Ein Plädoyer für die Bildung wider die Herrschaft

Schulen formen den Charakter, indem sie die Kanten abschleifen. Doch nicht Charakter, sondern Formlosigkeit war das Ergebnis.“

(Graham Greene: „Unser Mann in Havanna“)

„Gebt mir ein ‚B’! Gebt mir ein ‚I’…“ – Der Ruf nach Bildung für alle war in den letzten Jahren nicht nur seitens Studierender und SchülerInnen zu vernehmen. Auch PolitikerInnen haben den „Standortfaktor“ Bildung für sich entdeckt, die spätestens seit Bundespräsident Herzogs berüchtigter Ruck-Rede 1997 zum „Megathema“ wurde. Bildung also ist zumindest in aller Munde, aber meinen auch alle dasselbe? Der Bildung das Wort zu reden, ist in Mode. Der Begriff wird inflationär benutzt und zeichnet sich durch vielförmigen Gebrauch aus. Überschwänglich verwendet, tritt er in einer Flut von neuen Wortverbindungen auf, die meist mahnende Funktion haben sollen: Bildungsexplosion, Bildungsnotstand, Bildungskrise, Bildungsdilemma oder gar Bildungskatastrophe. Bildung firmiert als „Alles, was man wissen muß“ im gleichnamigen Buch von Dietrich Schwanitz (1), Bernhard Vogel entdeckt „Bildung als Zukunftsinvestition“ (2) und Brigitte Mohr ruft gar ein „Europa als Bildungsgemeinschaft“ (3) aus.

Der deutsche Begriff „Bildung“ ist eigen, blickt man auf die Schwierigkeiten seiner Übersetzung. Es gibt nämlich kein Pendant in anderen Sprachen. So meint beispielsweise der englische wie französische Begriff „education“ lediglich Erziehung. Doch kommen in Bildung auch subjektive Ansprüche und Aspekte von Autonomie zum Tragen, die sich in „Erziehung“ nicht finden. Denn diese geschieht von Außen her, setzt die Position eineR ErzieherIn voraus und enthält ein disziplinarisches Element. Selbst wenn das Zwanghafte nicht gleich Abrichtung sein muss, beruht Erziehung dennoch auf Fremdbestimmung, unabhängig davon, wie wohlwollend und liebevoll sie auch sein mag. Und Erziehung ist immer mit dem konkreten Ziel verbunden, einen sittlichen und guten Staatsbürger zu schaffen. Im Bildungsbegriff ist also auch ein kritisches Moment verankert, an dem angesichts gegenwärtiger Zumutungen festzuhalten ist.

Das versteht sich nicht auf den ersten Blick, schließlich dient(e) Bildung auch als Ausschlussprinzip. Im Gefolge von „Kultur“ und „Aufklärung“ ist er einer der Leitbegriffe der sich seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelnden Gesellschaft und wurde im 19. Jahrhundert als bürgerlicher Kanon in Abgrenzung gegenüber anderen Schichten gebraucht. Bei diesen obrigkeitshörigen „Bildungsphilistern“ ist sie Etikett für bourgeoisen Standesdünkel, dient zur Abgrenzung gegen Adel und die proletarischen Schichten. „Allgemeinbildung“ wurde zur selektiven Eigenschaft, weil sie eben nicht allgemein war. Seither stand Bildung also teilweise zu Recht unter Ideologieverdacht. In emanzipatorischer Stoßrichtung, zum Beispiel in der Kritischen Theorie, wurde der Begriff aber auch gegen die Vereinnahmung des Individuums in der Totalität des Vergesellschaftungsprozesses positioniert.

Natürlich hat die Bildungsidee als kritisches Prinzip im Skript derzeitiger Bildungsplanung keinen Platz, sondern wird im tagespolitischen Geschäft, im Ringen um die Zukunft von Staat und Nation anders benutzt. Die Gesellschaft, will heißen: der Arbeitsmarkt, verlangt nach funktionierenden Leistungsträgern, nicht nach kritischen Köpfen. Daher wird Bildung als Wirtschafts- und Standortfaktor identifiziert. Der Ruf nach Eliteschulen, kürzeren Studienzeiten und „lebenslangem Lernen“ als Teil der Forderpolitik stilisiert Menschen zu Ich-AG und SelbstmanagerInnen. Auch hier schlägt der faule Atem der so genannten Leistungsgesellschaft durch, ein „Lob der Disziplin“, welches Bernhard Bueb im gleichnamigen Buch anstimmt. (4) „Sei artig, folgsam, fleißig – und funktioniere!“, so lässt sich das herrschende bildungspolitische Motto zusammenfassen.

Wie sehr gerade hierzulande das Preisen der Bildung zur ideologischen Verschleierung der sozialen Verhältnisse und Verteilungsungerechtigkeit dient, zeigen verschiedene vergleichende Bildungsstudien, die Deutschland weltweit auf einem hinteren Rang führen. Wie in kaum einem anderen Staat sind hierzulande Bildungschancen abhängig von der sozialen Herkunft. Dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten haben, ist ja nicht sonderlich bemerkenswert. Dass sie aber nicht die gleichen Möglichkeiten erhalten, diese zu entwickeln und diese weiterhin eingeschränkt werden sollen, kümmert viele scheinbar nicht. Bildungspolitik ist Gesellschaftspolitik. Es zeichnet sich ein trübes, ja dunkles Bild ab, wenn Bildung nationaler Standortfaktor im globalen Wettbewerb ist und nur mit dem Blick auf die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet wird. Der Mensch zählt hier lediglich als Wirtschaftsfaktor und existiert nur als Wissensspeicher. Bildung dient der Wertschöpfung. Sie soll sich rentieren. Unter dieser Sicht der Systemfunktionalität geht der einzelne Mensch verloren. Diesen Punkt kritisierte bereits Nietzsche scharf: Die unter nationalökonomischer Doktrin vollzogene Anpassung staatlicher Bildungsinstitutionen an die Verwertungsperspektive verkürzt Bildung zur Ausbildung. In Kosten-Nutzen-Rechnungen eingespannte und nur auf ihre gesellschaftliche Verwendbarkeit ausgerichtete Bildung streicht entscheidende Aspekte aus dem Begriff.

Die in den politisch-ökonomischen Diskursen verwendeten Schlüsselworte sprechen aber immer nur Teilbereiche von Bildung an. So ist Ausbildung zu verstehen als die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten in einem spezifischen Einsatzbereich. Sie lässt sich abschließen. Man kann mehrere absolvieren. Bildung hingegen ist im Plural nicht denkbar, weil sie ein notwendig offener Prozess ist. Auch die Betonung von „Schlüsselqualifikationen“ ist verwirrend, weil sie den Unterschied zwischen nützlichen und unnützen Fähigen suggeriert und Bildung lediglich als anwendbares Wissen in Verwendungssituationen in den Blick rückt. Und wird Bildung als Lernen verstanden, dann bedeutet dies nichts anderes, als Wissensbestände in einem Rahmen aufzunehmen, der selbst nicht zu befragen ist. Das propagierte lebenslange Lernen ist nichts anderes als voranschreitender kritikloser Wissenserwerb. So missverstanden, wird Bildung dann als Anpassung des Menschen an die technologische Entwicklung und deren Dynamik entworfen. Sie wird als Projekt begriffen, den Menschen möglichst reibungslos in wirtschaftliche Zusammenhänge einzugliedern und an seinen Platz im System zu setzen. Erzogen zum flexiblen Lernen, erwirbt der Mensch nach diesem Bild Datensätze und Qualifikationen, um diese bei Bedarf durch neue zu ersetzen. Von der auf diesem Gebiet zunehmenden Kommerzialisierung mal ganz abgesehen: Aus der gesellschaftlichen Verantwortung entlassen, sollen die Menschen vermehrt aus Eigenverantwortlichkeit „Qualifizierungsmaßnahmen“ bei privaten Institutionen absolvieren, die aus der eigenen Tasche zu finanzieren sind.

Solcher Erziehung zur Nützlichkeit steht die möglichst weitgehend freie Personwerdung des Individuums gegenüber. Diese Vorstellung ist seit antiken Denkern wie Sokrates immer wieder gegen das soziale Korsett und dessen Ansprüche formuliert worden. Der Erwerb lebenspraktischer Fertigkeiten ist eben nicht alles, was Bildung ausmacht. Sie meint auch die kritische Reflexion auf den politischen und sozialen Rahmen, in dem Wissen und Können vermittelt werden. Sie zielt auch auf die Möglichkeit, wie die Welt sein könnte, und hat nicht nur die faktische Welt im Blick. Bildung betont die eigenständige Urteilskraft des Individuums, das Infragestellen dessen, was durch Erziehung, pädagogische Einrichtungen und diverse Informationskanäle vermittelt wird.

Im Spannungsfeld von Ermächtigung und Entmächtigung geht es Bildung in diesem Sinne um den Menschen als Menschen, als selbstbestimmtes Wesen. Wirkliche Bildung ist nur in einer freien Beziehung zwischen Menschen zu haben. Sie kann daher als libertäres Projekt aufgefasst werden, weil es um individuelle Entscheidungsfreiheit, Urteilskraft und Kritikfähigkeit bemüht und resistent ist gegen von Außen herangetragene Zweck-Mittel-Vorstellungen. Sie betont die Bedeutung von Skepsis und Kritik. Diese erst bringen den Menschen in die Position zu handeln, weil sie ihn befähigen, nicht nur fremd gesteuert und blind zu agieren. Sie leitet an zu einer unvoreingenommeneren Haltung, zu Distanznahme und -wahrung und verhilft zum differenzierten Denken, zum Ermessen und Prüfen.

In einer solchen Idee von Bildung ist folglich ein subversives Element enthalten. Sie zielt auf Selbstbestimmung und Mitbestimmung. Wenn in der Diskussion um die Bildung darüber verhandelt wird, was und wie der Mensch sein soll, dann muss eine Forderung lauten, einen Bildungsanspruch zu formulieren, der sich um humanere Formen der Existenz bemüht. Der sich gegen Normalisierungszwänge wendet, sei es jener zur angepassten StaatsbürgerIn oder bezüglich sexueller Ausrichtung. Die derzeit gepredigten Schrumpfformen erfüllen diese Aufgabe jedenfalls nicht. Diese betonen einzig die Eingliederung des Individuums in die Gesellschaft, und die anerzogene Nützlich- und Brauchbarkeit. Forderungen nach wirklicher Bildung haben Freiheit zum Inhalt, sind emanzipatorischer Natur. Kritikfähigkeit und Urteilskraft müssen Möglichkeiten zur Entfaltung gegeben werden. Solche Räume werden in den maßgeblichen pädagogischen Anstalten der Schule und der Universität aber immer mehr beschnitten. Und dennoch darf Bildung nicht auf Verwertbarkeit aus sein, muss sich solchen Anmaßungen entziehen. Das diese Einsicht BetrachterInnen aus systemischer Perspektive nicht schmeckt, ist offenkundig. Solche Missgunst hat libertäre Bewegungen aber noch nie vom Handeln abgehalten. Der „Widerspruch von Bildung und Herrschaft“ (5) bleibt weiterhin unauflösbar. Und darum sollten wir uns gerade die Bildung auf die Fahnen schreiben.

der waldschratt

(1) Dietrich Schwanitz: „Bildung – Alles, was man wissen muß“, Frankfurt / M. 1999.
(2) Bernhard Vogel: „Bildung als Zukunftsinvestition“, in: Jörg-Dieter Gauger (hrsg.): Bildung und Erziehung – Grundlage humaner Zukunftsgestaltung, Bonn & Berlin 1991, S. 29-38.
(3) Brigitte Mohr: „Europa als Bildungsgemeinschaft“, ebenda, S. 375-87.
(4) Bernhard Bueb: „Lob der Disziplin. Eine Streitschrift“, München 2006.
(5) Heinz-Joachim Heydorn: „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“, Frankfurt / M 1970.

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