellvertetend bzw. synonym zum NS-belasteten Zigeuner-Begriff verwendet.
(4) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/SozialeDesintegration.html
(5) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/GesZiele.html
(6) www.proasyl.de/de/news/detail/news/abschiebungen_nach_serbien_trotz_kaelte_notstand/
(7) Kausch und Wiedemann analysieren in ihrem Beitrag „Zwischen ‘Neonazismus’ und ‘Ideologien der Ungleichwertigkeit’.“ in: „Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells“ (Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.) 2011) u.a. die Tauglichkeit von GMF als begriffliche Alternative zum Extremismusbegriff. Die fehlende Integration gesellschaftlicher Machtverhältnisse wird dabei u.a. als GMF-Defizit kritisiert. Damit ist gemeint, dass bspw. die Diskriminierung von Asylbewerber_innen von der Mehrheitsgesellschaft den gleichen Stellenwert bekommt, wie bspw. die „Deutschenfeindlichkeit“ einer türkischen Minderheit hier.

Theorie & Praxis

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