Debattenkultur – quo vadis?

Er mag einigen Glücklichen entgangen sein, der Medienrummel der letzten Wochen um die „problematischen Zuwanderer,“ um Integrationswille, Vererbbarkeit von Intelligenz, in letzter Konsequenz auch um „Juden-Gene“ und andere vermeintliche Tabuthemen. Tatsächlich hat niemand etwas verpasst, denn Erkenntnisgewinn bot die grob als „Integrationsdebatte“ zusammengefasste Diskussion keinen. Vielmehr nahm eine Reihe von Politikern und so genannten „Personen des öffentlichen Lebens“ die Gelegenheit wahr, die üblichen rhetorischen Seifenblasen und Schimpftiraden auszutauschen und das Scheinwerferlicht zur gnadenlosen Selbstdarstellung zu nutzen.

Angefangen hatte alles mit einer sorgsam orchestrierten Beschimpfungskanonade: Bild und Spiegel hatten die Vorabdrucksrechte an dem Buch „Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ (allein der Titel!) bekommen und dafür dem Bundesbankvorstand und erprobten Populisten Thilo Sarazzin Schützenhilfe geliefert. Anstatt sich von den klassistischen und rassistischen Beleidigungen zu distanzieren, wurden die „Thesen“ zum wertvollen Meinungsbeitrag und der Autor selbst zum „Klartext“-Redner stilisiert: Einer, der endlich ausspricht, was viele schon lange denken. Dabei sind es die Behauptungen Sarazzins gar nicht wert, im gemütlichen Kreis oder auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert zu werden. Wer Zuwanderergruppen nach Herkunftsland pauschal in einen Topf wirft, sich um den moralischen Volkszustand sorgt und über die Vererbbarkeit von Intelligenz räsoniert, der hat sich als ernst zu nehmender Diskussionspartner von vornherein disqualifiziert.

Im Gespräch mit einem Reporter der Süddeutschen Zeitung erlaubte Sarrazin zum Glück einen Einblick in seine Recherchemethoden. Auf die Frage, woher seine viel zitierte Behauptung, dass siebzig Prozent der türkischen und neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung Berlins den Staat ablehnten und in großen Teilen weder integrationswillig noch -fähig seien, erklärte er unumwunden, dass er keinerlei Statistiken dazu hat, weil es solche bislang auch gar nicht gibt. Wenn man aber keine Zahl habe, erklärte Sarrazin weiter, müsse „man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch.“ (1)

Trotz seiner dummdreisten Anmaßung hat der Autor aber offensichtlich einen Nerv getroffen, denn die zahlreichen Reaktionen aus der Bevölkerung lassen erahnen, dass eine nicht geringe Zahl ähnlich denkt. Obwohl die xenophobe Hetze starke Parallelen zu Flugblättern der NPD aufweist, behaupteten manche Medienberichte gar, ein Wählerpotential von 18% für eine neue rechte Bewegung ausgemacht zu haben (2). Wieso auch nicht: Die Art und Weise, wie diese angebliche „Integrationsdebatte“ von vielen Beteiligten geführt wird, bedient das dumpfe Bauchgefühl der ängstlichsten Mitglieder der Gesellschaft, eine konstruktive Debatte wird erschwert.

Stammtischniveau

Beinahe vergessen scheint, dass in der Vergangenheit schon dutzendweise gute Bücher zum Themenkomplex Integration erschienen sind. Doch leider beweist das aktuelle Beispiel, wie leicht sich mit Stammtischniveau Quote machen lässt, und weil unter dem Strich jede beteiligte Seite gewinnt, mischen alle kräftig mit. So funktioniert die schnelllebige Informationsgesellschaft heute: Wenn Bild und Spiegel unkommentiert „Meinungen“ verbreiten, muss ja etwas dran sein. Wenn sich dann noch andere Akteure wie Die Zeit und die dpa beteiligen, wird es aus Sicht der anderen MedienvertreterInnen beinahe schon Fakt. Zugleich muss immer auf die Quote geschielt werden.

Weil Sarazzin seine populären Privatängste öffentlich äußerte, musste er schnell seinen Posten abgeben, sein Parteibuch dürfte demnächst folgen. Dies illustriert, wie stark umkämpft die politische Deutungshoheit auf diesem sensiblen Feld ist. Vor allem die Behauptung des Autors, alle Juden auf der Welt teilten ein bestimmtes Gen, bot den Kritikern der Gegenseite so viel Angriffsfläche, dass diese seine mediale Demütigung mühelos vorantreiben konnten. Manche unter den Journalisten machten sich dennoch die geringe Mühe, den Inhalt des Buches auf Faktizität abzuklopfen. Ergebnis: langweilig und ärgerlich (3). Die simple Masche, populistischen Unfug zu verzapfen, um das „Wir-Gefühl“ im unaufgeklärten Teil der Bevölkerung zu bedienen und jene gegen krude konstruierte Feindbilder aufzubringen, funktioniert eben nur bedingt. Bis heute macht es den Eindruck, dass die mediale Inszenierung zu diesem Reizthema im Sinne der Provokateure verlaufen ist. Wurde sie doch von Beginn an politisch vereinnahmt und vermutlich auch mit dem Ziel, sie für klientelpolitische Zwecke einzusetzen, in Gang gesetzt. Letztendlich spiegelt sich der Untergang des aufklärerischen und meinungsbildenden Journalismus auch in Defiziten im parlamentarischen Systems, das sich ständig nach imaginierten Mehrheiten richtet und die Machtdemonstration mehr schätzt als das begründete Argument. Bleibt zu hoffen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes klüger sind als ihre Regierung, die Realität im – immer mehr medial gestalteten – Alltag wahrnehmen und sich mit anderen Auffassungen auch kultiviert auseinandersetzen, nicht etwa so, wie es ihnen vorgemacht wird. Denn wohin so eine Hetzkampagne auch führen kann, ist derzeit in Frankreich zu beobachten. Dort erlebte kürzlich das, was als mediale Debatte zur „nationalen Identität“ Frankreichs begann, seinen Höhepunkt in der illegalen Abschiebung vieler Sinti und Roma.

(ate)

 

(1) sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/33007/

(2) exemplarisch: www.ksta.de/html/artikel/1283329917995.shtml

(3) www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1260558/

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