Alles nur ein Spiel?!

Über das umstrittene Amateurtheaterstück ULTRAS

Im Thalia-Theater Halle plaudern die „Ultras“ aus dem Nähkästchen. 10 nette Typen zaubern da einen unterhaltsamen Theaterabend auf die Bretter, in dem sie beschreiben wie die bösen Polizisten sie verprügeln, wie sie Transparente für ihren Lieblingsverein den Halleschen Fuß­ballclub (HFC) gestalten und wie sie am Marathon für krebskranke Kinder teilnehmen. Das ganze ist so gut inszeniert, so witzig, spritzig umgesetzt, dass ich beinahe im Programmheft übersehe, dass die Figuren auf der Theaterbühne und ihre Schauspieler die selben Namen tragen. Ich will gerade aufstehen und mich der standing ovation nach der 5. Vorstellung anschließen – habe nur eben kurz das Programmheft überflogen, da wird dieser unterhaltsame, flache Abend plötzlich verwirrend emotional. Ich ahne plötzlich warum das muskulöse Vater-Sohn-Gespann neben mir meine lauten Lacher über die Selbstironie der Hooligans mit so giftigen Blicken bedacht hatte – weil es gar keine Selbstironie in dem Stück gab. Mein Gewissen löst die erste unangenehme Emotion des Theaterabends aus. Ich fühle mich manipuliert von diesen Kumpels auf der Bühne, die so gut spielten, noch dazu in einem soziokulturellen Projekt, wo ich sonst ängstliche Amateure erwarte. Sie hatten nicht gespielt.

Knappe anderthalb Stunden Theater beschreiben den Alltag und die Geschichten einer Gruppe von „Halle-Ultras“, lose an den zeitlichen Rahmen von drei Fußballbegegnungen des HFC mit anderen Teams gekoppelt. Auf der Drehbühne steht eine Fankurve, die sich rotierend in eine Wand mit Dönerbude verwandeln kann. Den Text für dieses Projekt schrieb Dirk Laucke, ein junger anerkannter Dramatiker mit einer Vorliebe für konfliktträchtige, aktuelle, soziale Themen. Das Geld für das Projekt lieferte die Bundeskulturstiftung mit 67.000 Euro.

Zwölf echte Ultrafans erspielen rasant und selbstbewusst skizzenhafte Situationen mit kurzen, pointierten Dialogen. Dazwischen moderieren sie die Übergänge an, improvisieren mit den abendlichen Gegebenheiten und verstehen es gekonnt, die Zuschauer in ihren Geheimpakt hinein zu ziehen, eine einmalige Insider-story. Dass da Amateure auf der Bühne stehen, versuchen sie nicht zu vertuschen. Der Slang ist heimatlich im Klang und ordinär in der Wortwahl. Das psychologische Mit­einander nach Stanislawski brauchen sie nicht, sie erzählen einfach nur aus ihrem Leben. Der Eine ist ARGE-Mitarbeiter, ein Anderer schafft auf dem Bau, für die Beschreibung des Seelenlebens reichen wenige Vokabeln. Trotzdem ist es kraftvoll und archaisch wenn die neun HFC-Fans es schaffen die Zuschauer des Thalia-Theaters zur Teilnahme an einer ihrer Choreographien zu bewegen. Hier wird die Begeisterung für den Sport spürbar, aber auch der schmale Grat zur Massenhysterie der jeder Grund recht ist.

Die Idee für das Projekt hatte Intendantin Annegret Hahn. Sie wollte einen kulturellen Beitrag zur präventiven Arbeit der Stadt Halle gegen die immer wiederkehrenden gewalttätigen Auseinandersetzungen der HFC-Fans leisten. Sie fragte Dirk Laucke, der sich dann gemeinsam mit Projektleiterin Kathrin Westphal in den HFC-Block begab und zu recherchieren begann. Zu Beginn seiner Arbeit saß er mit seinen Spielern im Fan-Bus. Jetzt haben diese sich von ihm distanziert und werfen ihm vor, er habe sie mit seinem zugespitztem Text in die rechte Ecke gedrängt. Gleich zu Beginn des Stückes stimmt ein „Sportjournalist“ die Zuschauer auf diese Arbeitsweise ein, indem er sie darauf vorbereitet, dass sämtliches Material des Stücks in der Realität gesammelt wurde – hier wird „dokumentarisches Theater“ gespielt. Sowohl im Publikumsgespräch als auch in der 3sat Kulturzeit und dem bereits umfangreichen Web-Diskurs wiederholen und verteidigen die Macher ihr Werk, dessen Ziel von Anfang an nur gewesen sei, das Leben der HFC-Fans auf die Bühne zu holen, einfach so.

An dieser Stelle lohnen sich zwei Fragen: „Was macht dieses Theaterstück?“, und „Was macht es nicht?“

Das Theaterstück gibt neun HFC-Fans die Gelegenheit ihre Sicht auf die Randale, die Pressereaktion, auf ihren Fan-Alltag und ihre Liebe zum HFC kund zu tun. Auf der Bühne geschieht das vor allem auf der Textebene, die Sachverhalte werden be­sprochen, auch die kritischen Themen wie Antisemitismus, Gewaltbereitschaft und Rechtsextremismus. Dafür wurde als An­ta­gonist ebenjener Sportjournalist ein­ge­setzt. Das Stück bringt uns diese Typen näher, so nah dass sie für einen wie mich, der keine Vorkenntnisse über die Ultraszene hat, zu Sympathieträgern werden, deren Freud und Leid ich auf der Bühne teile.

Das Theaterstück unternimmt hingegen nicht den Versuch einer Aufarbeitung. Die HFC-Fans bereuen nichts, sie rechtfertigen und verharmlosen nur. Die Macher haben ihren Spielern während des Prozesses keinen psychodramatischen Rollenwechsel zugemutet. Keiner der HFC-Fans musste in die Rolle eines querschnittsgelähmten Familienvaters schlüpfen, der versehentlich zwischen die Stadionfronten geraten ist. Das Stück meidet angst- und haßerfüllte Situationen, als seien Emotionen nicht der Treibstoff des Theaters sondern giftiger Nebel. Die kritischen Themen bleiben dadurch fein auf der rationalen Ebene, mehr noch, sie werden im Gegenteil durch den Sprachwitz der kecken Schauspieler sogar noch mit positiven Emotionen aufgeladen. Das Stück bietet darum nicht den leisesten Ansatz einer Katharsis – einer Reinigung. Weder in den Spielern, noch in den Zuschauern.

Ein wirkliches Signal für einen Aufbruch zu mehr Toleranz hätte stattdessen eine bewusste Fiktionalisierung von Figuren und Story, ein Rollentausch mit Opfern, die reale Erfahrung von negativen Gefühlen auf der Bühne sein können. Wenn die Zuschauer merken, die da oben auf der Bühne haben sich da echt was zugemutet, die erweitern ihren Horizont.

Die Bühne kann mehr als nur Realität widerspiegeln, sie kann ihr etwas hinzufügen. Moreno, der Erfinder des Psychodramas nannte das den „Surplus-Effekt“.

So aber bleibt mir die peinliche Scham, die ich auch beim Lesen von Nabokovs „Lolita“ verspürte, wo ich mit einem Pädophilen mitfiebere: Wie kann mir Einer symphatisch sein, der „Juden-Jena“ brüllt und sich damit verteidigt, dass alles was im Stadion gebrüllt wird, per Definition unpolitisch und nur bloße Provokation sei. Bin ich jetzt schief gewickelt, weil ich dem Typ Menschlichkeit zugestehe, nachdem ich ihn 90 Minuten auf der Bühne kennen gelernt habe?

Und dem muskulösen Vater-Sohn-Duo bleibt die berauschende Bestätigung, dass ihre „Ultras“ sogar zur Schauspielerei taugen. Das Publikum ist tief gespalten. Die einen distanzieren sich, zu ihnen gehört die Bürgermeisterin der Stadt Halle, die von der Intendantin forderte, das Stück müsse entweder geändert oder abgesetzt werden. Zu ihnen gehört auch die Bundeskulturstiftung, der plötzlich leid tut, dass ihr Geld diesmal keinen Preis gewinnt. Die anderen verteidigen das Stück. Stimmen aus dem Webforum und diversen Kritiken klingen so: „Künstler sollten die ungeschminkte Wahrheit zeigen.“, „Künstler brauchen nicht zu moralisieren.“, „Das Theater braucht mündige Zuschauer, die sich bewusst mit dem Stoff auseinander setzen.“, „Dank dem Thalia-Theater wird der Diskurs um den HFC nun öffentlich geführt und die Täter aus der Fankurve sitzen in den samtenen Sesseln während der Publikumsdiskussion und können nicht weg!“

Die Frage ob die HFC-Ultras nun rechtsradikal, antisemitisch, ausländerfeindlich und chauvinistisch sind, kann das Stück nicht glaubwürdig verneinen. Die Macher fügen der Wiederholung von bereits Erlebtem nichts Neues hinzu.

(M S)

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