Die vergessene Rebellion?

Der betriebliche Aufbruch im Herbst 89: die unbekannte Seite der DDR-Revolution.

Zunächst einmal: Der Rezensent ist befangen. Ich lernte einen Teil der hier zu Wort kommenden Akteure im Jahr 1990 kennen – nach dem Mauerfall, aber vor der deutschen „Einigung“. Mich hat damals die Offenheit für Neues und die Diskussionskultur im „gewerkschaftlichen Flügel“ der Bürgerbewegungen fasziniert. Damals war wenig Zeit für Reflexion – auch wenn immer wieder versucht wurde, in selbstorganisierter Bildungsarbeit oder gewerkschaftlich geprägten Seminaren sich mit der politischen und rechtlichen Situation der damals schon vor der Tür stehenden BRD auseinander zu setzen.

Dankenswerter Weise halten Renate Hürtgen und Bernd Gehrke mit diesem Buch die Erinnerung an die Wende in den Betrieben von unten in den Jahren 1989/90 wach. Neben anderen Texten sind im dritten Teil bisher unveröffentlichte Dokumente in großer Zahl (201 Seiten!) zusammen gestellt. Und die Zusammenstellung ist in gutem Sinne parteilich und authentisch, denn sowohl Hürtgen als auch Gehrke waren an unterschiedlichen Orten der DDR-Opposition aktiv.

Der Band gliedert sich auf in drei Teile – sozusagen chronologisch rückwärts gehend: Den ersten Teil bildet der transkribierte Mitschnitt einer Veranstaltung vom Dezember 1999 im Haus der Demokratie (Berlin), auf der die Akteure ihre eigenen Erfahrungen in der Zeit von 1989 und 1990 reflektierten – den „kurzen Herbst der Utopie“, wie es in einer Ausstellung von 1999 genannt wurde. Der zweite Teil besteht aus theoretischen Erläuterungen der HerausgeberInnen zum besseren Verständnis des ersten und dritten Teils. Insbesondere den Thesen von Bernd Gehrke in seinem Aufsatz „Demokratiebewegung und Betriebe in der ‚Wende‘ 1989" kann allerdings nicht in allen Punkten zugestimmt werden. So ist es eine gewagte These, dass die Wende ihren emanzipatorischen und teilweise systemüberwindenden Impetus vor allem in den Betrieben gefunden hat, oder dass diese die Keimzellen der Revolution waren. Die Demos, Blockaden und politischen Aktionen hätten ohne eine Vermittlung in den Betrieben nicht ihre starke Relevanz gehabt, insbesondere da die DDR noch mehr als die damalige BRD eine Arbeitsgesellschaft war, die fast die gesamte Bevölkerung „integrierte“. Aber daraus eine zentrale Stellung der betrieblichen Vorgänge während der Ereignisse abzuleiten, erscheint mir sehr gewagt.

Diese Herangehensweise hat aber auch ihren Vorteil: So wird die Behandlung politischer Probleme (Ausreisewellen, Staatsorgane/Stasi, Bereicherung der Gewerkschaftsfunktionäre u.a.) und ökonomischer Schwächen (Materialbeschaffung, Schichtsysteme, Produktionsmodalitäten, Arbeitszeitproblematik etc.) einmal aus betrieblicher Sicht geschildert, und auch, mit welch mannigfaltigen Vorschlägen die „Arbeiterklasse“ bzw. ihre aktiven Teile diese zu verändern suchten – und dabei all zu oft auf Granit gebissen haben.

Nicht nur diese, viele andere Probleme brannten damals den Akteuren auf den Nägeln: Sollen wir neue Gewerkschaften, Räte oder reine Betriebsräte nach dem westdeutschen Modell gründen? Auch hier hat sich – leider – das bundesdeutsche Modell durchgesetzt, und so wurde zum Beispiel aus der Unabhängigen Betriebsgewerkschaft „Reform“ in Teltow ein Betriebsrat nach dem Betriebsverfassungsgesetz, dasselbe Schicksal ereilte einige Rätegründungen in Oranienburg.

Aber viele Beiträge und Dokumente auch in diesem Buch weisen darauf hin, dass es während der Revolution Spannungen zwischen dem „Arbeiterflügel“ und dem „Intellektuellenflügel“ gab. Beispielhaft sei hier nur auf die Betriebsgruppe des Neuen Forums und auch interne Schwierigkeiten der Initiative für unabhängige Gewerkschaften, aber auch auf die Betriebsarbeit der „Vereinigten Linken“ verwiesen. Unabhängig davon: War es eine Revolution oder doch „nur“ eine Rebellion mit anschließender Annexion?

In solchen durchaus historisch zu nennenden Situationen wie den dokumentierten bewahrheitet sich eine theoretische Grundaussage von E.P. Thompson: „Klasse selbst ist nicht ein Ding, sondern ein Geschehen.“ Kurz gefaßt sind Beispiele für den inneren Ablauf von Selbstorganisation dargestellt, die fast mustergültig sind: Der Widerstand im Betrieb organisierte sich zunächst lokal und regional unabhängig (im Süden öfter als im Norden der DDR), die Akteure benutzten zum Teil alte und bekannte Strukturen wie die BGL (BetriebsGewerkschafts-Leitungen), um neue Verhältnisse und Strukturen zu schaffen, probierten aber auch teilweise ganz neue Strukturen aus. So entstanden die ersten neuen „Räte“ und griffen bewußt oder unbewußt auf frühere oder verwandte Bewegungen zurück (17. Juni 1953 oder die polnische Solidarnosc), interpretierten diese ihren Erfahrungen gemäß und gründeten neue Organisationen, die durch die Beteiligung vieler und durch den Kontakt zu anderen politischen Gruppen mit Leben erfüllt wurden.

Leider ist es auch Teil der Erfahrungen, dass die neuen Strukturen später allzu schnell in das politische System der übermächtigen Bundesrepublik integriert wurden. Dies führte zunächst auch zu großen Enttäuschungen. Sicherlich erlitten freie und unabhängige Betriebs- und Gewerkschaftsgruppen mit der Vereinigung eine Niederlage, aber – und das ist das Positive – die gelebten Erfahrungen des „aufrechten Gangs“ bleiben Bestandteil der individuellen und kollektiven Geschichte.

Hinrich Garms

Hürtgen/Gehrke (Hg.): „Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution.“ 9 Euro. Bildungswerk der H.-Böll-Stiftung, Kottbusser Damm 72, 10967 Berlin.

Rezension

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