Das Gewissen Europas

Die Minister sind besorgt über die große Zahl derer, die sich in oft seeuntüchtigen Booten auf den Weg nach Europa machen und dabei Leib und Leben riskieren“ (1).

So heißt es jedenfalls in der Presseerklärung des Bundesinnenministeriums zum Treffen von Otto Schily mit seinem italienischen Amtskollegen Antonio Pisanu am 12. 08. 04. Dieser bezeichnete die Migration aus Afrika als Frage an das europäische Gewissen. Die europäische Politik ist verantwortlich für das alltägliche Drama, welches sich zwischen Afrika und Europa und an den EU Außengrenzen generell abspielt. Damit ist nicht nur die koloniale Eroberung Afrikas und wirtschaftliche Ausbeutung gemeint, sondern auch die konkrete Flüchtlingspolitik, die von der EU betrieben wird. Es ist auf Grund der Visa-Bestimmungen für Flüchtlinge praktisch nicht möglich, legal in die EU einzureisen um einen Asylantrag zu stellen. Die illegale Einreise ist aber gefährlich und oft teuer. Viele Flüchtlinge müssen in Nordafrika erst jahrelang unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten, um später Schlepper bezahlen zu können, die sie in Seelenverkäufern über das Mittelmeer fahren oder in Schlauchboote setzen. Diese Schlepper, denen die Innenminister schon mehrfach den Kampf angesagt haben, sind in Wirklichkeit ebenfalls das Produkt ihrer eigenen Politik. Auch die Gefahren, die bei einer solchen Überfahrt entstehen, werden durch diese Politik größer. Hohe Strafen für „Schlepper“ führen dazu, dass oft gar niemand mit Navigationskenntnissen an Bord ist, patrouillierende Militärboote mit Wärmebildkameras und Radar zwingen die Flüchtlinge auf kleine Schiffe und Schlauchboote. Das von Pisanu im letzten Jahr durchgesetzte Gesetz, wonach Schiffe, die an Schleusungen beteiligt waren, verschrottet werden, zwingt die Schlepper dazu, auf wahre Schrottkähne zurückzugreifen und steigert damit direkt den Anteil der Migranten, die bei der Überfahrt umkommen.

Seit der spektakulären Rettungsaktion der Cap Anamur ist das Sterben an den EU-Außengrenzen und speziell im Mittelmeer ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Dies ist das eigentliche Problem von Schily und seinen Kollegen. Deshalb der Vorschlag, doch schon in Nordafrika Lager zu errichten, in denen Asylanträge gestellt, bearbeitet und abgelehnt werden können. Das schmutzige Geschäft der Abschiebung wäre dann ebenfalls in die nordafrikanischen Staaten verlagert. Dieser Vorschlag wurde in Deutschland kontrovers diskutiert und fand kaum Zustimmung in der Öffentlichkeit. Dies wurde von Schily und Pisanu aber bewusst ignoriert. Die Ergebnisse ihres Treffens haben bisher keine großen Wellen geschlagen, in Deutschland war lediglich der grüne Koalitionspartner etwas mürrisch darüber, vorher nicht informiert gewesen zu sein. Gekleidet in Worthülsen (s.o.) beschlossen sie aber, diese Lager in Nordafrika durchzusetzen. In der Pressemitteilung des BMI heißt es dazu:

Für diesen Personenkreis [Flüchtlinge, die sich auf ihr Asylrecht berufen] muß nach Auffassung der Minister die Schaffung einer europäischen Einrichtung erwogen werden, welche außerhalb der Grenzen Europas Asylgesuche entgegennimmt und prüft. Ferner soll sie für die Aufnahme der Personen, die als Flüchtlinge anerkannt werden, in einem Drittland oder in einem Mitgliedsland der EU auf freiwilliger Basis sorgen.“ (2)

Nach Aussage von EU-Kommissionspräsident Prodi hat sich beispielsweise Libyen bereit erklärt, über die Errichtung von Auffanglagern für afrikanische Flüchtlinge auf seinem Territorium zu diskutieren. Gerade Libyen hat aber die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, was bedeutet, dass es dort nicht einmal nominell ein Asylrecht gibt. Diese Lager sollen auch keineswegs Tore in die EU werden, sondern Clearing-Stellen, von denen die Flüchtlinge abgeschoben oder vermittelt werden. Wie in der Pressemitteilung deutlich wird, soll eine Aufnahme von Flüchtlingen in die EU nur noch „auf freiwilliger Basis“ stattfinden. Bürgerkriegsflüchtlinge sollen beispielsweise in Nachbarstaaten zurückgeschickt werden. Die Lager in Libyen wären eben kein juristisches Hoheitsgebiet der EU, weshalb verbindliche Asylanträge in die EU von dort aus gar nicht gestellt werden können. Ohnehin wird Libyen zum „sicheren Drittstaat“: wer über einen solchen in die EU einreist, kann dorthin automatisch wieder abgeschoben werden. Die Regelung des „sicheren Drittstaates“ wurde von Deutschland EU-weit durchgesetzt und ist die faktische Aufhebung des Asylrechts. Immer mehr Staaten oder gar einzelne Regionen werden nun als sicher eingestuft, was zugleich bedeutet, dass Migranten aus diesen Staaten und Regionen keine Chance auf Anerkennung als Flüchtlinge haben. Auch der zukünftige EU-Justizkommissar Rocco Buttiglione hat in diesem Zusammenhang bereits klar gemacht, dass er von einem Recht auf Asyl gar nichts mehr hält:

Wir müssen streng sein. Es ist nicht wahr, dass irgendjemand das Recht hat, zu uns zu kommen. Dieses Land gehört vorerst den Europäern und nur die Europäer können bestimmen, wer das Recht hat zu kommen und wer nicht. Wer kommt, ist ein Gast.“ (3)

Diesem klammheimlichen Abschied vom Völkerrecht stehen zugleich Formulierungen gegenüber, die „theoretisch“ eine „freiwillige Aufnahme“ in die EU ermöglichen sollen. Ganz klar, hier geht es um Arbeitsmigration. Nach den Vorstellungen von Schily und Co. sollen pro Saison, je nach Bedarf der EU-Länder, Quoten festgelegt werden, wer wohin immigrieren darf. Die Kriterien, nach denen diese „Glücklichen“ ausgewählt werden, sind dann aber nicht der Fluchthintergrund, sondern Ausbildung und Sprachkenntnisse. Denn die EU braucht Migration, nicht nur, um die zu niedrige Geburtenzahl innerhalb zu kompensieren und einer Überalterung der Gesellschaft entgegenzuwirken, sondern auch um durch Erhöhung des Arbeitskräftepotentials seine Position als Wirtschaftsmacht auszubauen (Lissabon-Strategie). Globale Migration ist eine Tatsache und nicht nur logische Folge eines globalisierten Kapitalismus, sondern auch notwendig für sein Funktionieren. Dennoch stellt sie sich den Regierungschefs der EU als globales Problem dar, das folgerichtig global „gelöst“ werden muss.

Die Lager, die nun in Nordafrika gebaut werden sollen sind lediglich ein anschauliches Beispiel für die Versuche der EU, Migrationsströme weltweit zu kontrollieren. Seit dem Jugoslawienkrieg bemühen sich unter anderem auch Militärs um eine „heimatnahe Unterbringung“ der Kriegsflüchtlinge, indem sie Lager im Nachbarland errichten und ein Weiterziehen verhindern. Kaum ein Entwicklungshilfeprogramm und keine Verhandlung mit EU-Kandidaten oder Anrainern wird geführt, ohne dass die Länder unter Druck gesetzt werden, Migrationsbewegungen in die EU zu unterbinden. Der EU-Rat hat ausdrücklich dazu aufgefordert, „dass in allen künftigen Kooperations- oder Assoziationsabkommen mit gleich welchem Land […], eine Klausel über die gemeinsame Kontrolle der Migrationsströme sowie über die obligatorische Rückübernahme im Falle der illegalen Einwanderung aufgenommen wird“ (4).

Mit millionenschweren Programmen werden nun die Grenzschützer der nordafrikanischen Staaten von der EU mit Militär- und Überwachungstechnologie ausgerüstet. Längst besteht auch eine polizeiliche Zusammenarbeit mit ihnen, nicht zuletzt um zu kontrollieren, ob diese sich tatsächlich um die Abschottung ihrer Außengrenzen kümmern. Der tunesische Grenzschutzbeamte hat nämlich kein eigenes Interesse, seine Landsmänner und -frauen von einem (besseren?) Leben in der EU abzuhalten. So ist es durch polizeiliche Zusammenarbeit zwischen Italien und Ägypten nahezu unmöglich geworden, über den Suez-Kanal Richtung EU zu kommen, viele Migranten weichen über die Sahara aus, was wesentlich gefährlicher ist.

Die Minister haben sich darauf verständigt, ihre gemeinsamen Überlegungen in einem Konzeptentwurf zusammenzufassen, der im Oktober beim Treffen G 5 in Florenz erörtert und anschließend als gemeinsamer Vorschlag im Kreise der Justiz- und Innenminister eingebracht werden soll.“ (5) Dass hier Politik bewusst die Meinung der europäischen Zivilgesellschaft ignoriert, ist nur ein weiterer Beleg für das verkommene Demokratieverständnis der Regierenden und des Demokratiedefizites der EU-Institutionen. Wenn die Lager in Nordafrika dann vom EU-Ministerrat beschlossen wurden, stehen sie vermutlich schon. Das Sterben im Mittelmeer wird vielleicht tatsächlich zurückgehen, dafür werden aber um so mehr Leichen im Wüstensand der Sahara als stumme Zeugen für das Gewissen Europas verwesen.

maria

(1) Pressemitteilung BMI zum Treffen von Schily mit Pisanu am 12. August 2004 in Lucca/Toscana.
(2) ebd.
(3) Rocco Buttiglione im Interview mit Deutschlandfunk (16.8.2004)
(4) Paolo Cuttitta: „Das diskrete Sterben“ in Frankfurter Rundschau vom 14.08.2004
(5) Pressemitteilung BMI

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