„Die Bereitschaft Ja zu sagen“

Freiheit und Widerstand bei Joachim Gauck

Bundespräsident Joachim Gauck ist der selbst ernannte „Liebhaber der Freiheit“ unter den deutschen Politikern. Seit bald einem Vierteljahrhundert tourt der überzeugte Antikommunist nun schon durch deutsche Medienarenen und Universitäten, um einer irrlichternden, mit den Verhältnissen unzufriedenen Bevölkerung von den freiheitlichen Segnungen der hiesigen Gesellschaft zu künden. Die Stimmen der Unzufriedenen sind, allen Verkündungen zum Trotz, bisher nicht verstummt. Ein Blick auf das Verständnis von Freiheit, für das Gauck wirbt, erklärt warum.

Im Mittelpunkt seines Freiheitsbegriffs steht die Verantwortung. Wer die politischen Debatten seit der Jahrhundertwende verfolgt hat, mag sich bei diesem Wort erinnert fühlen an rot-grüne Regierungsjahre, an die Agenda 2010, hier insbesondere an das Mantra von der Eigenverantwortung. Für den erklärten Agenda-Freund Gauck bedeutet Verantwortung „die Bereitschaft, Ja zu sagen, zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung.“ (1) Nur wer also dazu bereit ist, „Ja zu sagen“ zu den bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen innerhalb einer Gesellschaft, kann, so Gauck, überhaupt in Freiheit handeln: „Wenn wir uns derart […] zu der uns umgebenden Wirklichkeit verhalten, dürfen wir das als Verantwortung bezeichnen. Ich nenne die Freiheit der Erwachsenen »Verantwortung«“. (2) Diese „Freiheit der Erwachsenen“ kann jedoch nur in einem geeigneten gesellschaftlichen Rahmen sinnvoll ausgeübt werden, und dieser Rahmen ist für Gauck die staatsbürgerliche Herrschaft von freiheitlich-demokratischer Art. Ist diese Herrschaftsform innerhalb eines Gemeinwesens nur schwach ausgeprägt, oder überhaupt nicht vorhanden, besteht Grund zum Widerstand: „Die DDR-Regierung nannte uns zwar »Bürger«. […] Dabei wussten wir, gelehrt von der europäischen Aufklärung und einigen Staaten in denen Demokratie schon zuhause war, dass Bürger diejenigen Menschen sind, die Bürgerrechte haben, und diese auch ausüben können. Wir, die wir diese Bürgerrechte nicht hatten, waren zwar auch wertvoll und hatten unsere Würde – aber Bürger waren wir nicht. […] Die Freiheit war nicht dort, wo ich lebte.“ (3) Gaucks Kritik am DDR-Regime zielt mithin nicht ab auf ein Vorhandensein von Herrschaft per se, sondern nur auf die in­effektive Or­ga­nisation von Herrschaft. Die rohe, allzu offen­sichtliche Poli­zeistaatlichkeit der DDR machte es ihren Bewohnern letztlich unmöglich, daran zu glauben, herrschende Klasse und Bevölkerung verfolgten gemeinsame politische und ökonomische Interessen. Eine echte positive Hinwendung der allgemeinen Bevölkerung zur herrschenden Klasse war in der DDR zur Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse nicht notwendig, und daher auch nicht vorgesehen. Die von Gauck verfochtene staatsbürgerliche Herrschaftsform freiheitlich-demokratischer Prägung hingegen baut auf die Fähigkeit des mit staatlich eng abgefassten Freiheitsrechten ausgestatteten Bürgers zur Einsicht in die Notwendigkeit des Vorhandenseins der bestehenden Herrschaft. Sie vertraut also auf das, was Gauck „Freiheit der Erwachsenen“ nennt – eine echte, positive, geradezu vertrauensvolle Hinwendung zur Macht, eine vom Bürger selbst für gut und richtig gehaltene Bejahung der bestehenden Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft: „Wir werden gebraucht und alles wird gebraucht, was aus Untertanen Bürger macht. […] Es braucht eine Geneigtheit seiner Bewohner für die der französische Schriftsteller Montesquieu sogar den Begriff Liebe verwandte. Als Deutscher und Kind dieses Jahrhunderts denkt man natürlich sofort an die Fülle missbrauchter Gefühle – die Liebe zu Scholle, Heimat, Nation zum Thron und zum Führer – und hört weg. Aber wir sollten die alte Begrifflichkeit vielleicht neu buchstabieren. Es könnte ja sein, dass wir auf eine innere Wahrheit stoßen, die wir dringend brauchen.“ (4)

Freiheit bei Gauck rekurriert also auf eine Freiheit des Beherrschten vermittels staatsbürgerlicher Freiheitsrechte wie dem Recht auf freie Rede, der Gewissens- und Wahlfreiheit, Vertrauen in politische Führer und gesellschaftlichen Eliten aufzubauen, um dann schließlich an die „gute Herrschaft“, an Einigkeit und Interessengleichheit zwischen herrschender Klasse und Gesamtbevölkerung glauben zu können. Diese Freiheit, sich „aus freien Stücken“ und „guten Gewissens“ einer herrschenden Klasse verschreiben zu können, erhebt Gauck zum Grundbestandteil der menschlichen Natur: „Unsere Fähigkeit zur Verantwortung ist somit nicht etwas, das durch Philosophen, Politiker oder Geistliche quasi von außen in unser Leben hineingebracht würde, sondern gehört zum Grundbestand des Humanum“. (5) Wer gegen diese, dem Menschen angeblich innewohnenden Bestimmung, „Verantwortung zu übernehmen“, Widerstand leistet, d.h. wer es wagt, das so in Staatsbürgerlichkeit abgefasste Herrschaftsgefüge der Bundesrepublik, bzw. anderer westlicher Demokratien fundamental abzulehnen, versündigt sich an sich selbst und seinen Mitmenschen. Widerstand gegen die hiesige Gesellschaft ist damit moralisch delegitimiert, aber auch psychologisch unhaltbar, denn Gauck will entdeckt haben, „dass es einen unglaublich kraftvollen Indikator für dieses Ja zu einem Leben in Verantwortung gibt […] Es ist nämlich so, dass unsere Psychen uns belohnen, wenn wir leben, was als Potenz in uns angelegt ist.“ (6)

Entsprechend abschätzig beurteilt Gauck dann auch jeden dennoch stattfindenden Versuch einer Kritik an den politischen und ökonomischen Resultaten dieser freiheitlich-demokratisch abgefassten Herrschaft. So erscheinen ihm die Proteste gegen die Sozialreformen der Agenda 2010 als „töricht und geschichtsvergessen“ (7), Antikapitalismus-Debatten „albern“ (8), und Kriegsgegner „glückssüchtig“ (9). Bundesdeutsches Politikpersonal darf, so Gauck, nicht „beschimpft“ werden, denn diese sind schließlich „nicht Erwählte von Gottes Gnaden, sondern es sind von uns und aus unserer Mitte Erwählte. Und darum haben sie unsere Farbe, unsere Tugenden und unsere Laster. Es ist wohlfeil, sich von ihnen abzuheben, als gehörten sie einer anderen Rasse an. Es ist übrigens auch verantwortungslos.“ (10) Folgerichtig konstatiert Gauck mit Blick auf staatsbürgerliche Herrschaft und Lohnsklaverei das Ende menschlicher Geschichte: „Warum gehen wir oft in die nicht-demokratische Welt hinaus, und tun so, als hätte unsere demokratische Welt »Nichtwerte« ? […] Kann nur ein polnischer Ministerpräsident, wie Donald Tusk, der die Unfreiheit des Sozialismus erlebt hat, formulieren, was unser aller Grundhaltung zu Europa sein sollte: »Es ist tatsächlich der beste Ort der Welt, etwas besseres hat bisher niemand erdacht!«? […] Darin zeigt sich: Wenn wir politische Freiheit gestalten wollen, gibt es nicht allzu viele Varianten. Ich jedenfalls kenne keine, die den Grundsätzen dieser westlichen Variante von Eigenverantwortung vorzuziehen wäre. Es gab zwar Gegenentwürfe, in Europa erwachsen aus dem Marxismus […] Aber diese Entwürfe haben sich nicht behauptet […] Und deshalb gibt es auch keinen Grund für den alt-neuen Versuch, eine neue Variante von Antikapitalismus in die politische Debatte zu bringen.“ (11)

Worin auch immer nun eine annehmliche oder „richtige“ Variante von Freiheit bestehen mag, in der Befähigung Herrschaft unter Zuhilfenahme von staatlich genehmigten Bürgerrechten schätzen zu lernen, kann sie kaum bestehen. Kein Mensch sehnt sich nach Herrschaft, und niemand akzeptiert sie widerstandslos. Davon zeugen Gefängnisausbrüche, Arbeitsniederlegungen und Delinquenzen im Schulalltag genauso wie jener dauernde Spott an den Politiker_innen, den Gauck nicht gelten lassen will. Diesen Sachstand empfinde ich als ungemein beruhigend.

carlos

(1) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.26, Kösel-Verlag, 2012
(2) ebd.
(3) ebd., S.17 ff.
(4) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.149, Siedler Verlag, 2013
(5) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.36, a.A.o.
(6) ebd., S.40
(7) Thomas Rogalla, „Joachim Gauck nennt die Hartz IV-Proteste berechtigt, sieht aber einen grundlegenden Unterschied zum Herbst 1989“, Berliner Zeitung, 09.08.2004
(8) http://www.sueddeutsche.de/politik/occupy-beweung-und-die-macht-der-finanzmaerkte-gauck-empfindet-antikapitalismus-debatte-als-unsaeglich-albern-1.1166051
(9) http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/06/120612-Bundeswehr.html
(10) Joachim Gauck, „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen – Denkstationen eines Bürgers“, S.194, a.A.o.
(11) Joachim Gauck, „Freiheit – ein Plädoyer“, S.55 ff., a.A.o.

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