Der liebe Mitbewohner – eine Ode an die Euphorie

Im Zimmer herrschte eine wesentlich höhere Temperatur als im Sonnenschein draußen. Das führte dazu, dass die ohnehin verbrauchte Luft zum Kauen einlud. Das kulinarische Ereignis wurde allerdings dadurch gemindert, dass die betreffende Luft in solchem Maße nach verdunstetem Bier, Asche und kaltem Rauch roch, dass einem der Appetit verging – alleine schon deshalb, weil sich automatisch der Mund schloss, um nicht weiterhin dem giftigen, sauren Mief Einlass zu gewähren.

Im hinteren Teil des Zimmers stand sein Bett.

Der liebe Mitbewohner lag darin. Als ich eintrat, bemerkte ich eine ungesunde Färbung seines Gesichts… was für ein Gesicht! Der Mundwinkel war wie der Rücken vom vielen Liegen krumm und schien aus der üblichen, menschentypischen Konstellation gerutscht. Seine Wangenknochen standen hervor und verliehen ihm das Aussehen eines langjährigen Lagerinsassen. Dieser Eindruck wurde durch die tief in ihren Höhlen liegenden Augen und die weithin sichtbaren Rippenbögen bestärkt.

Selbst die Augenlider hatten Falten, die beinahe dazu führten, dass die kleinen Augenschlitze kaum wahrgenommen werden konnten. Sie waren wie die schiefen Mundwinkel von Schlaf und Trägheit in der verschwitzten Hitze des Zimmers völlig verklebt.

Als er zum Reden ansetzte, riss die Kruste seines linken Auges und ihm entströmten Tränen, wegen dem ungewöhnlichen Reiz von Tageslicht. Zwischen der Bewegung seines Kiefers und der Reaktion seiner Mundwinkel lagen einige Sekunden, es schien, als sei durch die tagelange Inaktivität und das bekiffte Vor-sich-hin-Siechen sein Gesicht im Begriff, von den stabilen Komponenten seines Kopfes zu fließen.

Als dann das unförmige Loch (Mund) endlich auf war und die tabakverschmierten Zähne freilegte, entfuhr ihm zuerst der Geruch einer Kneipe ohne Frischluftzufuhr und dann ein undefinierbarer Laut, ein „Guter Morgen“, über dessen Sonnenaufgang sich schnell wieder die wie Regenwolken verquollenen Lippen legten.

Er redete dann erstmal weiter, aber seine Worte entglitten meiner Aufmerksamkeit – stumm vor Staunen, was alles aus einem Menschen werden kann, stand ich vor seinem Bett und betrachtete das ganze Ausmaß seiner Degeneration: Er lag in einem Haufen Asche, der mit Zigarettenstummeln durchsetzt war. Der Aschenbecher an der Bettkante war fast leer. Die Fensterbank hinter ihm war gesäumt von leeren Bierflaschen, die auch Paludarien sein konnten – darin wuchs der Beginn einer neuen Evolution vom Urkeim an. Seine Decke war mehr ein entfärbter Drecklappen, der sich in die Müllhalde und in den Aschenhaufen verdreht hatte und seinen ausgemergelten Körper nur unvollständig bedeckte. Das komplette Zimmer, sein Inventar und er selbst waren von einem gelblichen Film Nikotin bedeckt, selbst das wenige einfallende Licht wurde von einer solchen Schicht gefiltert.

In diesem Licht, einem Heiligenschein aus Dunst, Rauch und Gestank, wälzte sich der liebe Mitbewohner nach seinem Tabakbeutel hin. Nach seinen ersten Worten brauchte er wieder eine Zigarette – einem üblichen exzessiven Kettenraucher hätte die Luft von gestern Nacht gereicht, um einen Nikotinrausch zu erleben. Nachdem die neue Zigarette gedreht war und der Tabak aus seinem schiefen Mundwinkel auf die Bettdecke rieselte, um dem ganzen Dreck dort Gesellschaft zu leisten, zitterte seine dürre Hand zu dem Feuerzeug.

Die Anstrengung für seinen Dau­men muss kaum erträglich gewesen sein, denn nach­dem die Flamme brannte, krampfte dieser bis die Knöchel weiß wurden und zitterte nur langsam in seine Ursprungs­po­si­tion zurück. Da­bei krach­ten seine Gelenke wie Knallfrösche zu Neu­jahr. Die dürren Ärm­chen sanken auf die Bettdecke und in den Aschenbecher. Ein saugendes Geräusch ertönte, und beim Aufglimmen der Zigarette stank es fürchterlicher denn je. Plötzlich wurde der Körper des lieben Mitbewohners von einem starken Husten geschüttelt. Aus der Teergrube seiner Lunge mussten einige Abgasfürze aufgestiegen sein, die nun an seinem Gerippe rüttelten.

Ich war sehr besorgt und fragte den Siechenden ob es ihm gut ginge – und aus seinem dreckverschmierten Lager tönte doch tatsächlich ein hilfloses, krächzendes „jaaaa..a….a.“

Ich musste nun zusehen, dass ich seinen morgendlichen Rauchattacken auswich. Die erste schwere Schwade Gestanks walzte sich bereits unheilsschwanger und das Zimmer verdunkelnd auf mich zu – ich drehte mich zügig zur Tür, und als ich sie öffnete, richtete ich noch mal einen Blick zurück… „Naja, alles was Spaß macht, nech!?“

Marcel Faust

Uebrigens

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