Anarchistische Ideen – Haltung und Handeln im Alltag

Da in unseren Redaktionsköpfen eine Menge anarchistischer Gedanken herumschwirren, wollen wir uns auch regelmäßig mit theoretischen Überlegungen hierzu auseinandersetzen. Einen ersten Exkurs soll der folgende, kurze Aufsatz darstellen.

Das Jonglieren mit den Vorurteilen des anderen gehört zum Rüstzeug eines jeden ‚guten‘ Ideologen. Ob „Linker“, „AntiglobalisierInnen“, „Anarchos“ oder „Autonome“ – ob „Kapitalisten“, „Faschos“, „BürgerInnen“ oder „Bonze“, gut eingesetzt, läßt sich sogar der Satz sparen: Sie wissen schon, wer gemeint ist. Ich jedenfalls weiß oft nicht, wer da ‚an sich‘ gemeint ist, höchstens noch was.

Doch eine noch so feingesponnene Ideologie bleibt ohne Wirkung, fehlt ihr das sie bestätigende Vorurteil. Mit einem dieser Vorurteile soll deshalb aufgeräumt werden, es geht um die diffusen Zusammenhänge, die sich oft hinter der Bezeichnung „Anarchist/in“ verbergen.

Um also einer ideologischen Verbrämung vorzubeugen, lautet die Fragestellung nicht: Wer oder was ist ein Anarchist? Sondern vielmehr: Was tut ein Anarchist? Bzw.: Welches Handeln und welche Ideen lassen auf eine anarchistische Haltung schließen?

Anarchistische Ideen gewinnen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts theoretische Tragweite.

Als der Anarchismus als theoretische Denkfigur entsteht, ist er vor allen Dingen in zunehmender Konkurrenz zu sozialistischen, kommunistischen und liberalen Ideen zu verstehen. Waren anfangs noch kaum Unterschiede erkennbar, kristallisierten sich bald spezifisch anarchistische Positionen in vielen politischen Problemfeldern heraus. Fragen wie: Was ist der Mensch? Wie ist der moderne Staat zu verstehen? Oder: Welche politischen Lösungen gibt es für soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit? fanden in anarchistischen Texten und Theorien ihren fruchtbaren Niederschlag. Von der politisch-praktischen wie auch theoretischen Dimension zeugen nicht nur die Debatten, die klassische Vertreter wie Bakunin, Kropotkin, Stirner oder Landauer innerhalb der sozialistischen oder kommunistischen Lager immer wieder anzettelten, die messerscharfe Kritik, mit der sie die liberale Theorie entlarvten, sondern auch ihre bewegten Lebensläufe selbst. Es wäre also falsch von einer anarchistischen Haltung als einer apolitischen oder gar antigesellschaftlichen zu sprechen. Die Kritik des Anarchismus wendet sich nicht gegen Gesellschaft ‚an sich‘, sondern in seinen besonderen theoretischen Ausprägungen gegen spezifische Formen der Vergesellschaftung. Wie im übrigen jede politische Theorie von Gewicht. Es ist hier nicht der Raum für eine gründlich dargestellte Analyse, aber ich denke, grob sagen zu können, daß der ‚Anarchismus‘ sich im wesentlichen gegen jedwede Art sozialer Ungerechtigkeit wendet, also gegen diejenigen Formen der Vergesellschaftung, die sich über ein asymmetrisches, heißt ungleiches, Machtverhältnis der einzelnen Individuen zueinander charakterisieren. Ein Blick in die Geschichte des 19. Jahrhunderts genügt, um die Bedeutung einer solchen Sichtweise einzusehen.

In diesem Sinne ist eine anarchistische Haltung in jedem Falle eine politische.

Da wir uns auch heute gezwungener Maßen mit Gesellschaftsformen konfrontiert sehen, die, ähnlich denen des 19. Jahrhunderts, mit immer neuen Institutionalisierungswellen, die Macht und Herrschaft des Menschen über den Menschen manifestieren (der moderne Staatsapparat ist hier wesentlicher Motor), haben anarchistische Ideen auch heute noch ihren Reiz und ihre Bedeutung. Die Entfaltung des modernen Staates als eines komplexen Geflechts institutioneller Räume (1) hat nicht nur die ‚ursprüngliche‘ Gestalt der Produktionsformen überlagert, sondern vor allem die Sprach- und Lebensformen der gesellschaftlich verfassten Individuen in ungeahntem Ausmaß beeinflusst. Die einhergehende, expansive Verrechtlichung von gesellschaftlichen Räumen, in denen Menschen interagieren, ist aus anarchistischer Perspektive deshalb problematisch, weil hierbei die Handlungsautonomie einzelner systematisch untergraben wird. Herr seiner Sinne, seines Geists, doch nicht Herr seines Tuns. Die Problematik entspringt im Freiheitsgedanken und verschärft sich dadurch, daß durch die institutionelle Vermittlung von menschlichen Handlungen zu-, mit-, durch- und füreinander, den Einzelnen ihr spezifisches Verhältnis (mithin eben auch Machtverhältnis) als intransparentes, sprich undurchschaubares erscheint. Das allgemeine Ohnmachtsgefühl oder Individualisierungstheorien (2) mit ihrer These der sozialen Verarmung bei steigender institutioneller Verflechtung sind zwei aktuelle Beispiele, die dem Ausdruck verleihen. Gegenüber der konventionellen Theorie, die der Unfehlbarkeit gegebener Institutionen huldigt, der sozialistischen, die dem ewigen Wandel zum Besseren harrt und der kommunistischen, die die Selbstauflösung von Institutionen nach der „Vorgeschichte“ verspricht, drückt sich die anarchistische Haltung gerade in der Skepsis aus, ob nicht jedes intransparente Verhältnis von Menschen zueinander schon Herrschaftsformen (Macht) begründen könnte. Staatliche Institutionen, wie Bürgeramt, Verkehrsbetriebe oder Parlament sind nur klassische Beispiele solcher Institutionen, bei denen das Handeln von Mensch zu Mensch vielfach intransparent vermittelt ist.

Anarchistische Haltungen finden ihren Ausdruck in ethischem und politischem Handeln.

Vom Freiheitsgedanken und der Gleichheitsidee her strömt die ethische Kraft anarchistischer Haltungen, welche hinter den nach Interessen geschichteten „Sachzwängen“ das Wirken von Menschen erkennen. Insoweit finden sich anarchistische Haltungen auch in der sozialistischen oder kommunistischen wieder, was gar nicht bestritten werden soll. Doch ist das Primat der Handlungsautonomie des/der Einzelnen vor jeder gesellschaftlichen Institutionalisierung, ethisch nirgends so fruchtbar wie in den anarchistischen Ideen. Dem Schwächeren zur Seite zu stehen, die Toleranz des Anderen, Selbstverantwortlichkeit des eigenen Tuns, so könnte man unter anderem konkretes anarchistisches Handeln benennen.

Auf der Suche nach Selbstverwirklichung in Eigenverantwortlichkeit entdeckt solches Handeln die auferlegten, eigenen Grenzen auch als die anderer. Hieraus speist sich der genuin politische Charakter. Wie sich aus dem Gesagten andeutet, ist die anarchistische keine extrem individualistische Haltung, obwohl der/die Einzelne als einziges Handlungssubjekt verstanden wird. Dem Trugschluss, man käme auch alleine klar, kann nur der erliegen, der sich von Institutionen umschlossen sieht. Um mich selbst zu verwirklichen, benötige ich die Hand des anderen, genauso wie er meine, und bezeichnender Weise findet Selbstverwirklichung heute vorwiegend in der privaten Sphäre und nicht in der öffentlich-institutionalisierten statt. Aus der politischen, skeptischen Haltung gegenüber Institutionalisierungen und dem ethischen Impuls ergibt sich also die Praxis eines Handelns, die sich in jedem Moment des Alltages gegen dessen Institutionalisierung wehrt, gegenüber Machtverhältnissen im alltäglichen Miteinander aufbegehrt, und zum Anderen drängt, um ihm von mensch zu mensch ins Aug‘ zu sehn.

Der ewigen Macht des Seins widerstreitet stets die Kraft des Sollens.

Im Gegensatz zur ‚geronnenen‘ Hoffnung des Sozialismus oder Kommunismus, oder schlimmer zur ‚leeren‘ der konventionellen Theorie, die eben alle nicht ohne intransparente und damit für Herrschaft (Macht) anfällige Institutionalisierungen auskommen, hat den Anarchismus schon seit je her eine echte Utopie ausgezeichnet. Die Hoffnung nämlich, daß sich die Menschen in assoziativen Formen organisieren können, ohne daß jeder einzelne seinen Rechten und Pflichten durch institutionelle Vermittlung beraubt ist. Demzufolge ist von der Theorie des Anarchismus auch kein Konzept für eine neue „Makroordnung“ der Gesellschaft zu erwarten. Im Wettstreit der Ideen verhilft sie eher den konkreten Lebens- und Handlungsformen zum Ausdruck, als Menschenbildern und Handlungskonstruktionen nachzujagen.

Nieder mit den Mauern!

Anarchistisches Handeln und dazugehörige Haltung sind also keineswegs antipolitisch, gesellschaftsfern, gedankenverloren und vor allen Dingen nicht hoffnungslos. Ich plädiere dafür, daß Bild vom steineschmeißenden Einzelgänger, der gegen alles ist und nur Chaos will, endlich über Bord zu werfen. Das gilt in gewisser Weise auch für die Stilisierung von Straßenkämpfen. Wir haben beides, Verzweiflung und Verantwortung. Ein klein wenig anarchistisch handelt ja fast jeder ab und an in seinem Alltag. Und in diesem Sinne bin ich von der leisen Hoffnung beseelt, daß sich anarchistische Haltungen in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit immer deutlicher durchsetzen, und damit der Anarchismus zu einer echten Option des Handelns in einer sich entgrenzenden Welt werden kann.

clov

(1) Der Institutionsbegriff ist hier und im Folgenden derart verstanden, daß Institutionalisierungen immer gesellschaftliche Räume dimensionieren, innerhalb derer die Handlungsautonomie einzelner ausgeschaltet bzw. eingeschränkt ist.
(2) Vgl. zum Beispiel Ulrich Beck, „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983.

Theorie & Praxis

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