Die GroßstadtIndianer (Folge 12)

Kein Krieg, Kein Gott, kein Vaterland III

Das Plenum hatte es so beschlossen! Eine große Demo gegen Sozialabbau und Reform, da konnte nicht einfach zugesehen werden. So hatten sich am Morgen Kalle, Moni, Finn, Schlumpf und Boris etwas mißgelaunt aufgemacht

„Haut ab mit Eurem Scheiß!!!“ das überdrehte Kreischen von Kalles Stimme versetzt mich sofort in höchste Alarmbereitschaft. ‚Das kommt von da vorn!’ Meine Hände graben sich einen schmalen Weg durch die Klumpenmenge Menschen. ‚Was hat er bloß?’ Ein breiter Rücken schiebt sich zur Seite und gibt den Blick auf die Szenerie frei. Kalle steht mit erhobenen Fäusten und einem puderrot aufgeschwollenen Kopf gegenüber von drei jungen Typen. Überall auf der Erde sind Flugblätter verteilt. Einige von uns. Viele andere. Ich hebe eins auf. ‚Nationale Front bilden!’, ‚Der Bonze rafft, was das deutsche Volk schafft!’, ‚Deutsches Geld fürs deutsche Volk!’ … „Der kriegt gleich eine rein, der Bolschewistenmolch!“ … ‚Nazis, verdammt!’, ich werfe das aufgehobene Papier weg und versuche zu Kalle zu kommen. Dessen Lage hat sich erheblich verschlechtert. Es sind noch zwei aufgetaucht. Ein Pärchen, nur ihr Verhalten verrät sie. Kalle hat in seinem Eifer die Brenzlichkeit der Situation unterschätzt. Er wütet immer noch. „Keine Ahnung habt ihr! Fangt erst mal an zu denken!!!“ Der eine ist ihm jetzt schon ziemlich nah. Bin noch zu weit weg … zum Eingreifen. Doch welch Glück, wie aus dem Nichts tauchen plötzlich Locke und Puschel auf und schieben sich zwischen die Kampfhähne; hinter den fünf Nationalisten noch einige vom Wohnprojekt. Auch Finn, Moni und Schlumpf sind dabei. Ich atme erleichtert durch. Während Locke den Nazis klar macht, dass sie sich verdrücken sollen (O-Ton: Ihr habt die Wahl, entweder ihr sucht das Weite oder wir verarbeiten Euch zu Deutschländer-Würstchen), versuchen Schlumpf und Finn, Kalle zu beruhigen. Ich trete hinzu. „Das kann doch nicht war sein, dass die sich hier blicken lassen, und keiner tut was, die stehen alle rum, manche findens sogar richtig, diese Landratten, die trauen sich hierher, mit einem Riesenstapel Propaganda, das gibt’s doch nicht, das… „Kalle Mann, halt doch mal die Luft an!“, „Das hätte auch ins Auge gehen können.“ Schlumpf nickt. „Das waren nicht alle. Es sind noch viel mehr hier. Zwei Dutzend mindestens. Und die kommen ganz gut an. Noch was. Hinterm Rathaus. Drei Wasserwerfer, zwei Räumpanzer und die ganze Gasausrüstung. Ich glaub, die bewerten das mit den Montagsdemonstrationen und `89 etwas über.“ Schlumpf grient zu Kalle. „Ein mutig Herz in deinem Hühnerbrüstchen schlägt, Jenosse.“ Lachen. Moni kommt mit Puschel. „Danke.“, Kalle ist wieder bei Bewusstsein. „Keen Ding, aber paßt off, aus der Demo kriegen wir die nich, die haben zuviel Rückhalt. Vielleicht greift die Polente och zu, aber die sind vorsichtig und auf Grün-Weeß is keen Verlaß!“ „Daß die meisten auf der Kundgebung hier nicht weiter als bis zur Staatsgrenze denken, ist schlimm genug. Aber daß die aktive Kameraden hier Flugblätter verteilen und rekrutieren können, verdammt!“ Puschel kratzt sich an der Stirn. „Wie auch immer Kalle, zuviel Aufregung ist nicht gut fürs Herz. Wir werden noch jeden brauchen.“ „ Ja…“

Irgendwer zupft mir schon wieder an der Jacke. Ich drehe mich jäh um und sehe auf eine altes Mütterchen hinunter. Am Stock. Fettig-weißes Haar, hastig hochgesteckt. In ihren Fingern hält sie eins der Flugblätter. „Sind die von Ihnen?!“ Noch ehe ich erklären kann, wie die Sache liegt, bricht die Freundlichkeit aus ihrem Gesicht und verzieht sich zu einer grimmigen Falte. „Früher hat man es euch wenigstens noch angesehen. Halunkenpack! Wir haben doch nicht all das durchgemacht, damit ihr den Wahnsinn wiederholt.“ Ich stammle: „Verzeihung, aber …“ Vergebens. „Widersprich mir nicht, auch noch Höflichkeit heucheln. Ich werd nachholen, was deine Mutter versäumt hat.“ Sie schwingt den Stock über ihren wutentbrannten Kopf und ehe ich die Gefahr begreifen kann, trifft mich ein gezielter Hieb oberhalb der Schläfe. Volltreffer! Weiche Knie. Alles dreht sich. Stimmfetzen. Nichts. … das Blut schlägt gegen die Innenwände der Adern. Togg. Togg. Betäubung. Verschwommene Bilder.

Schlumpf grinst mir häßlich verzerrt entgegen. Unterhalb des Rauschens höre ich seine Stimme – fremd, aufgeregt. Togg. Togg. „Boris, Boris! Du musst aufwachen. Boris. Du weißt nicht was hier los ist!“ Er bleibt mir fern. „Die Gewerkschaftler haben eine Barrikade errichtet! Boooriiis!!! Du musst auf die Beine.“ Ich blicke mich um. Überall stehen schwere Schwaden zwischen den Häusern. Toggtogg. Brummen. Stimmgewirr. Gas!!! Es schießt mir plötzlich in den Kopf. Völlig benommen taumle ich auf. „Looss! Boooorriiis! Schnnnelll…“ Stille. Lichtschatten. Finsternis. „Boooriss!!!“ Grausamer Traum tobender Kräfte – Strahlendes Eiswasser fegt über die in wilder Flucht wimmelnde Flut. Steine prasseln auf harten Plasteschutz. Togg. Der stechende Geruch von Gas. Togg. Etwas zieht mich fort. Eine mechanische Stimme hackt in monotonen Silben über das versprengte Menschengetümmel. Unter brummendem Motorengeräusch bebt die Straße, schwingt die Luft. Ketten zermalmen Kieselsteine, fressen sich über sandigen Untergrund. Zwischen Hüben und Drüben klafft eine verwaiste Lücke. Togg. Togg. Der abflachende Kampf hat seine Spuren in das aufgerissene Pflaster gesät. Flugblätter wälzen sich träge am Boden. Verhalten rauchende Hülsen gefährlicher Geschosse mischen sich verstohlen unter den vielerorts harmlosen Schlachtenmüll. Kalle, von stundenlanger Anspannung ausgezerrt, tritt aus einem dicht kauernden Pulk, entblößt die mutige Brust. Sein ächtender Blick schweift über die gleichförmig anonyme Mauer, die hinter der plastegrünen Wand mürbe Leben atmet. Blitzartiger Lichtkegel nimmt ihn ins Visier. Tosender Aufschrei taucht die Szene erneut in chaotisches Licht. Werfen. Schlagen. Menschengedränge. Togg. Angst. Aus der übergewaltigen Mauer reckten sich zwei Arme sehnend nach dem Ende. Fiebertraum. Hitze. Der Schlaf.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

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