Anarchie braucht keine Hosenträger

(ein poetisches Konzentrat in 6 Worttabletten)

Anarchie braucht keine Hosenträger Kra­wattennadeln oder Wahrheiten die sich in warme Socken verwandeln kaum daß die Sprache in ihnen Fuß gefaßt hat An­archie braucht keine Moral keine Tapete des Denkens keine Objektivität diese Lebensversicherung des Alltags die unter den Ach­seln juckt sie braucht keine Parteien jene Lutschbonbons aus dem Regal für Sonderangebote Anarchie braucht keine Religion oder Schiedsrichter Wegweiser Lehrstühle Anarchie ist Leben

Anarchie ist Leben Anarchie ist keine 4-Zim­mer-Wohnung und sie ist auch kein Swimming-Pool kein Vorgarten keine Schön­­heit kein Hauptgewinn sie ist auch keine Sitzhaltung Anarchie ist kein Fahrstuhl Da ist kein Knopf dran um sie zu regeln oder abzustellen Anarchie ist keine Me­thode keine Filteranlage kein Mikroskop un­ter dem sich das Leben seziert Sie ist auch kein Fahrschein kein Urlaubsziel keine Zeitreise Sie ist keine Psychologie keine Therapie kein Fußball Anarchie ist Lebensraum

An­archie ist Lebensraum Sie ist die Leerstel­le zwischen zwei Worten in die das Denken taucht Sie ist der Anfang vom Anfang oder der Aufsprung einer inneren Katze ge­gen die Wirklichkeit Sie fährt ihre Krallen aus gegen das verbeamtete Deutschland Sie ist ein Aufstand der Leidenschaft gegen die Fahr­pläne der Bildung in denen der Staat die Auswahl der Gedanken normiert Anar­chie ist die Karambolage auf den Straßen der Gelehrsamkeit eine Katastrophe in den Schab­lonen der Interpretation Anarchie ist sinnliche Praxis Ein Bluterguß am Kopf der Normalität Anarchie ist Bewegung

Anarchie ist Bewegung freies Spiel der Gedanken Revolte der Poesie gegen das lineare Denken Zuversicht die hinter den Ohren flutscht oder eine Seifenkiste in der die Spra­che die Hügel der Kriegsgräber hinabfährt Anarchie spuckt auf das Heldentum frei­williger Selbstunter­wer­fung unter die Herr­schaft und auf die Prophezeiungen der Po­litik Sie speit auf den Na­tio­nalgedanken in dessen Namen der innere Soldat ins äußere Regiment umschlägt Nein Anarchie stößt die Palette um auf der sich Na­tional­far­ben in Ge­sinnungen verwandeln Anarchie küßt sich frei Anarchie küßt sich frei durch die Holzwege der Tagesschau auf denen sich die euro-nationale Masthaltung der Wähler zur Meinungsbildung objektiviert An­archie holt die Na­chrichtenkutscher vom Kutschbock der Wahl­statistik herunter An­ar­­chie verknotet die Fernsehkanäle zu Ge­schen­kschleifen und zieht den Stecker raus An­­archie bindet Wahr­heiten zu Blumensträußen und lacht an gegen Werbemacher Wahl­forscher und Stra­tegen denen ihr aus Fang­quoten destillierter Zeitgeist abrutscht und als Kronkorken in die Auffangschalen der Lottoziehung fällt Anarchie braucht kei­ne Ersatzmittel Steig­bügelhalter des Daseins Stützmieder oder Körperkorsetts Hosenträger

Anarchie braucht keine Hosenträger keinen Tragegurt der irgendwelche zu Legislaturperioden zusammengewebten Versprechen als kurzbeinige Hosentracht am Bierbauch der Konventionen festhält Nein Anarchie löst die Halterungen der Wirklichkeit und läßt sie zu Boden fallen Anarchie verwandelt Kon­ven­tionen in Stangenlakritz – Anarchie: wie Wind der durch die Hosen fährt oder ein Schlag auf die lichtbespannten Trommeln der Vorstädte gegen den Rhythmus der Am­pelanlagen vor denen der blondierte Alltag seine Gewohnheiten zum Blind­flug formiert

(Ralf Burnicki)

Eigentlich drucken wir ja ausschließlich unveröffentlichte Lyrix, um auch dem „kleinen Reim“ ein Chance zu geben. Im Fall von Ralf Bur­nicki machen wir allerdings eine Ausnahme, denn der Text tingelt nun seit einem Jahrzehnt durch den Blätterwald der anarchistischen Or­­­gane und schleicht sich so immer wieder auf charmante Art und Wei­se in die Herzen der Bewegung. In diesem Sinne: Danke Ralf, dass Du Dich in diesem Jahr für uns entschieden hast. – Die Feierabend!-Redaktion

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