Demokratie im deutschen Wahljahr 2004

Hurra, hurra, das Superwahljahr ist da – ein Fest der Politik, welcher Bürger möchte nicht in solch antiken Träumen schwelgen. Aber denkste. Pessimismus aller Orten. Keine Programm-Marathons in Partei­geschichte. Nicht einmal ein ordentliches Lämmerschlachten. Keine Tragik, keine Euphorie. Die Medien halten sich zurück. Die parla­mentarische Debatte wiegt in Lethargie. Da hilft auch kein außen­/euro-politischer Abführtee. Kaum Grüne auf den Friedensmärschen. Kaum Rote am 03.04. (1) in Berlin. Die Schwarzen in die eignen Hierarchien verstrickt, die Gelben kopflos, die Brau­nen dumm wie immer, die Röterroten immer nur dabei statt mittendrin. Selbst dem EU-Parlament fehlen noch Helfer für die eignen Wahlen. Ehrenamtlich versteht sich. Die Reste von politischer Kultur, die die Parteien versam­meln, reichen kaum noch aus, die Lücken zuzuschließen. Hamburg war ein erster Gradmesser. Die Wahlbeteiligung ging um 2,3% auf 68,7% zurück. 10528 Stimmen wurden ungültig abgegeben. Das sind immerhin schon 1,3% von allen (s. Tabelle 2). Die ungültige Stimmabgabe ist eine Option geworden, weil sie ein aktives Moment enthält: Klar seine Stimme zu verweigern, nicht zu delegieren, sondern sie auch selber einzusetzen. (2) Auch wenn kein Erdrutsch zu erwarten steht: 2004 – das Super­wahljahr Deutschlands – könnte zu einem Fiasko der Legitimation parlamen­tarischer Initiative werden. Die Bereitschaft des Bürgers, seine Stimme abzugeben, sinkt ständig. Manch einer sieht es als Strafe für die schlechten Inszenierungen der Par­teien­­politik, manche zieht die Konsequenz aus jahre­langem Hin und Her. Fest steht, die meisten haben begriffen, daß jenseits der dunklen Regierungspolitik, nur düstere Aussichten zu finden sind. Die allgemeine Hilflosigkeit der Parlamente ist auf Landes- und auch Bundesebene erwiesen. Doch was bleibt noch, wenn der Bürger nichts mehr von der Wahl erwartet, politisches Engagement sich weder an der Basis der Parteien noch in Parteien-Neugründungen generiert? Ist das liberale Staatsprojekt an seinem Ende? Und damit auch die demo­kratische Idee? Wo läßt sich Optimis­mus aus politischen Aktionen überhaupt noch schöpfen? Ein Vorschlag sei gegeben.

Die Demokratie in ihrer Gegenwart ist die parlamentarische Lösung im nationalen Mehrparteienstaat. In ihrer Idee ist sie die Teilhabe aller, mithin von jedem und jeder Einzelnen, an der Macht – freiheitlich, brüderlich, gleich. Die Macht und ihre Territorien jedoch, die die Parlamente der nachfeudalen Aristo­kratie im 19. Jahr­hundert listenreich und unter vielen Op­fern abgerungen haben – wie wichtig dabei die Ideen des Sozialismus waren, wie wichtig der gewerkschaftliche Druck der organisierten Arbeiterschaft, wird oft ver­gessen – ging über an die skrupellosen Führer der nationalen Bewegungen, die nicht nur in Europa aufmarschierten. Wie­viel Leid mußte ertragen werden bis mit der „Wende“ und dem Ende des Kalten Krieges endlich die Hoffnung wieder aufkeimte, nun mit dieser alten Macht zum ewigen Frieden fortzu­schrei­ten. Heute fällt es schwer, noch jene Euphorie zu teilen, die damals beide Erdenteile erfaßte, als der staatliche Kriegs­ter­rorismus sich vielerorts zu befrieden begann. Es war ein großer Sieg der parlamentarischen Debatte. So wurde es zumindest hingestellt. Ein Beweis für die politische Wirksamkeit des Parlamen­tarismus. Großen Worten folgten große Pläne und allzu große Erwartungen. Gerade in den Ländereien deutscher Nation. Riesige Verteilungspro­gram­me gebaren gigantische Subventions­kataloge mit sichtbaren Effekten: Wirt­schaftsboom dort, Warenvielfalt hier. Das Rheinische Modell der sozialen Marktwirtschaft stand scheinbar in Blüte. Der Aufstieg der Grünen Partei und das Überleben der links­sozialistischen Kräfte in der PDS jedoch – beide ideologischen Strömungen stießen als Parteien schnell an ihre real­politischen Grenzen – gaukelten eine Ver­änderung des politischen Alltags­geschäfts im deutschen Mehrparteien­staat nur vor, ebenso wie die Staatssubvention auf Pump. Heute, ein neues Jahrtausend hat kaum begonnen, halten Resignation und Trauer wieder Einzug in die Häuser­meere der Städte und Hofzeilen der Dörfer, kehrt an die Herde der Familien, Kollektive und Individuen wie ein Déjà-vu zurück, was man in den Neunzigern noch zu bannen glaubte: die Angst vor dem Morgen. Und wie zum Hohne ist die Überbringerin der Schrecken hierzulande die Rot-Grüne-Re­gierungs­koalition. Der Pessimis­mus wächst. Das zeigen die steigenden Zahlen der Nichtwählenden und Ver­wei­gerungen jeder Art.

Ist der Staat, was seine liberale Idee ver­heißt, der Garant des Friedens durch Zentra­lisierung der Gewalten und damit Wächter jeden Eigentums, kann er bei seinem Bürger und seiner Bürgerin auch Vertrauen erwecken, ihn und sie zur Ab­kehr von der individuell-willkürlichen Gewalt bewegen, gar zur Abgabe seiner Freiheitsrechte. Doch muß der Staat auch andersherum seinem Bürger Vertrauen schenken, will er nicht die durch ihn im Vertrauen zugesicherte Freiheit des Indivi­duums restlos durch staatlichen Zugriff untergraben. Die gegenseitige Vertrauens­basis von Staat und Bürger ist das Herz­stück jedes liberalen Ideals. Aber schon der Blick in die Geschichte zeigt, der Parla­men­tarismus konnte von Anbe­ginn keines seiner noch so liberalen Versprechen ein­lösen. Die Balancen des sozialen Friedens im Innern der national verfaßten Terri­torien, zwischen Arbeits­kampf und Kapitalinteresse, zwischen den Jungen und den Alten, zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Nationalis­ten und den Kommunisten, sie alle blieben von der parlamentarischen Initiative beinahe un­berührt. Den Ausbruch von Krieg und Revolte konnte sie weder verhindern noch ernsthaft begrenzen, im Gegenteil oftmals reichte die Rhetorik der nationalen In­teressen aus den Parlamenten der kriegs­fördernden Maßnahme die Hand. Erinnert sei nur an den Kriegs­zuspruch der deut­schen SPD 1914. Unfriede, Widerstand und Krieg unter­minierten unent­wegt das bürgerliche Vertrauen und zwangen zur bürokratischen Spezialisierung der Parla­mente. Die Parteien mußten sich ständig profilieren, um verlorenes Vertrauen zu aktualisieren. Gewählte Volksvertreter und -vertre­terinnen ja, aber von den Parteien aus der eigenen Elite rekrutiert und auf die Liste gesetzt. Strategisch geplant und aus­ge­­klüngelt, um dem politischen Gegner kein Stück weit Luft zu lassen. Schon hier wird fraglich, inwieweit die oder der Delegierte jenes Vertrauen in die Wähler­schaft unterminiert. Und von da an geht der Riß über eine lange Kette von Amts­miß­bräuchen, nicht gehaltenen Ver­sprechen bis hin zur Korruption. Spä­tes­­tens jedoch seit der Terrorismus im parla­men­tarischen Staate zum Unwesen geriet, bedroht die Eskalation der Inneren Sicher­heit als gesteigertes Miß­trauen der Parla­men­tarier und Parlamen­tarie­rinnen in die Freiheit jedes und jeder Einzelnen den Frieden mit und damit auch das Vertrauen in den Staat. Eine Geschichte der an diesem Punkt ansetzenden staat­lichen, sprich par­la­­men­­­tarisch geführten, Re­pres­­sion im um­fas­sen­den Sinne steht noch aus. Die Offen­legung zumin­dest einiger Stasi-Akten ist nicht mehr als ein Indiz für ein dunkles Staats­kapitel in Ost wie West. Die Aus­maße von Datenerfassung und Ter­roris­mus an der Schwelle dieses Jahr­tausends machen sie zur lächerlichen Zettelkastelei.

Ist also der moderne Mehrparteienstaat, dessen Sonderfall die Europäische Union nur ist, heute weit von der Erfüllung jenes liberalen Ideals entfernt? Ich meine ja. Die Kultur der Individualisierung und die pluralistische Erziehung (3) haben das Miß­trauen reifen lassen, trotz und gerade we­gen der medialen Öffentlichkeit. Par­teien und Gewerkschaften gelten als über­holt, wegen ihren bürokratischen Aus­differen­zierungen und institutionellen Ver­engungen, wegen ihren internen dogma­tischen Ansprüchen und Auslesen, wegen der parlamentarischen (tarif­ründlichen) Praxis und deren Folgen. Das Vertrauen in die Solidarität der „großen Sozialkas­sen“ schwindet. Und wer hat schon Aus­sicht auf politische Mitbe­stimmung, wer fühlt sich dazu in der Lage? Aus Ohnmacht kann kein Vertrauen entstehen.

Ist also mit dem gescheiterten Vertrauens­verhältnis, mit dem Scheitern der liberalen Idee vom Bürger und dem Staate auch die Idee der Demokratie an ihrem Ende – nachdem die Geschichte ihrer Entwick­lung unzweifelhaft mit dem Mehrpar­teien­­staat und seinem Parla­men­tarismus verbunden ist? Scheint Demokratie ange­sichts dessen heute als politische Praxis, die den aufklärerischen Idea­len folgt, nicht mehr möglich? Ich meine nein. Um Egoismus und pes­simis­tischer Stim­mung die Stirn zu bieten, gilt es die demokratische Idee in optimistischer Absicht neu zu beleben. Ihre Ideale von der Frei­heit, Brüderlich­keit (Solidarität), und Gleich­heit des Menschen aufzugeben, hieße ja die Träume und Hoffnungen so vieler mit Füßen treten, hieße schließ­lich die moderne Bewegung des Denkens in ihrem politischen Kern in Frage stellen. Der Rückzug ins Private, sofern er von der Not erlaubt, wäre der Auszug aus der Gesellig­keit, das Aufkündigen jeder ver­trau­lichen Basis, das Ende jeder Politik. So scheint am Ende der liberalen Staatsidee das zu stehen, was sie schon am Anfang im eigenen Menschen­bilde unterstellte. Der Mensch sei eigent­lich nur durch Ge­walt zur Abkehr von dem Egoismus und damit zu Gesellschaft fähig.

Wenn es also so schlecht um die liberale Staatsidee bestellt ist. Wenn ihre politische Praxis des Parlamentarismus heute keines ihrer Versprechen einlösen kann, gar das politische Grundverständnis der gesell­schaft­lichen Verhältnisse bedroht. Wenn das grassierende Mißtrauen die Indivi­duali­sierung befördert und die Zersetzung der Solidarität innerhalb der gesellschaft­lichen Gefüge. Wo kann jener Optimis­mus in die Demokratie überhaupt noch Wurzeln schlagen? Wo herrschen denn noch demokratische Verhältnisse? Wo, wenn nicht direkt zwischen den Menschen? Denn wenn Demokratie die Idee der Teilhabe jedes und jeder einzelnen Betrof­fenen an der Macht über die Verhältnisse bedeutet, so ist gar nicht einzusehen, warum sie sich nur auf Staatsform und -geschichte beziehen soll.

Demokratische Verhältnisse sind, wie sie ab jetzt verstanden werden sollen, das Er­geb­nis von politischen Haltungen, die In­di­­viduen zueinander einnehmen. Sie sind di­rekt und gegenseitig. Deshalb keines­wegs abstrakt. Demokratie herrscht dort, wo sich Menschen in einem aus­balan­cier­ten Machtverhältnis vertrauen. Wer kurz überlegt … wird feststellen, es gibt schon Anlaß zu ein wenig mehr Op­ti­mismus. Denn wenn auch nicht in der Re­gel, der Alltag des Menschen ist von demokratischen Verhältnissen durchsetzt. Trotz aller Unkenrufe, die Leute seien apolitisch und zu einem anständigen Wahlkreuz nicht mehr fähig. In der „klei­nen“ Politik des Alltages sind demo­kra­tische Verhältnisse oft häufiger anzu­fin­den, als in der „großen“ der Parlamente. Demo­kratie ist eine Wirklichkeit, die es aus­zuleben gilt! Der parlamentarische Spiel­raum reicht da lange nicht aus. Und wer kann jemandem ernsthaft das Desin­ter­esse am alltäglichen Parteigeschäft verweh­ren? Modernes Leben sieht sich vielen Ansprüchen ausgesetzt. Der Parla­men­tarismus stellt da lange nicht die höchsten.

Man wäre schnell versucht vom Standbild aus zu schließen, die Verhältnisse im liberalen Mehrparteienstaat lägen doch nicht so schlecht, wie eingangs noch behauptet. Doch nicht aufs Potential sondern die Ent­wicklung kommt es schließlich an. Und hier sind die Tendenzen trübe, die Aus­sicht nochmal düsterer. Idee, Form, Ein­richtung und Geschichte des liberalen Staats­modells sind sehr eng geworden, be­häbig, wenig in der Lage jene demokratischen Verhältnisse, wie oben verstanden, in sich abzubilden, sie zu fördern und direkt auch zu bewirken. Um aber das Ideal der Teilhabe jedes Einzelnen in die Tat zu set­zen und sich den neuen Herausfor­derun­­gen zu stellen, bedarf es viel vielmehr Demokratie. Das ist eine Frage der politischen Kultur. Und die muß in ihrem Herzen utopisch sein, will sie Menschen an sich binden.

Demokratie, optimistisch betrachtet, findet also weder neben noch über Menschen statt, sondern zwischen ihnen. Politisch ist nicht ein Verhältnis zwischen Bürger, Recht und Staat, aus historischer Entfernung kühl betrachtet, politisch ist der Mensch, wenn er sich auf andere bezieht, mit Wünschen, Bedürfnissen und auch Ansprüchen. Politisch ist er, insoweit ihn die Probleme seiner Umwelt, seiner Mitmenschen direkt betreffen. Ist man gewillt zu glauben, das Individuum ist nur mit sich selbst beschäf­tigt und nur an seinem Eigentum interes­siert, wäre jede Aussicht auf das Erleben und Bewirken gemeinsamer Geschichte an ihrem Ende.

Daß zwischen Staat und Bürger die Ver­trauens­basis bricht, ist hinreichend beschrieben worden. Daß politische Kultur im Mehrparteienstaat allzuoft zur Partei­kultur degeneriert, ist einsichtig, sonst wären wir ja längst darüber hinaus. Daß kein Fünkchen Utopie beim Glauben an die Steuerung des positiven Wachstums bleibt, sondern nur hastiges Gefummel, daß kein utopischer Gedanke mehr vom herrschenden Politiker zur beherrschten Bürgerin dringt, liegt auch an der Aus­sichtslosigkeit der parlamentarischen De­batte. Es fehlen die Visionen. Und mit einem Seitenblick auf die Geschichte, ist mensch auch heilfroh darüber.

Es zeigte sich also die Notwendigkeit, den Begriff der Demokratie von seinem her­kömm­lichen Gebrauch, von seiner natio­nalen Sittenhaft zu trennen, das Politische von reiner Staatsverwaltung abzuheben, um Utopie und Optimismus für die demokratische Entwicklung des Menschen zu­rückzugewinnen. Beharrte man auf der An­erkennung der politischen Einrich­tungen, wie sie sind, so wären Pessimismus und auch Egoismus Haus und Tor geöff­net, die Ideale der Aufklärung wären schließ­­lich preisgegeben. So sei das „große“ Politikgeschäft von nun allein ge­las­sen, in der frohen Hoffnung auf Zerset­zung. Der Auszug aus den Parla­men­ten wird Demo­kratie und Selbst­be­stimmung weiter vor­wärts bringen. Geh zu den Ur­nen, laß Dich zählen, aber behalt die Stim­me zumindest dieses Mal bei Dir. Zeig Dich solidarisch mit den Anderen, setz ein Zeichen, nutze Deine Stimme (und auch Deine Arme), eine neue poli­tische Kultur demokratisch zu begrün­den. Der Auf­gaben sind genug gewachsen. Der Op­timismus liegt allein daran zu glau­ben, wir Menschen seien auch dazu befähigt, sie gemeinschaftlich zu über­win­den.

clov

(1) DGB-Großdemonstration
(2) Tipp für anspruchsvolle NichtSwähler: Die Briefwahl. Mensch hat den ganzen Kram zwei Wochen vor der Wahl und kann den Stimmzettel in Ruhe analysieren, disku­tieren, verzieren, beschmieren, file­tieren oder toasten, Hauptsache er geht wieder rechtzeitig zurück.
(3) die etwas geraffte Formulierung verweist einmal auf soziologische Arbeiten zu Indivi­dualisierungsprozessen u. a. von Ulrich Beck, vgl. bspw. „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983; und zum anderen auf den Fakt, das unsere Kinder heute keinen mo­no­­li­thischen Bildungsangeboten mehr gegen­­überstehen.

Theorie & Praxis

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