Der Prozess in Stuttgart-Stammheim

Seit dem 17.März 2008 findet vor dem Ober­landesgericht (OLG) Stuttgart in der JVA-Stelle Stuttgart Stammheim ein Pro­zess nach den §§129, 129a und 129b gegen fünf linke Migranten statt. Das Ver­fahren ist der erste große §129b-Pro­zess, der sich gegen eine linke Organi­sation rich­tet. Damit soll ein Präzedenzfall ge­schaffen und so der Weg für weitere Ver­fahren und Kri­minalisierungen nach §129b geebnet wer­den. Daher wollen wir mit diesem Arti­kel kurz den aktuellen Stand des Verfahrens zusammenfassen. Den Angeklagten wird die Mitgliedschaft in und Unterstützung der Revolutionären Volks­­befreiungspartei-Front (DHKP-C) vor­geworfen.

Diese marxistisch-leninistisch orientierte tür­kische Untergrundorganisation ging An­fang der 90er Jahre aus der Spaltung der Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) in zwei kon­kurrierende Flügel hervor. In der Folge kam es auch zu gewaltsamen Aus­ein­an­der­setzungen und Schießereien zwischen den Mit­gliedern dieser beiden Flügel, die meh­re­ren Menschen das Leben kosteten. Neben der Arbeit in Ge­werk­schaften und Stadt­teil­organisationen unterhielt die DHKP-C auch eigene Guerillaeinheiten und führte Atten­tate und Bomben­an­schläge durch. So be­kann­te sie sich 2003 zu zwei Bomben­an­schlägen gegen ein Hotel in Istanbul und eine McDonalds-Filiale, bei denen mehrere Menschen ums Leben kamen – in ihren Be­kennerschreiben ordnete die DHKP-C die­se Aktionen als Teil des antiimperia­listischen Widerstands gegen den Irakkrieg ein. Seit 1998 ist die DHKP-C in der BRD ver­boten, 2002 wurde sie auf auf die Terror­listen der USA und der EU gesetzt.

Auch wenn Programmatik und Aktions­formen dieser Gruppierung sicher frag­würdig sind, ist Solidarität in diesem Fall dringend nötig, weil auch das Verfahren selbst in vielen Punkten fragwürdig ist.

Die Anklage

Die Anklageschrift im Prozess in Stuttgart-Stamm­heim bezieht sich auf einen Fall von Waffenschmuggel, Urkundenfälschung und Spendensammlungen. Sie beruht auf durch Fol­terungen erzwungene Ge­stän­dnisse und In­formationen sowie auf Er­mittlungen des tür­kischen Geheim­diens­tes MIT und des Ver­­fassungs­schutzes.

Die Anklage stützt sich jedoch maßgeblich auf die Aussagen des psychisch kranken Haupt­­belastungszeugen Hüseyin Hiram. Die­ser unternahm während seiner Haft­zeit in Koblenz, wo er vor dem OLG wegen Dop­pel­agentschaft (er war gleich­zeitig für den deutschen und den tür­kischen Ge­heim­dienst tätig) verurteilt wurde, einen Selbst­mord­versuch und lei­det seitdem an Schizo­phrenie. Am Prozess selbst kann er nur durch die Einnahme starker Neuro­lep­tika teil­nehmen. Durch die star­ke Me­dikation und seine Krankheit ist er nicht in der Lage, zu­­sammen­hängend und selbstständig zu spre­chen. Bei seinem „Verhör“ las der Vor­sitzende Teile seiner bisherigen Aussagen vor dem Ge­richt in Koblenz vor, die er dann le­dig­­lich mit ja oder nein beantworten muss­te. Dennoch widerspricht er sich oft, ver­wirft alle Aussagen die er gemacht hat und beleidigt dabei die Angeklagten.

Als die Verteidigung die Befragung von Hüseyin Hiram aufnehmen sollte, wurde seine Anhörung vor Gericht unan­ge­kün­digt unterbrochen, um den Istan­buler Po­lizei­chef Serdar Bayraktuktan aus der Tür­kei zu vernehmen. Die Anwälte der An­geklagten konnten einen Aufschub der Ver­nehmung er­reichen, da gegen Bayrak­tutan in der Tür­kei zur Zeit noch zwei Verfahren wegen Fol­tervorwürfen laufen. So ist er Mitglied einer An­ti­­terroreinheit, die erst am 8. Oktober die­sen Jahres den 29-jährigen Engin Ceber so­lange gefoltert hatte, bis dieser mit Ge­hirn­blutungen ins Krankenhaus ein­ge­liefert wurde, wo er dann verstarb.

Die Situation der Gefangenen

Seit ihrer Verhaftung im November 2006 bzw. im April 2007 befinden sich alle An­geklagten – bis auf Ilhan Demirtas, der auf Grund des hohen Drucks unter einer psy­chischen Erkrankung leidet – in Isola­tions­haft. Die Gesundheit aller ist an­ge­schlagen. Ins­besondere Mustafa Atalay ist da­von be­troffen. Er wurde nur drei Wochen nach einer Bypass-Operation aus der Reha­klinik heraus verhaftet und leidet unter akuten Herz­problemen. Seine Herzgefäße sind wie­der verstopft, eine medizinische Behandlung wird ihm durch das Gericht verwehrt. Damit wird nicht nur die Ge­fahr bleibender Schä­den wie Lähmun­gen schlichtweg ignoriert, die Justiz nimmt damit auch den möglichen Tod des Angeklagten in Kauf.

Solidarität…

Die zahlreichen Schikanen, die die Ge­fan­ge­nen, Verteidiger und Prozess­besucher über sich ergehen lassen müssen, die An­klage, die sich gegen eine politische Orga­ni­sation rich­tet, sowie das mediale Schwei­gen, das den Pro­zess begleitet, ver­deut­lichen den Charak­ter als po­li­tischen Schauprozess und machen die Notwendig­keit deutlich, gemeinsam da­ge­gen vor­zu­gehen. Dabei richtet sich das Ver­­fah­ren keines­wegs nur gegen migran­tische Struk­turen, son­dern stellt letztlich einen Angriff auf inter­nationalistische Arbeit und die inter­nationale Solidarität dar und ver­sucht die­jenigen, die gegen die Aus­beu­tungs- und Unter­drückungs­ver­hält­nisse vor­gehen, zu kriminalisieren und auf­kommen­den Widerstand schon im Vor­feld auszu­merzen.

Um uns dagegen wehren zu können, müssen wir uns solidarisch verhalten und die aktuel­len Repressionsfälle in unsere Praxis und Dis­kussion miteinbeziehen. Denn Solida­ri­tät ist unser Schutz und unsere wichtigste Waf­fe gegen die Re­pression – ungeachtet von unter­schied­lichen politischen Konzep­tionen oder Aktionsformen.

Rote Hilfe

Mehr Infos unter:
www.no129.info

Aktuelle Repressionsfälle nach §129b

Für diese und andere Verfahren wird der Prozessausgang in Stuttgart-Stammheim entscheidend sein:

Am 5.11.08 gab es in Köln, Duisburg, Dortmund und Hagen erneute Razzien und drei Festnahmen aufgrund des §129b. Im Zuge der Durchsuchungen, bei denen Geld, Computer und Datenträger beschlagnahmt wurden, wurden Ahmet Istanbullu, Nurhan Erdem und Cengiz Oban, denen die Mitgliedschaft und Unterstützung der DHKP-C vorgeworfen wird, festgenommen und dem Bundesgerichtshof vorgeführt. + + + Vorraussichtlich Ende dieses Jahres soll in Düsseldorf ein weiterer §129b-Prozess gegen Faruk Ereren beginnen, dem vorgeworfen wird Mitglied des Zentralkomitees der DHKP-C zu sein. + + + Ein weiterer Prozess gegen die Journalistin Heike Schrader, der vorgeworfen wird, Mitglied der DHKP-C zu sein, wird vorbereitet.

+ + + Des weiteren wird ein Verfahren gegen 10 Personen angestrebt, denen vorgeworfen wird, innerhalb der TKP/ML (Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) eine „terroristische Vereinigung“ gegründet zu haben.

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