Anarchismus zwischen den Stühlen

Errico Malatestas anarchistische Interventionen

Als „hochangesehener Querkopf der anarchistischen Bewegung“ wird Errico Malatesta im Klappentext des neuen, von Philippe Kellermann zusammengestellten, eingeleiteten und informativ kommentierten, Malatesta-Sammelbands„Anarchistische Interventionen“ bezeichnet. Die Bezeichnung trifft es recht gut, wie in diesem Buch, das repräsentative Artikel aus Malatestas Gesamtwerk von 1892 bis 1931 versammelt, deutlich wird.

Warum aber ein Querkopf? Generell wird Malatesta als von Bakunin beeinflusst und zunehmend dem anarchokommunistischen Spektrum nahestehend beschrieben. Ein Querkopf war er u.a. deshalb, weil er sich dennoch nie wirklich einer einzigen anarchistischen Richtung in die Arme warf, sondern sich eher immer zwischen vielen anarchistischen Stühlen bewegte. Er bezog sich auf Unterstützenswertes aus unterschiedlichen Traditionen, kritisierte aber ebenso unaufhörlich diese oder jene Szene, wenn ihm etwas zuwiderlief.

Ein gutes Beispiel ist hier die Frage der Organisation und des (Anarcho-)Syndikalismus. Für Malatesta waren zwei Dinge klar: der Anarchismus muss einerseits eine Massenbewegung und andererseits in der ArbeiterInnenklasse verankert sein. Er trat dafür ein, dass sich AnarchistInnen organisieren sollten und kritisierte anarchistische Tendenzen, die jeden Grad an Organisa­tion als autoritär und anarchismusfeindlich abtaten. Nun mag man bei solchen Vorlieben davon ausgehen, dass sich Malatesta vor allem in anarchosyndikalistischen oder plattformistisch-anarchokommunistischen Zusammenhängen wohl gefühlt hätte. Hat er auch. Dennoch trat er immer wieder als Kritiker beider Strömungen auf. Die (Anarcho-)SyndikalistInnen seiner Zeit kritisierte er dafür, dass sie sich selbst genügten, bei der Organisation und ihrem Engagement entlang gewerkschaftlicher Belangen (die für ihn potentiell reformistisch und nicht revolutionär waren) stehen blieben. Dies allein war ihm zu wenig und er forderte explizit anarchistische Organisation, die dann wiederum die Gewerkschaften beeinflussen sollten. „Klingt nach Plattformismus“(*), möchte man meinen. Doch dieser 1926 von russischen ExilanarchistInnen – unter ihnen Machno und Arschinoff – formulierte Organisationsentwurf, für den er durchaus gewisse Sympathien hatte, war ihm dann doch zu rigide und er befürchtete, wie viele andere AnarchistInnen seiner Zeit, eine „Bolschewisierung“ des Anarchismus.

Ein großer Verdienst Malatestas war seine Rolle als standhafter Kritiker der AnarchistInnen rund um Kropotkin, die sich während des Ersten Weltkriegs zu einer Pro-Kriegshaltung (auf Seiten der Entente) hinreißen ließen. Die beiden Texte „Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen“ (1914) und „Anarchisten als Regierungsbefürworter“ (1916) vermitteln einen guten Eindruck von diesem damals wütenden Grabenkampf in der anarchistischen Bewegung – auch wenn die Pro-Kriegsfraktion glücklicherweise eindeutig in der Minderheit war. Zum unvermeidbaren Zerwürfnis mit Kropotkin kam es dennoch. Eine schmerzliche Erfahrung für Malatesta.

Auch bezüglich der Gewaltfrage, die sich hieran anknüpft, lohnt es sich, bei Malatesta näher hinzusehen. Hier erscheint er zeitweise recht widersprüchlich. Einerseits wird man beim Lesen des Sammelbandes mit dem Gewaltkritiker Malatesta konfrontiert, der auf die schädlichen und antiemanzipatorischen Dynamiken von Gewaltanwendung hinweist, andererseits pochte er aber gleichzeitig beständig auf nichts weniger als den bewaffneten Aufstand der ArbeiterInnenklasse, auf eine Revolution, die auf ein militärisches Kräftemessen mit dem Staat hinausläuft. Dabei war er aber wiederum ein Gegner individueller Attentate und (terroristischer) Gewalttaten – der sog. „Propaganda der Tat“. Man sieht, der Mann lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken.

Die Tatsache, dass Malatesta eben jener „anarchistische Querkopf“ war, macht das Lesen dieses Sammelbandes so spannend, weil man ständig damit beschäftigt ist, seine eigenen Standpunkte einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Er setzt sich nicht einfach in ein gemachtes anarchistisches Nest, sondern wägt ab, prüft, reflektiert, stellt Fragen und gibt auch Antworten – die man dann selbst wiederum überdenken kann. Malatesta ist auch heute noch ein Anarchist, dessen Ideen nicht in die Mottenkiste, sondern wieder und immer wieder kritisch diskutiert gehören. „Anarchistische Interventionen“ ist eine ausgezeichnete Basis für diese Diskussion.

Sebastian Kalicha

Errico Malatesta: „Anarchistische Interventionen. Ausgewählte Schriften ( 1892 – 1931)“. Herausgegeben von Philippe Kellermann. Unrast Verlag, Münster 2014, 244 Seiten, 14,80 Euro. ISBN: 978-3-89771-921-7

(*) Plattformismus bezeichnet einen 1926 von russischen ExilanarchistInnen formulierten Organisationsentwurf. Er strebt gut durchorganisierte anarchistische Gruppen an, die auf einer gemeinsamen und verbindlichen politischen, anarchokommunistischen Basis aufbauen.

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