Die Fans der Guten Sache

Vom „revolutionären Subjekt“ und anderen Nebenwidersprüchen

Die Suche nach dem archimedischen Punkt, von dem aus sich die schlech­te Welt aus den Angeln heben ließe, hat die radikale Linke schon viel Zeit gekostet. Ge­funden hat sie ihn bisher nicht. Viele, die einst voller Tatendrang gestartet waren, ga­ben irgendwann auf, zogen sich ins Pri­vat­­leben zurück, wurden alt und verbittert oder Mitglied bei der SPD. Mehr noch: Mit ihrer Suche nach dem Hauptwider­spruch, aus dem sich sämtliche sonstigen Wi­dersprüche der Gesellschaft ableiten lie­ßen, mit dessen Aufhebung sich also auch diese wie von selbst erledigen wür­den, stand sich die Linke regelmäßig selbst im Weg.

Nebenwidersprüche

Ein Beispiel: In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts gab es in Wien eine starke und sehr aktive organisierte Arbeiter­schaft. Einer der am besten organisierten Be­rufsgruppen waren die Buchdrucker – 1872 waren etwa 75% von ihnen Mitglied im Fachverein der Buchdrucker. 1870 und 1882 führte dieser Verein gut geplante Streiks durch, die alle Wiener Betriebe ein­be­­zogen. 1882 wurde volle acht Wochen ge­streikt – die Kapazitäten dafür hätte zu die­ser Zeit kein anderer Fachverein auf­brin­gen können. Trotzdem war keinem der beiden Streiks großer Erfolg beschie­den. Der Grund: Die Drucker weigerten sich, die nicht in ihrem Verein organisier­ten Arbeiterinnen einzubeziehen, obwohl diese durchaus bereit waren, sich zu betei­ligen. Mit den weiblichen Hilfskräften woll­ten die Drucker nichts zu tun haben. So war es kein Wunder, dass diese schließ­lich von den Unternehmern als Streikbre­che­rinnen eingesetzt wurden und der Ar­beits­kampf scheiterte (1). Das ist kein Ein­zelfall. Auch die US-amerikanischen Ge­werk­schaften weigerten sich z.B. lange Zeit, Frauen und Afroamerikaner aufzu­neh­men (eine rühmliche Ausnahme waren die Industrial Workers of the World) – mit ähnlichen Ergebnissen.

Das widerspricht nicht der Tatsache, dass das Privateigentum an den Produktions­mitteln die materielle Basis der bür­ger­li­chen Herrschaft ausmacht. Es zeigt aber, dass es grundverkehrt ist, diesem „Haupt­wi­der­spruch“ gegenüber andere Diskrimi­nie­rungs- und Ausbeutungsverhältnisse wie Rassismus und Sexismus als bloße Ne­ben­widersprüche abzukanzeln – denn eben diese spielen eine wichtige Rolle bei der Auf­rechterhaltung der Klassen­herrschaft.

Die Realität der kapitalistischen Gesell­schaft lässt sich nicht auf den Klassenge­gensatz reduzieren. Vielmehr stellt sich die bürgerliche Herrschaft als ein komplexes System von Trennungen, Ein- und Aus­schlüssen, Hierarchien und der Verteilung von Privilegien dar, die den Gegensatz von „Besitzenden“ und „Besitzlosen“ über­lagern und damit stabilisieren. Die von Marx im Kommunistischen Manifest gestellte Prognose hat sich nicht erfüllt, dass die Dynamik des kapitalistischen Ver­wertungsprozesses auf lange Sicht die en­gen nationalstaatlichen Grenzen ebenso über­winden würde wie die alte feudale Ge­sellschaftsordnung und so dafür sorgen wür­de, dass sich letztlich Bourgeoisie und Proletariat klar und unverstellt gegenüber­stehen (womit das Ende der bürger­lichen Herrschaft besiegelt wäre). Nicht nur den Aufstieg des Nationalismus hat Marx nicht vorausgesehen – auch die Spal­tungen durch Kriterien wie „Rasse“, Reli­gion oder biologisches Geschlecht sind längst nicht überwunden.

Das revolutionäre Subjekt

Diese Verschränkung verschiedener Un­ter­drückungsverhältnisse war schon im­mer ein Problem für Bewegungen, die sich die Aufhebung solcher Verhältnisse zum Ziel gesetzt hatten. Dass etwa Frauen nicht automatisch kraft ihrer „Weiblichkeit“ alle die gleichen Interessen haben, war eine Lektion, die die Frauenbewegung erst zu lernen hatte. Ein wichtige Rolle spielten dabei Schwarze Feministinnen (2) wie Angela Davis und Bell Hooks, die darauf hinwiesen, dass zwar weiße Frauen in der Tat aufgrund ihres Geschlechts diskrimi­niert würden, ihrerseits aber auch aktiv an der Unterdrückung afroamerikanischer Män­ner und Frauen mitwirken.

Und auch die von rassistischer Diskrimi­nie­rung Betroffenen können wiederum ih­rer­seits andere Menschen diskriminieren oder ausbeuten, selbst Sexisten oder Ras­sisten sein. Ein Beispiel dafür wäre die afro­amerikanische Nation of Islam, die krude antisemitische Verschwörungstheo­rien pflegt (auf Veranstaltungen werden u.a. die „Protokolle der Weisen von Zion“ ver­kauft) und überzeugt ist, dass der „wei­ße Mann“ von Grund auf böse sei (3).

Diese Tatsachen werden auch von radika­len Linken gern übersehen. Der Grund dafür liegt in einer Gruppenkate­gorie, die mit der Idee des „Hauptwider­spruchs“ eng verbunden ist, der Idee des „re­vo­lutio­nären Subjekts“. Wenn mensch erst ein­mal in einem bestimmten Herr­schafts­verhältnis den Hauptwiderspruch aus­ge­macht hat, ist es nur logisch, die größte Hoff­nung eben auf die diesem Herr­schafts­verhältnis unterworfene Grup­pe zu setzen. Der zweite Schritt ist es, diese be­sondere Gruppe von Menschen restlos zu idealisieren.

Manche der dabei wirkenden Motive sind leicht zu verstehen. Zwar hängt die Linke traditionell an der Idee einer totalen revo­lu­tionären Umwälzung der herrschenden Verhältnisse. Aber abgesehen von den we­nigen Gelegenheiten, bei denen ein revo­lu­tionärer Umsturz tatsächlich in greifbare Nähe zu rücken scheint, steht sie damit meist ziemlich alleine da. Die eigene Iso­liertheit (im Verbund mit einer sicher eh­ren­werten Solidarität mit den Unter­drück­ten) führt zur Konstruktion eines „re­vo­lutionären Subjekts“, das die Sache richten soll.

Damit einher geht die Illusion, das so kon­struierte „Subjekt“ müsse eben so denken und handeln, wie man es sich vor­stellt. Da das revolutionäre Subjekt per Defini­tion auf Seiten des Fortschritts steht, muss es selbst von Grund auf (oder wenigstens im Grunde) gut sein. Die Indi­vidualität der dieser Kategorie unterge­ord­neten Men­schen erscheint dem gegen­über als ver­nachlässigbare Größe. Ihnen wird still­schweigend ein gemeinsames „Wesen“ un­ter­stellt, das ihr Denken und Handeln be­stim­men soll. Was nicht ins Bild passt, wird ignoriert – wenn sich das Idealbild nicht mehr halten lässt, die so idealisierten Leu­te einfach nicht daran denken, die auf sie projizierten Sehn­süch­­te einzulösen, sucht mensch sich eben ein neues Objekt der Begierde oder resig­niert.

Diesem Muster folgt z.B. das Umschwen­ken der deutschen Linken nach dem von Israel 1967 geführten 6-Tage-Krieg. Hatte diese dem zionistischen Projekt mehrheit­lich positiv gegenüber gestanden, wurde es nun in Grund und Boden verdammt und stattdessen den „fortschrittlichen Kräf­ten“ des „palästinensischen Wider­stan­­des“ zugejubelt. Dass man dabei von ei­ner Illusion zur Dummheit, von der Ide­a­lisie­rung oft genug zum offenen Anti­se­mitismus kam, zeigte sich an so verab­scheu­ungswürdigen Aktionen wie dem versuchten Bombenanschlag der Tupama­ros Westberlin auf ein jüdisches Gemeinde­haus anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Reichspogromnacht.

Umgekehrt könnte man das Ent­stehen der antideutschen Linken Anfang der 90er Jahre nicht nur als Reaktion auf einen solch stumpfen „Anti­imperialis­mus“, son­dern auch als Abkehr von der lang geheg­ten und nun enttäuschten Liebe zum Pro­le­tariat interpretieren. Die „Arbeiter­klas­se“ dachte nicht nur nicht da­ran, endlich mal die Revolution zu machen, manche ihrer Vertreter_innen be­teiligten sich auch ohne Probleme an den rassistischen Po­gromen in Rostock-Lich­tenhagen und anderswo. Auch Pro­le­tarier können Ras­sisten sein – wer hätte das gedacht…

Der subjektive Faktor

Ein Problem an diesem Konstrukt des „re­vo­lutionären Subjekts“ ist, dass die so Idea­lisierten den an sie gerichteten An­sprü­chen niemals gerecht werden können – was regelmäßig dazu führt, dass quasi das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird: Wenn die idealisierte Gruppe sich als das erweist, was sie ist, eine Gruppe von eben mitunter dummen, unsym­pa­thischen und insgesamt fehlerhaften Men­schen, kann das eben nur bedeuten, dass man sich geirrt hat, dass man das „rich­tige“ revolutionäre Subjekt noch nicht ge­funden hat.

Die Idealisierung ist auch falsch, weil sie den angeblichen Subjekten der Emanzi­pation die Fähigkeit abspricht, selbst Ent­scheidungen zu treffen. Diese Sichtweise zieht sich sozusagen selbst den Boden unter den Füßen weg. Denn indem sie die Möglich­keit leugnet, (auch falsche) Ent­schei­dungen zu treffen, leugnet sie zu­gleich die Möglichkeit von Emanzipation.

Denn während Herrschaft im Wesent­li­chen erzwungene Passivität bedeutet, das Unterworfensein unter Lebensumstände, auf die man keinen Einfluss hat, ist es das Ziel von Emanzipation, diesen Zustand erzwungener Passivität zugunsten eines Zustands aufzuheben, der aktiv den eige­nen Bedürfnissen entsprechend gestaltet werden kann. Emanzipation setzt also be­wusstes Handeln voraus und zielt darauf ab, diese Möglichkeit bewussten Handelns zu verallgemeinern.

Dementsprechend gibt es auch keinen „Auto­matismus“ der Emanzipation, diese er­gibt sich nicht „zwangsläufig“ – weder aus einer „an sich“ guten Natur des Men­schen, wie viele Anarchisten im Anschluss an die Theorien Kropotkins glaubten, noch aus der stetigen Entwicklung der Pro­­duktivkräfte, wie viele Marxisten mein­­ten. Beiden Theorien ist gemeinsam, dass sie die Menschen als selbsttätig den­ken­de und handelnde Lebewesen vernach­lässigen. So ist nicht die „gute“ oder „böse“ Natur des Menschen das Problem, son­dern der Fakt, dass Menschen mitunter recht blödsinnige Vorstellungen davon ha­ben, was „gut“ bzw. „richtig“ ist – die ge­sell­schaftliche Prägung der Kategorien, in denen sie denken und denen entsprechend sie handeln. Ebenso können die „objek­tiven“ ökonomischen Verhältnisse nur die „Bedingungen der Möglichkeit“ definie­ren – sie sind das Problem, sie liefern die Lösung nicht gleich mit. Lässt man das bewusste Handeln der Menschen außer Acht, wäre es nicht einzusehen, wie die schlechten Verhältnisse aus sich selbst her­aus ihre eigene Negation hervorbringen sollten.

Die Vorstellung eines „revolutionären Sub­jekts“, das allein in der Lage ist, den „Hauptwiderspruch“ aufzuheben, steht die­ser bewussten Tätigkeit entgegen. Wenn mensch davon ausgeht, dass die wich­tigen Kämpfe ohnehin anderswo und von anderen Menschen ausgefochten wer­den, ist das in zweierlei Hinsicht proble­matisch. Entweder reduziert sich die eige­ne Rolle darauf, eben Fan der richtigen Mann­schaft zu sein – oder man stilisiert sich selbst zur „Avantgarde“, die der Masse den Weg weist. Da nehmen die Fans der guten Sache selbst die aktive Position ein und drängen das angebliche Subjekt der Re­vo­lution in die Passivität: Wenn das „re­volutionäre Subjekt“ richtig revolutionär sein soll, macht es gefälligst das, was von ihm erwartet wird.

Wohin das führt, lässt sich gut anhand der Russischen Revolution von 1917 und deren weiterer Entwicklung beobachten. Die Bolschewiki sahen sich als Avantgarde des Proletariats – kurz gesagt, als den Teil der Arbeiterschaft, der die Interessen der Arbeiter_innen besser begriffen hatte, als diese selbst es je hätten tun können. Wo die konkreten Proletarier sich den „objek­tiven Interessen des Proletariats“ nicht un­ter­ordnen wollten, mussten sie (notfalls mit Gewalt) auf Linie gebracht werden – die Konsequenzen kann man etwa bei der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes von 1921 bewundern. Die „Dik­tatur des Proletariats“, die die Bol­schewiki zu errichten meinten, war letzt­lich eine Diktatur der Bolschewiki im Na­men des Proletariats, die Bedürfnisse der kon­kreten Proletarier wurden einer Ab­straktion untergeordnet.

Basisbanalitäten

Wo kommen diese Denkmuster her? Aus eben den Verhältnissen, die mensch ei­gent­­­lich überwinden wollte. Denn Herr­schaft beruht weniger auf roher Gewalt und Zwang als auf der Fähigkeit, Legiti­mi­­­tät herzustellen, bestimmte Deutungs­mu­s­ter zu etablieren und allgemein durch­zu­setzen – der Fähigkeit, „Normalität“ zu de­­finieren. Natürlich gibt es Gewaltherr­schaft, aber diese bildet insgesamt einen Aus­­nahmezustand, im staatsrechtlichen eben­so wie im zeitlich-historischen Sinne und im Sinne einer Abweichung von der Norm. Im Übrigen gibt es keine „reine“ Ge­­walt­herrschaft. Selbst in Fällen wie den Ko­lonialreichen des 19. und frühen 20. Jahr­­hunderts, wo die mit überlegener Waf­­fentechnik ausgestatteten Europäer diese Herrschaft theoretisch unbegrenzt hät­­ten aufrechterhalten können, musste der Zwangsgewalt ein Weltbild zur Seite ste­hen, das den Kolonialisten eine Recht­fertigung dafür lieferte, Afrikaner_innen und Asiat_innen zu erschiessen – und sie scheiterten letztendlich dadurch, dass es ihnen nicht gelang, diese Vorstellung von „Normalität“ auch den Kolonisierten nahe­­­zubringen.

Gegenüber der repressiven wird diese pro­duk­tive Seite von Herrschaft oft über­se­hen. „Produktiv“ (ein im Rückgriff auf Michel Foucaults „Überwachen und Stra­fen“ gewählter Begriff) meint kein Wert­urteil, sondern hat rein beschrei­ben­de Funk­tion. Herrschaft funktioniert we­ni­ger darüber, dass man Leute („repressiv“) davon abhält, bestimmte Dinge zu tun, sondern indem man sie („produktiv“) da­zu bringt, in der gewünschten Weise tätig zu werden, indem man eine Ordnung er­richtet, die als unhintergehbarer Rah­men jeden Handelns erscheint.

Um diesen Normalzustand zu begründen, be­ruft sich jede Herrschaft (zumindest still­­schweigend) auf ein „Absolutes“, eine nicht mehr hinterfragbare letzte Instanz. Die Legitimität jeder Herrschaft wurzelt letztlich im Mythos, einer göttlichen oder natürlichen „Ordnung der Dinge“. Im Son­derfall der bürgerlich-kapita­li­sti­schen Herrschaftsform erscheint diese Ord­nung vor allem als Ausdruck von „Na­tur­­geset­zen“. Soziale Verhältnisse werden bio­­lo­gi­siert, Effekte menschlichen Han­delns essentialistisch auf eine über­histo­ris­che Natur des Menschen zurück­ge­führt.

Entsprechend geht jedes Unterdrückungs­ver­­­hältnis mit einer Abwertung der Unter­drück­ten einher und rechtfertigt sich da­durch. So heißt es, Frauen seien von Natur aus zum abstrakten Denken unfähig, Schwar­­ze triebgesteuert, Schwule krank und schwächlich usw. Das läuft auf einen Zir­kelschluss hinaus: Da sie min­derwertig sind, ist es nur normal, dass es den Leuten schlecht geht – und dass es ih­nen schlecht geht, beweist ihre Minder­wer­tigkeit. So rechtfertigte z.B. der eng­li­sche National­ökonom Thomas Malthus (auf dessen Theo­­rien sich später auch Charles Darwin be­rief) das Elend der bri­ti­schen Unter­schicht. Dieses zeige nur, dass hier eben die Intelligenz fehle, um sich im Konkur­renz­­kampf durchzusetzen. Im Übrigen sei das völlig in Ordnung und von der Natur klug eingerichtet, denn nur dank der Ar­mut der Masse hätte die Ober­schicht ihre über­­legene Kultur entwickeln können.

Wenn unterdrückte Grup­­pen nun anfan­gen, gegen diese „Ord­nung der Dinge“ zu re­­bel­lieren, greifen sie zur Legi­ti­­ma­tion ih­res Handelns oft auf eben jene Vor­stel­lungen zurück, aus denen auch die Herrschaft ihre Legiti­ma­tion bezieht. So bedienten sich z.B. die Taboriten oder Thomas Müntzer (4) bei der Theo­lo­gie, um ihre sozialrevolu­tio­nären Be­stre­bungen zu be­grün­den. Dies mag als zeit­­lich begrenz­te takti­sche Maß­nahme Vor­teile brin­gen, wirft aber auf lange Sicht Prob­leme auf. Das zeigt z.B. die Ent­wick­lung eines Teils der neuen Frauen­be­wegung nach 1970: Das Kon­strukt eines weibli­chen „We­sens“ wurde übernom­men, aber nun po­sitiv bewer­tet. Dagegen sei das „We­sen des Mannes“, die männ­liche Herr­schaft, für alle Übel in der Welt (Krieg, Umwelt­zer­störung usw.) verant­wort­lich. Nur die Er­richtung einer neu­en Ordnung unter „weib­lichen“ Vor­zei­chen könne da Abhilfe schaffen. (5)

Problematisch an dieser Deutung sozialer Ver­hältnisse ist, dass sie den Angehörigen der herrschenden Gruppe keine Möglich­keit zur Änderung ihres Verhaltens zuge­steht. Wenn z.B. das ewige Wesen des Man­nes das Problem ist und nicht sein Han­deln innerhalb einer bestimmten Ge­sell­­schafts­ordnung, dann ist keine Verstän­di­gung möglich, die Herrschaft des Man­nes kann bestenfalls durch die der Frau er­­setzt werden (und nicht etwa durch eine herr­schaftslose Ordnung). Schlimmsten­falls ist die Konsequenz die Ausrottung der anderen Gruppe.

Nötig wäre also ein kritisches Hinter­fra­gen solcher Kategorien. Dass jemand z.B. ein Proletarier ist, sagt nur, dass diese Per­son zum Lebensunterhalt auf Lohn­ar­beit angewiesen ist. Daraus folgt höch­stens, dass sie einen guten Grund und even­­tuell die Möglichkeit zu revolutio­nä­rem oder sonst­wie emanzipatorischem Han­­deln hat – nicht, dass sie tatsächlich so handeln muss. Die Einsicht, dass jede als „revolutio­näres Subjekt“ behauptete Grup­pe sich aus Individuen zusammen­setzt und dass es deren konkretes Denken und Handeln ist, wo­­rauf es ankommt, kann eine(n) vor vie­len Illusionen, über­­trie­benem Optimis­mus ebenso wie vor­­schneller Resignation be­wahren. Man mag auf das Proletariat als Ganzes keine Hoff­­nung mehr setzen – die jeweiligen Pro­leta­rier_innen muss man darum nicht aufge­ben.

Die Abkehr von solchen Gruppenkate­go­rien kann auch davor schützen, die Be­dürf­­­nisse der einzelnen Gruppenmitglie­der einem abstrakten „Allgemeinwohl“ un­te­rzuordnen. Alle Anstrengungen zur Er­richtung einer befreiten, befriedeten Ge­­sellschaft müssen sich daran messen lassen, inwieweit sie die Bedürfnisse der Men­schen nach individuellem Wohler­ge­hen berücksichtigen – auch die der Mit­glie­der der „herrschenden Klassen“: Man ist kein Kapitalist, man handelt nur als sol­cher. Herrschaft ist keine Substanz, keine n­atür­liche Eigenschaft einer be­stimmten Grup­pe von Menschen, sie ist eine soziale Be­ziehung. Es ist eine blöd­sinnige Vor­stel­lung, diese aus der Welt schaf­fen zu kön­nen, indem man eine ge­nügend große Zahl von Leuten an die Wand stellt.

Letztlich ist es diese Abkehr von Gruppen­kategorien, die überhaupt erst die Mög­lich­keit emanzipatorischen Handelns er­öff­net. Selber denken und weiterdenken, mit anderen kommunizieren, die eigenen Be­dürfnisse und die der anderen aushan­deln, sich schließlich zu solidarischem Han­deln verbinden und daran gehen, die eigene soziale Umwelt diesen Bedürfnissen entsprechend umzugestalten – darauf kommt es an.

justus

 

(1) Siehe Josef Ehmer, „Rote Fahnen – Blauer Montag“, in: Detlev Puls (Hrg.), „Wahrneh­mungsformen und Protestverhalten“, Suhr­kamp 1979.

 

(2) Die Großschreibung des Adjektivs „Schwarz“ soll deutlich machen, dass es sich dabei nicht um eine „biologische“, sondern eine politische Kategorie handelt.

 

(3) Siehe z.B. Werner Zips / Heinz Kämpfer, „Nation X – Schwarzer Nationalismus, Black Exodus & Hip-Hop“, Promedia 2001.

 

(4) Die Taboriten waren eine Frak­tion der Hussiten, der An­hänger des böhmischen Theologen Jan Hus. Dieser wurde 1415 auf dem Schei­ter­haufen verbrannt, was einen Auf­stand auslöste. Thomas Müntzer war ein evangelischer Theologe und eine zentrale Figur im Bauernkrieg Anfang des 16. Jahr­hunderts.

 

(5) Siehe z.B. Martina Schäfer, „Die Wolfsfrau im Schafspelz“, Hugen­dubel 2001. Diesem Weltbild hat der dekonstruktivistische Femi­nismus mit seiner Trennung von biologischem und kulturellem Geschlecht wirkungsvoll wider­sprochen.

 

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