Das Leben der Anderen

Eine Kontroverse um die dezentralisierte Unterbringung von Flüchtlingen in Leipzig

Grünau, 11. Juni 2012. Mehrere hundert aufgebrachte Bürger_innen stehen vor der Tür des Kulturhauses Völker­freund­­schaft. Die meisten von ihnen sind im Rentenalter. Sie warten ungeduldig darauf, Einlass zur Stadtbezirksbeiratsitzung zu bekommen, um ihrem Ärger gegen das zweite geplante große Flüchtlingsheim in ihrem Stadtteil Luft zu machen. Auf ihren Mobilisierungsplakaten steht: „Grünau = Berlin-Kreuzberg. Wir Grünauer sagen NEIN!“ Sie haben genug von der Völkerfreundschaft. Die müsse sich schließlich nicht immer in ihrem Viertel abspielen. Ein Flüchtlingsheim sei genug, es gebe schon genug soziale Probleme, Alkoholmissbrauch und Kriminalität. Das und vieles mehr wollen sie dem Leipziger Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) heute während der Stadtbeiratssitzung sagen. Fabian ist heute gekommen, um den Grünauer_innen zu vermitteln, dass die Weißdornstraße 102 derzeit das einzige Objekt in der Stadt ist, das die nötige Kapazität für 180 Flüchtlinge aufbringt. Er möchte ihnen erklären, dass die Zahl der Flüchtlinge im letzten Jahr wieder angestiegen ist (1), dass Leipzig im nächsten Jahr eventuell mit über 400 Flüchtlingen mehr rechnen muss, und dass es sich dabei um eine Weisung des Freistaates Sachsen handelt.

Stimmen aus Grünau

Die aufgebrachten Gäste vor der Völkerfreundschaft warten immer noch darauf in den Saal gelassen zu werden. Einige beginnen unruhig an der Tür zu rütteln. In der Hoffnung, endlich gehört zu werden, rufen sie: „Wir sind das Volk!“ Später werden sie sagen, sie fühlen sich übergangen, weil sie niemand in den Entscheidungsprozess mit einbezogen hat. Unter Dezentralisierung verstünden sie nicht, dass die Mehrzahl der Leipziger Flüchtlinge in Grünau lebt, sondern bitte schön verteilt über die ganze Stadt. Ein Redner wird während der hitzigen Bürgerdiskussion zum bereits bestehenden Flüchtlingsheim in der Liliensteinstraße kommentieren: „Ich bemüh mich schon seit zwölf, dreizehn Jahren, dass in diesem Heim Ordnung einkehrt (Gelächter aus dem Publikum). […] Da wird an kirchlichen Feiertagen orientalische Musik abgeleiert. Ruft man de Polizei an: Ich bin nicht zuständig. Ruf ich das Ordnungsamt an: Ich bin nicht zuständig. Das Sozialamt […] und es tut sich gar nichts (tosender Beifall und Johlen aus dem Publikum). Aber so geht das nicht, dass hinterher der Bürger dann alleine gelassen wird. Und ich bin froh, dass diese Diskussion nun entsteht. Bis jetzt war ich ein Einzelkämpfer. Ich wurde seit 1998 als rechts in die Ecke gestellt“. (Aus dem Publikum johlt ein Mann: „Du bist nicht allein!“, daraufhin tobender Applaus und Johlen) (1). Als ein anderer Redner vorsichtig äußert: „die Menschen kommen auch her, weil sie Angst haben“, ertönt aus dem Publikum höhnisches Gelächter.

Stimmen aus der Torgauer Straße

Eine der Bewohner_innen des Flüchtlingsheimes in der Torgauer Straße ist Rashida (2). Alleine ist sie aus Pakistan geflohen, weil sie der Ahmadi-Minderheit angehört, deren Angehörige von der pakistanischen Mehrheitsbevölkerung nicht als Mus­li­me anerkannt werden. „Wenn ich einkaufen war, haben die Leute in meinem Dorf mir den Schleier vom Kopf gerissen, weil sie unseren Propheten nicht akzeptieren“, erzählt sie und zieht den locker um ihren Kopf geworfenen Schal straff über das Kinn. Tatsächlich ist die Ahmadiyya in Pakistan seit 1994 verboten. Angehörigen dieser Glaubensrichtung ist die Begrü­ßungs­formel „Salám“ untersagt, sie wird mit Geldbußen und Haftstrafen geahndet. Wie sich die Verfolgung auf Ahmadis in Pakistan auswirken kann, zeigte der Anschlag auf zwei Ahmadiyya-Moscheen in Lahore am 28. Mai 2010, zu der sich pakistanische Taliban-Milizen bekannten, bei dem während eines Freitagsgebetes 86 Ahmadis getötet wurden.

Eigentlich wollte Rashida mit ihrem Ehemann kommen, doch die pakistanische Regierung stellte ihm bislang keine Ausreisepapiere aus. Rashida sagt, sie fühle sich alleine, verbringe die meiste Zeit auf ihrem Zimmer. Nach sieben Uhr verlasse sie das Haus nicht mehr. Die junge Frau kam nach Deutschland, weil sie Angst hatte, aber auch hier lebt sie in Angst. Dabei hat sie von den Bürgerprotesten in Grünau, Wahren und Portitz noch gar nichts mitbekommen. Ihr reiche schon, was sie im Heim erlebe. Da ist ein Heimbewohner, der regelmäßig an ihre Türe klopft und etwas zu ihr sagt. Sie spreche seine Sprache nicht. Sie sagt zu ihm, er solle verschwinden, aber er klopft immer wieder. Rashida ist eine von einer Handvoll Frauen unter 200 Männern in der Torgauer Straße. Die anderen Frauen sprechen ihre Sprache nicht. Jetzt hat sie einen Antrag gestellt, um nach Grünau in die Liliensteinstraße umziehen zu dürfen. Dort hat sie Freundinnen, die wie sie Muslima sind und aus Pakistan kommen.

Eine junge Mutter aus Grünau, die einen Bericht über die dezentralisierte Unterbringung von Asylbewerber_innen auf leipzig-fernsehen.de kommentiert, glaubt zu wissen, weshalb die Flüchtlinge wirklich kommen: „Ich habe nix gegen Ausländer, aber wieso sollen wir sie hier aufnehmen, wo sie selbst ein eigenes Land haben. Sie nehmen den Deutschen hier Arbeitsplätze weg oder kassieren schön Hartz IV, leben da schon auf Staatskosten und dann noch die Unterbringung. Das kann es nicht sein […]“

Fremdenfeindliche Evergreens wie diese aus der Mitte unserer Gesellschaft können tatsächlich nicht sein und lassen sich schnell entkräften. Zum Beispiel das Arbeitsplatz-Vorurteil: Asylbewerber_innen werden schon per Gesetz diskriminiert, sie dürfen frühestens nach einem Jahr arbeiten und werden nur dann angestellt, wenn kein_e deutsche_r, EU-Bürger_in diese Stelle annehmen will. Das verdeutlicht auch die statistische Arbeitslosenrate, die unter Migrant­_innen mehr als doppelt so hoch ist wie unter der Mehrheitsbevöl­kerung (3). Um über das zugewiesene Taschengeld hinaus zu verdienen, nehmen viele dann Jobs an, in denen sie vor allem ausgebeutet werden. Arbeitgeber_innen nutzen die prekäre Situation der Flüchtlinge/Migrant­_innen oft schamlos aus und beschäftigen sie ohne Versicherungen und Sozialabgaben zu Niedriglöhnen. Es kommt nicht selten vor, dass der Lohn gar nicht ausgezahlt wird. Daher müssen grundsätzlich Gesetz- und Arbeit­ge­­ber­_innen verantwortlich gemacht werden.

Wie in Grünau dieser Tage deutlich wird, wäre es zu kurz gegriffen die Protestierenden einfach als Rassisten zu bezeichnen. Vielmehr verschränken sich hier oftmals diskriminierende Einstellungen: „Wenn 150 deutsche Obdachlose in die Unterkunft kämen, würden wir auch dagegen protestieren!“, rechtfertigt ein Grünauer Bürger seine Wut. Allein in diesem kurzen Satz durchkreuzen sich frem­den­feindliche, klassenorientierte und sozialdarwinistische Weltanschauungen. Ob Obdachlose, „Asoziale“ oder „Asylanten“, die Kategorien werden beliebig ethnisch oder sozial auf- und abgeladen.

Ajmal ist ein Bewohner aus der Torgauer Straße. Vor fünf Monaten flüchtete der Innenarchitekt vor dem Regime im Iran nach Deutschland. Über das Heim in der Torgauer Straße und die neuen Entwicklungen sagt er: „Keiner von uns wohnt gerne in diesem Gefängnis. Aber seit wir wissen, dass wir aus der Torgauer Straße gehen müssen, haben viele von uns auch Angst zu gehen. Wir wissen nicht, wo die neuen Häuser stehen. Einige haben gehört, dass es Proteste gegen uns gibt. Wir würden gern mit unseren Gegnern ins Gespräch kommen. Aber viele von uns haben keine Kontakte nach draußen. Wir wissen nicht, was passieren wird.“

Stimmen aus Plagwitz

13. Juni 2012. Plagwitz, Schule am Adler. Rund 200 junge, bunte Menschen füllen den Saal bei der Stadtbezirksbeiratssitzung, bei der das Objekt in der Mar­kran­städterstraße 16-18 im Stadtteil vorgestellt wird. Das Haus ist für rund 45 Menschen ausgelegt. Gleich, ob von Stadtbezirks­beirät_innen oder Anwoh­ner_innen, im Saal findet das Konzept trotz vieler konstruktiv kritischer Anmerkungen als „ein Schritt in die richtige Richtung“ eine so breite Zustimmung, dass dem Sozialbürgermeister und der Sozialamtsleiterin Martina Kador-Probst zum Schluss die Tränen in den Augen stehen.

Tatsächlich ist eine idealere sozio-(sub)kul­tu­relle Einbindung der dezentralisierten Unterbringung wie in der Markranstäder Straße kaum vorstellbar. Die unmittelbare junge und alternative Nachbarschaft – die Zollschuppen-Häuser, der Bauspielplatz Wilder Westen, die Meta Rosa und der Wagenplatz Karl Helga bekunden nicht nur Freude über die Entscheidung, sondern bieten den Flüchtlingen mit Volxküchen, Zirkusprojekten, Umsonstladen und politischen Veranstaltungen einen potentiell abwechslungsreichen Alltag.

Bei genauerem Hinsehen erscheint das Objekt in Plagwitz nicht nur einzigartig in seiner sozio-kulturellen Einbindung, sondern auch in seiner Symbolik. Dafür sorgt Siemens, ein Global Player in der Rüstungsindustrie, der in der unmittelbaren Nachbarschaft angesiedelt ist. Es ist kein Zufall, dass das Rüstungsgerät zufälligerweise in die Länder exportiert wird, aus denen das Gros der Flüchtlinge kommt. Damit wird der gewählte Standort in der Mar­kran­städter Straße unfreiwillig zum dreidimensionalen Schaubild der Konsequenzen neokolonialer Praxis – und unserer eigenen Verwicklung in die Fluchtgeschichten der Flüchtlinge.

Unsere Stimmen

Komplexe Themen wie Krieg und Mas­sen­­unter­bringung wurden bei der Sitzung in Plagwitz allerdings ausgespart. Es schien als wollte mensch an den gegebenen Umständen arbeiten und keine neuen Grund­satzdiskussionen vom Zaun brechen. Kritisiert wurde beispielsweise die 0,8 Sozial­ar­beiter_innen-Stelle, die für die Flüchtlinge in der Unterbringung vorgesehen ist.

Tatsächlich ist dieser Schlüssel schon seit Jahren Standard in Leipziger Flüchtlingsheimen, ohne dass das bislang auf öffentlichen Sitzungen kritisiert wurde. Stattdessen arbeiten wir – im heterogenen linken Spektum verortet – uns am liebsten, wie andere Wir-Gruppen auch, an den geglaubten Anderen ab. So lautet der Tenor auch in Plagwitz an diesem Tag: Der gutgemeinte Versuch der politischen Befür­wor­­­ter_innen, die Flüchtlinge in Leipzig zu integrieren, scheitert womöglich nicht an dem Verhalten der Flüchtlinge, sondern an der Unfähigkeit der Mehrheitsgesellschaft die Flüchtlinge zu integrieren. Eine Rednerin fragt deshalb: „Wäre es nicht langsam an der Zeit die Bürger und Bürgerinnen Leipzigs, die so gegen die Flüchtlinge hetzen, zu demokratisieren?“ Ist es womöglich an der Zeit Integrationskurse für die deutsche Mehr­heitsgesell­schaft anzubieten?

Schuldzuweisungen á la „Du behinderst die Integration“ helfen jetzt niemandem. Ge­nauso wenig, wie einfach nur Rassisten zu entlarven und sich und seinen eigenen Aktionismus dafür zu mögen. Wichtig ist jetzt mehr denn je auf­ein­ander zuzugehen. Sowohl von Seiten der Flüchtlinge, als auch von Seiten ihrer Geg­ner_innen wurde der Wunsch geäußert miteinander ins Gespräch zu kommen. Ein eben solches Gespräch zu koordinieren, könnte unsere Aufgabe sein. Wir können nicht das Sprachrohr von Flüchtlingen sein. Dazu fehlt uns sowohl ihre Erfahrung als auch ihre Bevollmächtigung. Wir können ihnen aber auf ihren Wunsch hin die Plattformen und Hilfestellungen geben, die es ihnen ermöglichen, selbst die Stimme zu erheben – nicht nur auf dem Papier. Es geht nicht nur darum, das böse System zu bekämpfen, sondern die Menschen und Lebensumstände, für die mensch sich engagiert, kennenzulernen und Freundschaften zu schließen, im Sinne einer face-to-face-Gesellschaft.

(Klara Fall)

Infokasten: Wie alles begann

Angefangen hatte alles mit Am­a­zon. Als das Versandhaus vor rund drei Jahren offiziell Interesse an dem Gelände der Torgauer Straße 290 bekundete, begann in der Stadtverwaltung die Diskussion um die alternative Unterbringung der dort lebenden Flüchtlinge. Der Stadt Leipzig kam der Wunsch von Amazon nach Expansion gelegen, denn sie suchte händeringend nach Investoren, um nicht nur die maroden Häuser, sondern auch die marode Ar­beitsmarktlage zu sanieren. Gleichzeitig musste nun für die Flüchtlinge ein neuer Ort her. Im Sinne der politischen Entscheidungsträger ein Ort „nicht unmittelbar in einem Wohngebiet, insbe­sondere entfernt von Schulen, Kindergärten, Spielplätzen“*. Als die Stadt ihren Vorschlag bekannt gab – ein Containerwohnheim für 300 Personen in der Wodanstraße, nahe der Autobahn im Norden der Stadt – machten sich lautstarke Proteste in der Zivilgesellschaft und in einigen Fraktionen des Stadtparlamentes breit. Im Dezember reichten DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grünen ein erstes Konzept ein, in dem sie eine weitestgehend dezentrale Unterbringung von Asyl­be­wer­ber_innen und Geduldeten forderten. Das Konzept, das im Juni 2010 angenommen wurde, sah eine Mitbestimmung von Initiativen und Vereinen vor, die die SPD und CDU damals ablehnte. Am 8. Mai 2012 stellte die Stadt ihr Konzept „Wohnen für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Leipzig“ vor. Danach soll das Heim in der Torgauer Straße bis Ende 2013 durch sechs kleinere und ein größeres Objekt – letzteres in Grünau – ersetzt werden.

 

weitere Infos: www.menschen-wuerdig.org

 

* 2011 stieg der Zahl der in Leipzig angekommenen Asylsuchenden von 198 auf 278, eine Steigerung um 31 Prozent. Quelle: jule.linxxnet.de/index.php/2012/06/burgerinnen-gegen-asylsuchende/

 

(1) agdezentralisierungjetzt.blogsport.eu/2012/06/13/bericht-von-der-stadtbezirksbeiratssitzung-west-grunau-am-11-juni-2012/

(2) Alle Namen der Bewohner_innen des Heimes wurden von der Redaktion anonymisiert.

(3) Im März 2011 waren in Westdeutschland 14, 5 Prozent Ausländer gegenüber 5,2 Prozent Deutschen arbeitslos gemeldet. In Ostdeutschland 24,6 Prozent Ausländer gegenüber 11,9 Prozent Deutschen. Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2011: statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Statistische-Analysen/Analytikreports/Zentrale-Analytikreports/Monatliche-Analytikreports/Generische-Publikationen/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender/Analyse-Arbeitsmarkt-Auslaender-201103.pdf

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