Die Diktatur der Ästheten

Die ästhetische Gestaltung unserer Umwelt trägt heute vorwiegend elitären Charakter. Im Sinne derer, die Macht und Geld haben, werden gestalterische Ideen umgesetzt. Die Masse hat sich diesen Vorstellungen unterzuordnen. Grafittimaler rebellieren gegen diese Diktatur der Ästhetik. Legitim?

Meinen Frankreichaufenthalt vor einigen Jahren verbrachte ich vorwiegend knipsend. Ausgerüstet mit einem Fotoapparat lief ich durch die Straßen Albis und hielt Ausschau nach Styles (1) und Farben, nach gutem Graffiti. Ich ging wohl mit anderen Augen durch die Stadt, als die meisten Touristen, denn mich interessierten keine Berge, Strände oder Kakteen. So etwas langweilte mich. Mich interessierten die Bilder und Botschaften, die ich an den Wänden und Zügen finden konnte. Graffitis, deren Platzierung eine besondere Dreistigkeit des Malers vermuten ließen, weil sie an gewagten Orten gemalt waren, freuten mich besonders.

In den darauf folgenden Tagen ging ich mit zwei Bekannten erneut in die Stadt. Es dauerte nicht lange und wir unterhielten uns über Graffitis. Einer meinte, er empfände illegale Graffitis als Schmierereien und als respektlos gegenüber den Bewohnern und Hausbesitzern. Schöne, bunte Bilder an legalen Plätzen seien etwas anderes. Sie wären im Einverständnis der Besitzer des Untergrundes. Aber diese dahingerotzten, silbernen Großbuchstaben und vor allen Dingen, diese bloßen Schriftzüge würden nichts anderes als Zerstörung bedeuten.

Natürlich widersprach ich ihm vehement. Ich empfand, im Gegenteil, die Tristheit und Einfallslosigkeit vieler Architekten und deren Auftraggeber wären eine Verschandelung meiner Umwelt. Immer die gleichen Plakate, von immer den gleichen Zigarettenmarken seien nicht nur eine optische Plage, sondern auch von der Botschaft her beschissen. Bombings und Tags (2) seien, voraus gesetzt die Qualität stimmt, öffentliche Kunst. Sie würden etwas sehr persönliches aussagen, zur Kreativität aufrufen und nicht versuchen, irgendwelche Menschen dazu zu manipulieren, Gifte zu inhalieren. Wie könne mensch nur so intolerant sein. Weshalb versuche mensch nicht zu verstehen, was das alles bedeutet, warum Maler malen und weshalb das manchmal schnell gehen müsse. Wie könne mensch sich beschweren, gebombte Bilder zu erhalten. Der Spießbürger selber würde sie doch produzieren. Er wäre doch der Erste, der die Situation ausnützte, wenn sich der Maler für ein aufwendigeres Bild Zeit nähme. Ich meinte auch, dass ich mir von niemand irgendwelche, ästhetischen Kriterien aufzwingen lassen würde. Vor allen Dingen nicht von Hauseigentümern und Spießbürgern.

Was ich dabei nicht bemerkte, war, dass ich selber versuchte, Anderen meine ästhetischen Kriterien aufzuzwingen. Zwar hatten all die vorgebrachten Argumente ihre Berechtigung, doch hatte ich es unterlassen, auch die Position der Anderen, in erster Linie der Hausbewohner und Fahrgäste von Zügen, mit einzubeziehen. Ehrlich gesagt, waren mir diese Leute zu diesem Zeitpunkt auch herzlich egal.

Meinen Bekannten konnte ich mit dieser Einstellung nicht überzeugen. Mich selber überzeugen diese Argumente heute nicht mehr. Mittlerweile sind ein paar Jahre vergangen und ich habe mich während dieser Zeit mit der anarchistischen Idee der Herrschaftslosigkeit auseinandergesetzt. In einem Satz formuliert, besagt diese Idee, dass niemand das Recht hat, die Freiheit des Anderen zu beschneiden, solange dieser ebenfalls die Freiheit des Anderen respektiert. Allerdings ist das Thema etwas komplexer und es bedarf einen eigenständigen Text, um es befriedigend abhandeln zu können. Da entsprechende Texte bereits im Rahmen des Feierabend! Veröffentlicht wurden, möchte ich, bei weiterem Interesse an diesem Thema, auf diese verweisen.

Wenn ich heute mit jemandem über Graffiti diskutiere, so argumentiere ich aus dieser Idee heraus, dass niemand das Recht hat, die Freiheit des Anderen zu beschneiden, solange dieser die Freiheit der Anderen respektiert.

Und deswegen meine ich, dass sich Maler diese Arroganz im Denken, gegenüber Hausbewohnern und Fahrgästen von Zügen, nicht leisten können. Ich glaube, dass es unablässig ist, immer auch den Standpunkt der Anderen in seine Überlegungen mit einzubeziehen, und wenn uns diese Anderen noch so sehr zuwider sind. Anders kann ich mir eine freie Gesellschaft, basierend auf freien Vereinbarungen, nicht vorstellen. Graffitis auf Häuserwänden, z.B. jene, welche die Bewohner eines Hauses ablehnen, bedeuten das Ausüben von Gewalt und Herrschaft gegenüber diesen Menschen. Sie engen diese Menschen in ihrer Freiheit ein, selbst zu bestimmen, wie das Gebäude aussehen soll, indem sie wohnen. Wenn nur ein Einverständnis der Menschen, die jene Wände wohl am häufigsten sehen müssen, nämlich die Hausbewohner, ein Graffiti legitimiert, wie ist es dann einem Maler auch in Zukunft möglich, zu produzieren?

In der Feierabend!-Ausgabe Nummer 1 vom September 2002, in dem Artikel „Farbeffekte“, schildert der Autor eine Begebenheit mit einer älteren Dame, die ihn beim Malen erwischt. Anstatt aber zur üblichen Predigt auszuholen oder die Polizei zu alarmieren, bleibt sie stehen und fängt an, sich für das Graffiti zu interessieren. Der Maler erklärt ihr, was es mit dem Bild auf sich hat und es hat eine Vermittlung statt gefunden. Eine solche Dame wird in Zukunft vielleicht erfreut sein, ein frisches Graffiti auf ihrer Hauswand zu entdecken. Natürlich findet mensch wenig solch aufgeschlossene Menschen. Die meisten predigen, schimpfen und drohen. Die allermeisten aber rufen die Polizei und kassieren ein Kopfgeld.

Deshalb sollte mensch nicht warten, bis eine aufgeschlossene Person, mitten in der Nacht vor einer bemalten Wand anhält und nach der Botschaft fragt. Mensch könnte für die Akzeptanz von Graffiti werben, in Zeitungen, auf Plakaten, Aufklebern und Flyern vermitteln und erklären. Zu versuchen, die Position des Kontrahenten zu verstehen und eine gemeinsame Basis zu finden, könnte nicht nur den staatlichen Denunzierungsaufrufen entgegen wirken, es wäre auch ein weiterer Schritt in Richtung herrschaftslose Gesellschaft. Bleibt die Frage offen, wie mensch sich gegen die ästhetische Diktatur der Städteplaner, Architekturverantwortlichen und Werbenden zur Wehr setzt, wo Macht und Geld ein unvergleichbares Ungleichgewicht geschaffen hat.

Anmerkungen:
(1) Style: Der Stil eines Graffitis. Also ob es z.B.
reduziert oder üppig, weich oder kantig in seiner
gemalten Form ist.
(2) Bombing/gebombtes Bild: Graffiti mit großen
Buchstaben, reduziert in Farbe und Form. Oft in
starken, farblichen Kontrasten, wie Schwarz und
Silber gemalt.
Tag: Meistgehasste Form des Graffitis. Eine Art
Unterschrift des Malers.

Kunststück

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