Die GroßstadtIndianer (Folge 11)

Kein Krieg, Kein Gott, Kein Vaterland II

Während das Transparent über unseren Köpfen weht, ist unsere Gruppe merklich angewachsen, Zentrum und Kundge­bungs­ort sind nahgerückt. Ich sehe zu Schlumpf, der in Locke einen neuen willigen Zuhörer gefunden hat, zu Kalle, der langsam wach wird und zu Moni und Finn, die das Spruchband vor uns hertragen. Die schlechte Stimmung von heute morgen klärt sich langsam auf, denke ich und mir fällt dabei ein, daß wir ja einen riesigen Packen Flugblätter mitgenommen hatten. Langwierig ausge­tüfftelte Sätze und Thesen zum Sozialabbau und dessen Ursachen, zum Zusammenhang von Nation und Krieg, von Staat und Gott. Und das möglichst für jeden verständlich, vom Gewerkschafter bis zu nationalen Bür­gerin. Den ersten Stapel, den ich aus dem Rucksack fische, drücke ich Kalle in die Hand. Der hatte schließlich daran mitgeschrieben. Er nickt auch gleich zustimmend, klopft mir verschwörend auf die Schulter und raunt: „Den nationalen Fisch werden wir schon ordentlich pökeln, Boris!“

Jetzt ist er richtig wach, denke ich und geb zurück: „Aye, aye Sir.“ Wir grinsen und nachdem auch der Rest Meute seine Hand voll Zettel hat, verteilen wir uns rund um den Kund­gebungs­platz. Ich laufe an einer langen Reihe Six-Packs vorbei. Noch sitzen viele drinnen. Ohne Helm, am Lunchpaket mümmelnd, die Bildzeitung verschlingend oder müde auf das Lenkrad trommelnd. Fades Warten bis der Einsatzleiter ruft. Das wär mir echt zu doof. Ich laufe etwas versunken, eine mögliche Karriere als Robo-Cop vor Augen, um den letzten Wagen herum und prompt gegen die Plastikbrust eines Grenzschützers. Der wollte echt nicht nach der nächsten Grenze fragen. Der war sauer. Ich denke gerade an die Flugblätter, schiebe sie hinter meinen Rücken und gehe in die rhetorische Defensive, als sein Stöpsel knistert. Mann, was für ein Glück. Der Mann im Ohr. Mein Blick fällt auf seine grimmigen Falten auf der Stirn. Eine Glücks-Schwitz-Perle kriecht die meine entlang. Er dreht sich um. Drei Schritte. Und ich bin in der nächsten Menschentraube verschwunden. Mann, Mann, Mann – denke ich, schöpfe bei dem erfrischenden Gedanken neues Selbstbewußtsein und stehe einige Atemmeter später vor einer Gruppe junger Leute. „Wollt ihr ein Flugblatt?“, ich schaue in die kindlichen Gesichter, „Was die da vorne auf der Bühne reden, ist eh nur Quark. Es gibt weder Vollbeschäftigung noch eine nationale Lösung der Probleme. Lest das mal!“ Zwei greifen zu. „Wir machen auch öfter Veranstaltungen zu solchen Themen oben auf dem Berg … wißt ihr wo?“, es wird genickt. Einer sagt: „Vielleicht kommen wir mal rum.“

Ich wünsche noch viel Spaß und drehe weiter meine Runde. Viele nehmen mir die Zettel aus den Händen, doch nur wenige scheinen wirklich interessiert zu sein. Wie schwer es ist, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, denke ich, als mich plötzlich jemand von hinten antippt. „Hey du!“ Ich drehe mich um und starre verdattert in die tiefen Augenhöhlen eines Mannes Mitte fünfzig. Unser Flugblatt hält er in den Händen. „Ich hab das zwar noch nicht ganz gelesen, aber was hat Eure Parole denn mit Sozialabbau zu tun?“ Die Angriffslust schien ihm ins Gesicht geschrieben. Doch war ich vorbereitet: „Wir wollen damit auf den übergeordneten Zusammenhang hinweisen, der unseres Erachtens die Probleme und ihre politische Lösung bedingt. Sozialabbau ist ein Phänomen, mit dem wir umgehen müssen. Doch dabei können wir uns aber weder auf ein Vaterland als eine Nation, auf einen Gott als einen allmächtigen Staat oder einen Krieg zwischen Individuen, Standorten oder Nationalbünden berufen. Wir müssen solidarisch sein und nach neuen Wegen suchen, deshalb sind wir ja auch hier.“ „Aber wie stellt ihr euch denn das vor? Die Leute sind nunmal egoistisch. Ohne Staat würden sich doch alle bloß die Köppe einschlagen. Mit dem Konkurrenzkampf, da habt ihr ja recht, aber die Leute wollens doch nicht anders.“ Gerade will ich diese erzkonservative liberale Haltung weiter bearbeiten, als Schlumpf aus der Menge, die sich auf dem ganzen Platz gebildet hat, auftaucht und geradewegs in meine Richtung steuert. Ich antworte schnell: „Lesen Sie es mal. Und ein wenig Optimismus in die junge Generation können Sie schon investieren. Schön Tag noch.“

Er lächelt verkrampft, bleibt mit seinem Blick kurz an Schlumpf hängen und ist dann flugs in die Massen abgetaucht. Aus den Lautsprechern krächzt eine überdrehte Funktionärsstimme. Schlumpf imitiert ihn wild gestikulierend. „Daß mensch sich diesen nationalen Schrott anhören muß und das auch noch von Gewerkschaftlern. Auf seiner eigenen Demo. Was früher internationale Solidarität hieß, ist jetzt nationale. Wo soll das bloß hinführen?“ Er schüttelt den Kopf und ich nutze die Pause um vom Thema abzulenken. „Wie soll es eigentlich weitergehen? Ich hab fast alle Flugis verteilt. Es soll doch noch eine Demo geben, bis vors Rathaus, oder?“ „Nachdem dem da, redet noch der Pfarrer und dann wird der Zug organisiert. Wir treffen uns beim Transparent. Mit den Anderen vom Projekt und vom Club.“ „Ok. Ich werd mal Kalle suchen.“ „Ja such ihn mal, er ist hoffentlich nicht schon irgenwo negativ aufgefallen. Der Heißsporn.“, Schlumpf zwinkert, „Ich treff mich noch mit Puschel und Locke. Wir wollen mal sehen, ob Grün-Weiß auch noch was plant.“ Mein ‚sei vorsichtig‘ hört er schon gar nicht mehr. Ich zucke mit den Achseln und suche dann nach Kalle.

(Fortsetzung folgt…)

clov

…eine Geschichte

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