Ausgang ungewiss…

Und sie bewegt sich doch, die Gesellschaft. Und zwar chaotisch. Wenn Hartz IV der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, dann wusste zuvor jedenfalls niemand, wie tief das Fass ist. Seit über einem Jahr mobilisieren politische Gruppen gegen den Sozialabbau, informieren über die Hartz-Gesetze und versuchen „die ArbeiterInnen“, „das Volk“ oder „die Menschen“ von der Notwendigkeit des Widerstandes zu überzeugen. Es gab Montagsdemos, eine große Demo in Berlin ohne DGB, einen europaweiten Aktionstag mit DGB, mutlos organisierte Arbeitskämpfe von Metallern (1) und Journalisten und Studentenstreiks in einigen Städten. Aber nichts zündete. Am Morgen jeden Tages war wieder in den Zeitungen zu lesen, die Arbeitszeiten müssten erhöht werden, um Arbeitsplätze zu schaffen. Diese unverschämten Lügen und die dreiste Art und Weise, wie die politische Klasse diese Protestansätze aussaß, steigerten das Gefühl der Ohnmacht bei Aktivisten und Betroffenen. Eine Weile sah es so aus, als hätten die „Eliten“ des Widerstandes jede Hoffnung aufgegeben, die Menschen auf die Barrikaden zu bringen, während die politische Klasse selbst darüber staunte, was ihre Untertanen sich gefallen lassen.

Im Grunde genommen ist wenig passiert in den letzten Monaten und die Veränderungen, die mit Hartz IV im Januar auf uns zukommen, waren seit langem für alle absehbar. Scheinbar gleichgültig passieren Passanten Plakate die sagen „Agenda 2010 sichert den Wohlstand“. Niemand glaubt das wirklich, niemand weiß was tun.

Doch plötzlich passiert etwas. Irgendjemand meldet in Magdeburg am 26.7. eine Demo an. Es ist kein Politiker und auch kein Berufslinker. Zwei Wochen später beginnen bundesweit Montagsdemonstrationen, eine Woche später am 16.8. gehen Medienberichten zufolge bundesweit 90.000 Menschen auf die Straße und machen von sich Reden. Plötzlich können die Proteste nicht mehr ignoriert werden, weiten sich aus. Keiner weiß genau, was da los ist, wer da demonstriert. In einigen Städten rufen eher rechte Gruppierungen zu den Demos auf, in anderen Sozialforen, Sozialbündnisse, PDS, Gewerkschaften und linksradikale Gruppierungen. Alles in Allem sind es einfach nur Leute, die auf die Straße gehen. Es ist derzeit schwer, sie näher zu bestimmen und es gibt keine Gruppe, die sie kontrolliert. Nazis und rechte Sekten, die versuchen Flyer zu verteilen, konnten bisher zumindest in Leipzig erfolgreich marginalisiert bzw. abgewiesen werden. Neben diversen „Politsekten“, Parteien und DGB-Gewerkschaften, mischen sich auch libertäre Zusammenhänge und die FAU (2) ein. In Leipzig liegt das Durchschnittsalter ziemlich hoch. Die Leute nehmen interessiert die diversen Flugblätter entgegen, schauen nicht erst auf die Abkürzung der veröffentlichenden Gruppe. Die etablierten Parteien können hier aber sicherlich nicht punkten. Wenn von der Bühne gegen das Parteiensystem oder den Kapitalismus gewettert wird, ist der Applaus groß. Offensichtlich braucht mensch keine drei linken Szenezeitschriften abonniert zu haben, um irgendwann festzustellen, dass der Fehler im System liegt.

Trotzdem ist es offen, wie sich die Proteste weiterentwickeln. Radikal sind sie derzeit sicherlich nicht. Die Forderungen richten sich an das demokratische System und es erschallen „Wir sind das Volk“-Rufe. Dieser Ausruf macht deutlich, dass sich auf die ideologische Grundlage der bürgerlichen Demokratie (3) bezogen wird, zeugt aber gleichzeitig auch von einem immensen Vertrauensverlust gegenüber der Praxis der Herrschenden. Nicht nur gegenüber der Regierung ist Misstrauen eingekehrt, sondern auch gegenüber den anderen, die Politik gestalten: den Gewerkschaften, den Medien und den etablierten Widerstandsgruppen. Sie zeugen davon, dass sich die Menschen doch nicht so einfach kontrollieren und die gesellschaftliche Dynamik sich nicht so einfach verstehen lässt. Die Gewerkschaften versuchen nun, den Entwicklungen hinterher zu rennen, ihr Terrain wieder zu erobern und die Proteste unter Kontrolle zu bekommen. Die politische Klasse versteht überhaupt nichts, will die Sache weiter arrogant aussitzen, redet von einem „Vermittlungsproblem“ und startet eine Propaganda-Kampagne. Die bürgerlichen Medien käuen reflexartig Politikerzitate wieder. Doch plötzlich wirkt das alles etwas hilflos, denn da gehen Leute auf die Straße, mit dem Gefühl, die Macht zu haben. Wie die Proteste ausgehen werden, ist immer noch offen. Ob es der „Linken“ gelingt, Einfluss zu nehmen oder gar einen „Linksruck“ zu induzieren, ist zweifelhaft.

Denn einerseits zeigen diese Proteste, wie tief der Glaube an die bürgerliche Demokratie doch in beiden Teilen Deutschlands verwurzelt ist. Andererseits zeigen sie auch, dass die Menschen trotz dieser Ideologie selbst denken und sich nicht einfach vom ersten Flugblatt überzeugen lassen. Und zuletzt liegt noch der Notfallplan in der Schublade, mit dem sich das politische System über diese Krise retten kann: Die Abspaltung einer Partei „links“ von der SPD, die dann alle wieder glücklich wählen können. Ob Linkspopulisten aus der Bildzeitung wie Lafontaine und Gysi das kleinere Übel sind, ist jedoch stark zu bezweifeln.

Maria Rock, Stand 18.8.

(1) Der Metaller-Streik an sich war zwar kämpferisch, das Verhandlungsergebnis jedoch enttäuschend (siehe www.labournet.de)
(2) FAU = Freie ArbeiterInnen-Union
(3) „alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (GG, Art. 20 (2) )

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