Der Traum ist aus

Ein persönlicher Wendeherbst: Vom Freiheitstraum zum Einheitstrauma

 

Ich war im Oktober ’89 fast 15 Jahre alt, seit Sommer Gruftie und interessierte mich seit circa einem Jahr für Politik, vielleicht auch schon länger. Zu Hause und in der Schule diskutierte ich über Reisefreiheit, Konvertierbarkeit der Währung, mehr persönliche Freiheiten und Friedenspolitik, Abrüstung und Wehrpflicht, mir stand ja auch das Trainingslager (ZV1) bevor, wo ich keinesfalls hinwollte. Zu dieser Zeit reisten sehr viele Leute aus der DDR aus, und auch die Anzahl der Flüchtlinge über die Tschechoslowakei und Ungarn nahm seit Sommer extrem zu. In die für uns erste Montagsdemo gerieten meine Freundin und ich eher zufällig. Wir kamen mit der Bahn (von der Tanzstunde) und die Bahn fuhr nur bis zum Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz). Wir mussten also, um nach Hause zu gelangen,aussteigen und durch die Stadt laufen, aber soweit kamen wir nicht. An der Nikolaikirche waren Menschenmassen, und neugierig wie wir nun mal sind, gingen wir nachsehen, was da los war. Solcherlei Menschenauflauf war untypisch für einen normalen Montag, es gab ja auch damals keine ständigen Demos, so wie heute, sondern nur Angeordnete zum 7.10. und 1. Mai.

Das war am 9. Oktober. Vom 2.9. in Leipzig und 7.10. in Berlin hatte ich nichts mitbekommen, sonst wäre ich sicher weniger unbeschwert gewesen. Obwohl ich auch damals schon ein Widerspruchsgeist war, der sich nicht so schnell einschüchtern lässt. Außerdem war ich jung und hatte keine Erfahrungen mit Gewalt. Wir kamen durch die kleine Gasse am Elefantenhaus und hatten eine stark eingeschränkte Sicht. Jedenfalls sahen wir uns soweit wie möglich um, unterhielten uns mit Anwesenden und erfuhren so den Grund des Auflaufs. Hier waren wir richtig!

Langsam baute sich eine Spannung auf: durch das lange Herumstehen, durch die Polizei, die langsam einen Kessel bildete, sonst aber ruhig blieb, und durch gegenseitiges Hochschaukeln. Man witzelte, dass man den Bullen sagen könnte, man müsse hier durch, weil der Zug nach Ungarn gleich fährt etc.

Dann begannen, während in der Kirche noch das Friedensgebet andauerte, die Sprechchöre mit „Wir bleiben hier“; „Neues Forum zulassen“, „Keine Gewalt“; „Wir sind das Volk“ und Leute begannen „die Internationale” zu singen. Wir beschlossen nun endgültig, an der Demo teilzunehmen. Wir waren aufgeregt, leicht enthusiastisch, aber doch angstfrei. Ich konnte mir damals in meinem jugendlichen Leichtsinn, trotz Peking, nicht vorstellen, dass der Staat Knüppel und Hunde gegen die Bürger einsetzen würde. Wir waren ja keine Fußballrowdys, wir randalierten nicht, sondern waren friedlich. Vom 17.6.1953 hatte ich eigentlich keine Ahnung, wusste nur, dass es mal Proteste gegen die Normerhöhung gegeben hatte, aber nicht, wie sie endeten.

Wir liefen also mit, riefen mit, sangen die Internationale mit und erlebten einen unglaublichen Zusammenhalt während der Demo. Dabei kamen wir mit vielen Menschen ins Gespräch, es wurden Weintrauben (Mangelware) und Getränke durchgereicht, ebenso Kerzen. Vor der runden Ecke hielt die Demo an. Während weiter gerufen wurde, befestigte man Kerzen auf den Stufen. Schließlich ging es weiter und wir liefen kurze Zeit später nach Hause, es war “nichts” passiert. Zu Hause angekommen, erzählte ich meinen Eltern davon, baute Luftschlösser vom veränderten System und was alles möglich sein würde.

Mir ging es gut als Ostkind, ich bin auch heute noch sehr froh darüber, im Osten Deutschlands aufgewachsen zu sein, aber ich hatte Träume vom Reisen (Regenwald, London) und wollte nicht zum ZV und hasste und hasse Kontrolle, Überwachung und staatliche Zwänge. Meine Eltern, besonders meine Mutter, fanden die Idee schon gut, waren aber besorgt, dass mir etwas passieren könnte. Nach einiger Zeit der Diskussion à la „Revolutionen sind toll, aber nicht wenn du daran teilnimmst und dir wehtun könntest“, erklärte ich, dass sie mich schon einsperren müssten, um zu verhindern, dass ich dort wieder hinginge.

Im Laufe der Woche begannen wir in der Schulklasse über Reformen zu diskutieren, „Neues Forum“ in die Bänke zu kratzen etc. Am nächsten Montag (16.10.) gab es vom Klassenlehrer ‘ne Ansprache, dass es verboten sei, sich den kriminellen Elementen anzuschließen, die der Klassenfeind geschickt habe, … also im Klartext: Geht nicht zur Montagsdemo, wer erwischt wird, bekommt Ärger.

Wir fuhren nicht zur Tanzstunde, sondern bummelten durch die Stadt, dabei entdeckten wir am Neumarkt Bullen auf LKWs mit kläffenden Schäferhunden, die nicht gerade zutraulich aussahen, da wurde uns schon ein bisschen mulmig. Um die Kirche herum waren schon wieder Menschenmassen, wir liefen eine Weile drumherum, guckten uns die Leute an und überlegten, ob man die Stasitypen erkennt: Typen im Trenchcoat z.B. waren für uns potentielle Verdächtige. Ein paar Leute standen auf Containern einer Baustelle. Vor der Kirche lungerten „Wessi-Reporter“ herum, die die Leute anstachelten und ihnen sagten, was sie in die Kamera rufen sollten. Widerwärtig. Wir sind doch keine Zootiere.

Die Demo lief wie die Woche zuvor. Diesmal hatten auch wir Kerzen dabei und die zerschnittenen Marmeladenglasdeckel aus Plastik, die verhindern sollten, dass einem das heiße Wachs auf die Hände tropft. Auch diesmal passierte nichts. Die Leute riefen wie gehabt nach Gorbi, dem Neuen Forum, Reformen, ”Wir bleiben hier“ etc. Kontext der Forderungen war keine Wiedervereinigung sondern eine bessere, freie DDR. Die Leute wollten nicht abhauen, sie wollten Mitbestimmungsrechte, (Reise)-freiheit, keine Überwachung und vieles mehr, vor allem wollten sie die verbesserte DDR erhalten, statt im großdeutschen Reich anzukommen. Zu Hause sah ich mir die Nachrichten auf DDR 1 an, die Tagesschau und dann noch den schwarzen Kanal.

Wir gingen auch an den folgenden Montagen zur Demo (23.10., 30.10., 6.11.). Die Stimmung wandelte sich, es gab nun viele Transparente, die Parolen veränderten sich. Es wurde das Politbüro und die Stasi angegriffen, es hieß nun häufiger ”Die Mauer muss weg“.

Von der Mauereröffnung am 9.11. erfuhr ich erst spät, da ich vorher im Kino war, und konnte es erst gar nicht glauben. Irgendwann Ende ’89 fuhr auch unsere Familie für einen Tag “in den Westen”. Ich konnte mir einen Doppelkassettenrecorder und leere Tapes kaufen und war zufrieden. Im Osten hätte mich der Recorder 1200 Mark gekostet, war also mit Taschengeld und Ferienjob nicht drin. Ich war zufrieden, mehr wollte ich dort gar nicht.

Wir gingen weiterhin demonstrieren. Parallel zu den Veränderungen im Politbüro, veränderte sich auch der Charakter der Montagsdemos. Es gab nun die Möglichkeit “in den Westen“ zu fahren, Bananen bis zum Erbrechen zu essen … Die Bürgerseele war zufrieden, es wurden zusehends weniger Demonstranten. Nun hörte man verstärkt Rufe nach Wiedervereinigung, nach “Deutschland einig Vaterland”, es wehten überall Deutschlandfahnen, Nazis verteilten Propagandamaterial von DSU, Republikanern etc..

Plötzlich gab es nur noch sehr wenige, die die DDR verbessern wollten, einige Betonköpfe die alles so lassen wollten, wie es 40 Jahre lang war, und eine Menschenmasse, die darum bettelte mit Bananen von neuen Führern dressiert zu werden. Eine Weile tat ich mir das noch an, hörte mir die Überzeugungen der Stalinisten und der Helmutverehrer an, bis mir schlecht wurde. Ich diskutierte mit bzw. gegen Altstalinisten und neue alte Nationale, doch musste ich einsehen, dass mit keinem zu reden war. Die einen genauso stur wie die anderen. Die Masse wollte sich sofort und bedingungslos von der BRD vereinnahmen lassen. Mein Einwand, dass wir in 20 Jahren als gleichberechtigte Staaten darüber nachdenken könnten, ob eine Vereinigung Sinn macht, wurde mit der Androhung von Gewalt abgewürgt.

Ich hatte die Vision, dass wir Zeit brauchen, das System zu ändern, die Wirtschaft auf dem internationalen Markt zu etablieren und eine stabile, frei konvertierbare Währung zu bekommen. Ich war gegen eine (sofortige) Wiedervereinigung, sah Existenzen scheitern, alles kaputtgehen, was hier wertvoll war. Alle die zu faul waren etwas zu verändern, hätten gehen sollen, ich wollte ein neues Land aufbauen mit denen, die motiviert dazu waren ein Land zu schaffen, das echte politische Mitwirkung zuließ, das fast alle Freiheiten bot, aber als Wirtschaftsgrundlage nicht den Kapitalismus hatte. Was Arbeitslosigkeit war, wusste ich aus den Erzählungen der Westverwandtschaft. Ich wollte nicht vor Schaufenstern mit tollen Auslagen stehen, die ich aber nicht kaufen kann, weil das Geld fehlt. Dann lieber nur 1/10 der Waren, dafür aber für alle. Ich sah DDR-Erzeugnisse in Westdeutschland, wusste von Exporten in alle Welt und malte uns realistische Chancen aus, bei gerechter Verteilung der Gewinne an alle, statt an wenige in hohen Ämtern.

Da waren doch im Oktober so viele Menschen, die etwas anpacken wollten, die das Land verbessern wollten – wo waren sie hin? Ich war plötzlich wieder umgeben von Menschen, die auf Handlungsanweisungen der Regierung warten, nur diesmal sollte der Führer nicht Erich sondern Helmut heißen. Resigniert und total gefrustet gab ich auf. Für die nächsten Jahre konnte mir Politik weitgehend gestohlen bleiben. Ich hatte Stress mit Nazis, Deutschland wurde Fußballweltmeister und „wiedervereinigt”. Der dadurch angestachelte nationale Wahn erreichte mit Rostock, Solingen und Mölln seinen Höhepunkt.

Klasse fand ich, trotz aller Enttäuschungen, die Zeit um 1990. Im Alltag war irgendwie fast alles möglich, und da kaum noch jemand an den Gesetzen der DDR festhielt und wir noch nicht unter gesamtdeutscher Gesetzgebung standen, war auch fast alles erlaubt. Man konnte besetzen, schwarz irgendwo einziehen (leere Wohnungen gab es seit Sommer ’89 genug), klauen gehen, überall Parties veranstalten etc.. Alle wollten nun Demokraten sein: die Bullen, die Lehrer, die Beamten, alle wollten im neuen System eine Arbeit erhalten und nicht unangenehm auffallen. Man gab sich bürgerfreundlich.

Aber ab dem 3.10.90 war es damit vorbei. Es gab wieder geltende Gesetze, Neue wurden erlassen.

Noch bis ’94 oder ’95 war Politik etwas was mich eher zufällig traf, wie Wahlen, paar Demos in die ich zufällig geriet etc.. Erst Mitte der 90er konnte ich mich wieder bewusst für politische Aktionen einsetzen. Als dieses Jahr „Goodbye Lenin“ im Kino lief, habe ich genauso geweint, wie gelacht. Zu lebendig wurde wieder die Zeit in der alles möglich schien um dann doch so zu enden.

 

banane

(1) Zivilverteidigung, Wehrlager für Mädchen und Jungen während der 9. Klasse, als Vorbereitung auf die Armee

Schreibe einen Kommentar