Eine kurze Analyse der soziopolitischen Rolle des WSF-ESF

Zunächst müssen wir das WSF und somit das ESF als eine Institution verstehen, die den parallelen Entwicklungen der kapitalistischen Institutionen des Regierens folgt. Während der letzten 30 Jahre expandierte das Kapital sowohl horizontal (auf der ganzen Welt), als auch vertikal (Verwertung des täglichen Lebens, z.B. Freizeit). Neue Insti­tutionen müssen die Dynamik des Weltmarktes regulieren, wie die Weltbank, G8, WTO, etc. Das WSF wurde als eine „Opposition“ zu solchen Institutionen gegründet und insbesondere als „Opposition“ zum WEF, das in Porto Alegre 2001 stattfand. Das ESF ist das Kind des WSF, das hauptsächlich die EU kritisiert.

Wogegen richtet sich das WSF-ESF wirklich? Bei einem Blick auf die Prinzipien und Ziele (und noch schlimmer, die Ziele einiger seiner Mitglieder) können wir vor allem reformistische Forderungen erkennen, wie Steuern für Konzerne, Antiprivatisierungspolitik durch die Regierung, Macht für die „Zivilgesellschaft“, etc. Diese Forderungen sind von Grund auf „systemintern“; sie versuchen die „schlechten“ Auswirkungen des Neolib­eralismus zu kontrollieren, als ob die politische Linie das Problem sei und nicht der Kapitalismus und seine Institutionen als Ganzes. (1) Anders gesagt, das WSF propagiert keinen Systemwechsel. Es fragt nur nach „einem Kapitalismus mit menschlichem Gesicht“, „einem neuen sozialen Vertrag weltweiter Gerechtigkeit“. So können wir das WSF und somit auch das ESF als „neue reformistische Internationale“ sehen, als „außerinstitutionelle soziale Demo­kratie“, die sich der neuen internationalisierten Politik des Kapitals angepasst hat (und gleichzeitig dem Verfall der parlamentarischen Politik auf Staatsebene).

Praktisch muss sich das ESF, ein Außerregierungsmittler, als „recht­mäßiger Verhandlungspartner“ präsentieren, der versucht, EU Politik zu beeinflussen. Es handelt innerhalb der Grenzen heutiger Institutionen, ohne sie im Geringsten herauszufordern. Die Zusammenarbeit mit Institutionen des Status quo, wie nationale Regierungen oder Parteien und die Verurteilung jeder gegen das System gerichteten Bewegung, die radikal die auferlegten Grenzen sozialer Kontrolle (2) bricht, sind Offenbarungen ihrer Komplizenschaft.

Die Synthese des ESF ist durchaus problematisch. Sein Hauptmerkmal ist eine Pluralität, die aus den Bemühungen entsteht, alles zu umfassen. Diese Pluralität unterstützt die Zirkulation verschiedener Erfahrungen, Ideen, Kämpfe. Weiterhin gelingt es dadurch Menschen, die sich auf der ersten Stufe politischen Interesses befinden, für Politik zu interessieren. Somit scheint das ESF positive Aspekte zu haben. Trotzdem führt dieser Pluralismus unvermeidlich zu einem Mangel an einer umfassenden, allgemeinen sozialen Analyse und an gemeinsamen Aktionen von ESF Gruppen, weswegen dem ESF als Machtinstitution (3) nur minimale Ziele bleiben. Lasst uns diesen Punkt vertiefen, da Unterschiede in der Analyse zu verschiedenen Zielen im sozialen Kampf führen. Kurz gesagt, fassen wir als Anarchisten/Antiautoritäre den Kapitalismus als ein System auf, das durch zwei dynamische Ströme entwickelt wird – der erste hat mit „der Konkurrenz der Kapitalisten“ zu tun; der Konkurrenz zwischen kapitalistischen Institutionen (z.B. Firmen), die auf der Marktwirtschaft basiert und zur „ökonomischen Entwicklung“ führt, zu der Verwertung jeden Aspektes unseres Lebens (vertikale Ausweitung) und zur Vermarktung von allen Teilen der Erde (horizontale Ausweitung). Der zweite Trend, der für uns wichtiger ist, ist die „soziale Konkurrenz“, die Konkurrenz zwischen dem Kapital und der Gesellschaft, der vor allem mit der historischen Entwicklung des Staates zusammenhängt (z.B. vom liberalen Staat und seiner Krise zum Wohlfahrtsstaat / erst soziale Demokratie und jetzt die „Einkommens-Sicherheits-Netzwerke“ / neoliberalistischer Staat, von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft etc.). (4)

Der Mangel einer solch umfassenden Analyse führt das WSF-ESF dazu, Organisationen wie etwa NGO’s zu integrieren, die unkritisch sind und indirekt die Expansion des Kapitals fördern, sowohl die Verwertung und Vermarktung (Oxfam spricht erst über die „Unterentwicklung“ in Nordkorea und dann kommt NIKE) als auch die soziale Kontrolle (Amnesty International wirft die „Bomben der Ethik“ in Jugoslawien und dann interveniert die NATO) betreffend. Mit anderen Worten, es führt zur Integration von Gruppen und Organisationen, deren Aktionen nicht im Mindesten antikapitalistisch sind. (5)

Ein anderes Problem des Mangels an einer umfassenden Analyse zeigt sich an folgendem Beispiel: an dem WSF, das in Porto Alegre im Februar 2001 organisiert wurde, nahm Lula da Silva (derzeitiger Präsident von Brasilien) mit seiner Partei teil. Zusammen mit den nationalistischen Basken von Batasuna und anderen „Feinden des Neoliberalismus“ begünstigten sie eine Aktion gegen die FTAA, die von den USA unterstützt wird. Aber können wir Lula als echten Feind des Neoliberalismus betrachten? Natürlich nicht. Lula war gegen die FTAA, weil diese Mercosur herausforderte, eine wirtschaftliche Vereinigung zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay, die im Grunde von Brasilien kontrolliert und von der EU unterstützt wird. Mit anderen Worten, er wollte das Kapital seines Landes beschützen. Somit waren die Aktionen im Grunde Teil des „Konkurrenz der Kapitalisten“. Die meisten WSF Mitglieder schienen jedoch nicht zu verstehen, was die da wirklich unterstützen.

Ein anderer unangenehmer Aspekt vieler Gruppen, die am ESF teilnehmen, ist (als Resultat ihres Mangels an einer umfassenden Analyse), dass sie die Probleme des Kapitalismus nur auf überstaatlicher, internationaler Ebene zu entdecken scheinen und dass sie die kapitalistischen Beziehungen und deren Auswirkungen in unserem alltäglichen Leben vernachlässigen. Das indirekte Ergebnis ist, dass die Betonung allein auf dem Zentralen (auf der „Ungerechtigkeit der EU-Politik“) liegt und das Lokale vollkommen vernachlässigt wird (lokale Regierungen, Gremien oder Bosse). Diese Betonung des „Zentralen“ zeigt sich auch an den Organisationsstrukturen des ESF. Selbst wenn das ESF die „dezentralisierte partizipatorische Demokratie“ publiziert, ist es durchaus hierarchisch organisiert und wird so zum Spielfeld auf dem andere hierarchische Organisationen – wie Parteien – versuchen, ihre Interessen zu verfolgen. Die Vernachlässigung des lokalen Londoner Sozialforums ist ein gutes Beispiel für diese organisatorischen Tendenzen. Um es zusammenzufassen, das ESF kritisiert Neoliberalismus als eine Ideologie, die von den Mächtigen der Welt befördert wird und nicht den Kapitalismus als Ganzes, als ein sozioökonomisches System und alltägliche Beziehungen. Weiterhin liefert es keine umfassende Kritik von anderen Beherrschungsmechanismen, z.B. Nationalstaat, der direkt mit dem Kapital verknüpft ist. Als ein Ergebnis dieser Analyse begünstigt es reformistische Forderungen durch symbolischen (und nicht direkten, materielle) (6) Druck und es schlägt eine vage Vision von „einer demokratischen Zivilgesellschaft“ vor.

So ist das ESF der perfekte „Widersacher“ für die derzeitigen Netzwerke und Institutionen der Macht – ein Widersacher, der nicht wirklich herausfordert, einer mit minimalen Zielen, der am Ende des Tages das Image einer „guten, pluralistischen Demokratie“ perfekt angenommen hat. Es geht noch weiter: der Fakt, dass das WSF-ESF bis jetzt versucht hat die Antiglobalisierungsbewegung (7) und die „Zivilgesellschaft“ zu vertreten, zeigt seine potentiell gefährliche Rolle in der weltweiten Szene – nämlich das neue „Sammelbecken“ zu werden, in dem Leute fühlen, dass sie politische Teilhaber und Aktive sind, aber in dem die Hoffnungen, Enttäuschungen und Wut der Leute gefiltert werden, so das sie keine radikalen, emanzipatorischen Forderungen und Visionen entwickeln, sondern reformistische.

Autonome Räume während der Tage des ESF

Da wir glauben, dass jede Person das Potential für Radikalismus hat, sowohl in Gedanken, als auch in Taten, wollen wir Veranstaltungen organisieren, die nicht nur verschiedene (horizontale) Organisationsweisen, sondern vielmehr eine radikale, antiautoritäre Kritik an den aktuellen Institutionen der Herrschaft unterstützen (und wir verstehen das ESF als eines von ihnen). Die Unterscheidung des LSF von den hauptsächlichen Vorgängen beim ESF ist für uns ein klares Beispiel für einen Radikalisierungsprozess. So akzeptierten wir, nach vielen Treffen, Zögern und Skepsis, mit dem LSF, Indymedia und anderen Gruppen die Zusammenarbeit in einem losen Koordinierungsverbund, um etwas autonomen Raum während der ESF-Tage zu ermöglichen. Unsere Unterschiede nach außen tragend, meinen wir, dass viele Gruppen des ESF und auch viele Einzelpersonen, die für die Veranstaltung kommen, an einer radikaleren sozialen Analyse und direkten Aktionen interessiert sind.

Anstatt das ESF die neue repräsentative Institution der „sensiblen, politisch aktiven Bürger“ sein zu lassen, wollen wir „eine andere mögliche Welt“ zeigen, die bereits hier ist. Die Welt von… Horizontaler Selbstorganisation – Solidarität – Autonomie – Direkter Aktion.

Der Text stammt von der Londoner Gruppe wombles, die sich an beyond ESF: autonomous spaces beteiligt hat. Übersetzung: FA! Original: wombles.org.uk/auto/esfcritique.php
(1) Zum Beispiel das WSF-Prinzip 4, das sehr bezeichnend für die Analyse des WSF ist: „Die Alternativen, die auf dem Welt-Sozialforum vertreten werden, stehen im Gegensatz zu einem Prozess der Globalisierung, der von multinationalen Konzernen, von Regierungen und von internationalen Institutionen, die in deren Interessen agieren, gelenkt wird, mit der Komplizenschaft der nationalen Regierungen.“ Ist das Problem also der böse Konzern oder die böse Regierung? Unserer Meinung nach, nein. Es ist die „Natur“ des Kapitals zu expandieren und global zu werden, so wie sich die Konzerne aufgrund des Wettbewerbes der Marktwirtschaft kontinuierlich entwickeln müssen (oder „sterben“). Die Politik (sozialdemokratisch oder neoliberal) der Staaten oder internationalen Institutionen reguliert nur den Rhythmus der Entwicklungen, aber sie können sie nicht aufhalten (wie das Scheitern der Sozialdemokratie zeigte), wenn sie nicht die Marktwirtschaft und die kapitalistischen Beziehungen, die zur Kapitalakkumulation und Expansion führen, selbst abschaffen.
(2) Ein Beispiel wären die Demonstrationen von Genua und Thessaloniki, wo das ESF die Unterscheidung zwischen „gewalttätigen“ und „nicht gewalttätigen“ Demonstrierenden vertrat, um dem Status quo zu folgen und als „der legitime Vertreter der Anti-Globalisierungsbewegung“ gesehen zu werden. Es ist unnötig darüber zu sprechen, welche Stufe aktiver Solidarität das ESF, als Ganzes, den politischen Gefangenen nach den Demos zukommen ließ; nur sehr wenige der teilnehmenden Gruppen zeigten etwas Interesse…
(3) Es wird behauptet, dass das ESF keine Institution der Macht ist, sondern nur ein Forum. Das ist ein unzutreffender Punkt, weil praktisch (wenn nicht offiziell) das ESF die Macht hatte, Dinge zu tun, z.B. zu großen Anti-Kriegsdemos aufzurufen.
(4) Unglücklicherweise war das 20. Jahrhundert von marxistischer Politik dominiert, die die Kontrolle des Staates als das Grundziel des antikapitalistischen sozialen Kampfes sieht, ohne anzuerkennen, dass der Staat selbst, als eine von der Gesellschaft getrennte Regierungsinstitution, eine zentrale Quelle der Beherrschung der Gesellschaft ist. Darum spielte die „soziale Konkurrenz“ für die Entwicklung von Form und Rolle des Staates eine so bedeutende Rolle.
(5) Ganz zu schweigen von der Haltung der ESF-Mitglieder zu den Nationalstaaten.
(6) Lasst uns an die riesige Anti-Kriegsdemo in London letztes Jahr denken. Die „Stoppt den Krieg„-Koalition, von SWP dominiert (wie auch das ESF in Großbritannien gerade), brachte 1,5 Mio. Menschen auf die Straße. Wenn all diese Leute nur einen kleinen Stein an die Mauer des Parlaments hätten werfen können, als sie vorbeiliefen, dann wäre die Wand zusammengefallen; sie wäre gefallen, weil 1,5 Mio. kleine Steine sie getroffen haben. Aber SWP, wie das ESF in anderen Ländern, bevorzugte den „symbolischen Druck“. Haben sie den Krieg beendet? Nein. Was wir damit sagen wollen, als allgemeinen Schluss aus einem sehr einfachen Beispiel ist, dass symbolischer Druck gut ist, aber nicht allein wirksam, um einen sozialen Wandel herbeizuführen.
(7) Die Anti-Globalisierungsbewegung ist sowieso zu verschieden, um als „Bewegung“ durchzugehen.

Buchstabensalat:

Batasuna – baskische Partei (baskisch für Einheit)

ESF – Europäisches Sozialforum

FTAA – Free Trade Area of the Americas

(Freihandelszone der Amerikas)

G8 – Gruppe der führenden Industrienationen

LSF – Londoner Sozialforum

Mercosur – Mercado Común del Sur

(Gemeinsamer Markt des Südens)

NGO – non-governmental organizations

(Nicht-Regierungsoragnisation)

Oxfam – Oxford Committee for Famine Relief

(Oxforder Komitee zur Bekämpfung von Hunger)

SWP – Socialist Workers Party

(trotzkistisch orientierte Partei in GB)

WEF – Weltwirtschaftsform

WSF – Welt-Sozialforum

WTO – World Trade Organisation

(Welthandelsorganisation)

soziale bewegung

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