Erinnerung an die Gegenwart

Der vergessene Krieg in Tschetschenien

„Die russische Armee sperrt Menschen, darunter viele alte Leute, in sogenannte Filtrationslager, wo sie bei jeder Witterung in Erdhöhlen kauern müssen. Ihre einzige Hoffnung: Vielleicht können Verwandte sie freikaufen. 14-jährige Kinder werden mit Elektroschocks gefoltert, um ihnen Informationen abzupressen. Gegen die Zivilbevölkerung werden Streugeschütze eingesetzt, die nach allen internationalen Konventionen geächtet sind und die verheerende Zerstörung im menschlichen Körper anrichten…“ (2)

Diese Zeilen beschreiben den Krieg, den die russische Armee, auf Geheiß Putins und des Kremls gegenwärtig gegen Tschetschenien und vor allem die dortige Zivilbevölkerung führt. Dieser Krieg findet zwar offiziell in Tschetschenien statt, betrifft aber auch die Bevölkerung in Rußland. Hier wie da kann man leicht zwischen die Fronten geraten, als SchauspielerIn in einem Moskauer Theater, als tschetschenischer Flüchtling oder einfach nur, indem man in diesen Staaten lebt.

Um die UN und die Weltöffentlichkeit dazu zu bewegen, sich mit dem Krieg im Nordkaukasus zu befassen, befindet sich seit dem 18. Januar 2004 der Abgeordnete des EU-Parlaments Olivier Depuis (International Radical Party) im Hungerstreik. Was geschieht dort? Es herrscht seit 10 Jahren Krieg zwischen den russischen und tschetschenischen Machthabern. Tschetschenien hatte vor dem Krieg ca. 1 Million EinwohnerInnen und liegt im Nordkaukasus, südlich der russischen Grenze. Die Gründe für diesen Krieg sind vor allem eins: verwirrend vielschichtig. Das verwundert nach 10 Jahren, in denen sich eine eigene Kriegsinfrastruktur entwickeln konnte, nicht sehr. Da Informationen über die tatsächlichen Ereignisse so gut wie nicht zu bekommen sind, weder von der russischen Seite, die davon spricht Terroristen zu bekämpfen, noch von tschetschenischer Seite, über die eine Informationsblockade verhängt wurde, ist es nicht möglich zu sagen, welche Seite wofür verantwortlich ist. Man kann lediglich abwägen, welchen Interessen die Entwicklung dient.

Krieg lohnt sich für Herrscher, weil er die Aufmerksamkeit der BewohnerInnen Russlands von sozialen und ökonomischen Problemen ablenkt. In einer Welle allgemeiner Kriegsbegeisterung und Hetze ist es leichter, militaristische und chauvinistische Hysterie zu verbreiten, repressive Institutionen zu stärken und unpopuläre Reformen zu verabschieden. Der ehemalige Geheimdienstchef Wladimir Putin wurde von Jelzin 1999, kurz vor Beginn des zweiten Teils des Tschetschenienkriegs, als Ministerpräsident eingesetzt und in den darauf folgenden Wahlen, nicht überraschend, bestätigt. Putin erklärte sogleich die Bekämpfung der Islamisten und Separatisten in Tschetschenien zu seiner wichtigsten politischen Aufgabe. Im Sommer 1999, also kurz vor Putins Einsetzung war u.a. Bassajew, Kriegsherr einer islamistisch-fundamentalistischen Gruppe, nach Dagestan (3) einmarschiert, wo islamisch-fundamentalistische Gruppen gegen die von Moskau unterstützten Klans rebellierten. Bassajew steht für den Kampf für ein islamistisches Tschetschenien. Auf tschetschenischer Seite herrscht nicht weniger Chauvinismus und Nationalismus unter den verschiedenen Anführern. Es wird vermutet, dass tschetschenische Führer mit einer Abspaltung von Rußland den Grundstein für eine „Föderation Kaukasischer Völker“ legen wollen. „Nach“ dem ersten Krieg, als der Krieg mit verminderter Intensität fortgesetzt wurde, war das Land politisch unter verschiedenen Warlords (nichtstaatliche Kriegsherren) aufgeteilt, die sich wie Feudalherren benahmen und eine Willkürherrschaft ausübten.

Innerhalb Tschetscheniens gibt es außerdem einen Machtkampf zwischen dem Präsidenten Maßchadov und den Warlords. Maßchadov, ist Nachfolger Dudajews, der für die nationale Unabhängigkeit eintritt. Solange der Krieg anhält, behalten auch die Warlords ihre Anhänger und damit Macht. Ein weiterer Grund liegt wohl im Öl. Zwar gibt es keine großen Erdölvorkommen und die vorhandenen Vorkommen sind eher von niedriger Qualität, aber es verliefen zwei wichtige Ölpipelines vom Kaspischen Meer durch Tschetschenien, was die Kontrolle der nordkaukasischen Republik interessant macht. (4)

Der Krieg, oder wie Jelzin es ausdrückte, die „Zerstörung von Banditen, Halsabschneidern und Terroristen“ begann 1991. Damals erklärte der gewählte Präsident Dudajew die Unabhängigkeit Tschetscheniens und den Austritt aus der UdSSR. Der Kreml verhängte daraufhin den Ausnahmezustand. Am 11. Dezember 1994 marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein. Der Krieg dauerte offiziellen Angaben zufolge bis 1996 (5), woraufhin es bis 1999 Frieden gegeben haben soll. Dies ist jedoch zu bezweifeln. Man kann davon ausgehen, dass die Bombenexplosionen, Überfälle und Verschleppungen höchstens vermindert fortgeführt wurden. Anders ist es schwer zu erklären, dass einige Tschetschenen immer wieder davon sprechen, dass es eine Generation gibt, die nichts als Krieg kennt und besonders aufgeschlossen gegenüber dem Fundamentalismus ist. Hinzu kommt, dass diese Generation, auch ohne fundamentalistisch zu sein, allzu leicht in einen Fatalismus verfällt, der die ganze restliche Welt als Feind betrachtet, da man von ihr nur Gleichgültigkeit oder Feindschaft erfährt.

Personen, die in der Stadt Grosny bleiben, werden als Terroristen und Banditen betrachtet. Sie werden von den Luftstreitkräften und Artillerie vernichtet……. Alle, die die Stadt nicht verlassen, werden vernichtet.“ (1)

1999 begann der offiziell zweite, bis heute andauernde Teil des Krieges. Als Anlässe gelten der Einfall tschetschenischer Truppen in Dagestan, wo eine islamische Republik ausgerufen wurde und Anschläge in Moskau. Am bekanntesten wurde die Geiselnahme in einem Moskauer Theater im Oktober 2002. Ein tschetschenisches Kommando forderte mit quasi militärischen Mitteln den sofortigen Abzug des russischen Militärs und die Beendigung des Krieges in Tschetschenien. Die Antwort der russischen Regierung war der Einsatz von geheimen Chemiewaffen, mit denen 117 Geiseln und 50 Tschetschenen (darunter 18 Frauen) getötet wurden. Inzwischen gab das Antiterroristische Zentrum Tschetscheniens bekannt, dass es Dokumente gäbe, in denen Putin den Geheimdienst FSB anweist, in kürzester Zeit Material zu fabrizieren, welches die tschetschenische Führung als Initiatoren der Geiselnahme darstellt. Des weiteren sollen alle Fakten geheim gehalten werden, die auf die Verwicklung hoher russischer Beamter in die Ereignisse hinweisen. Derzeit ermittelt der US-Geheimdienst FBI zu der Moskauer Geiselnahme, da auch US-amerikanische BürgerInnen durch den Einsatz von verbotenem Giftgas ums Leben kamen, so dass Putin aufgrund der größer werdenden Zweifel an der alleinigen Täterschaft von tschetschenischen Kämpfern unter Druck gerät. (6) Insgesamt kamen bei Anschlägen in Moskau seit 1999 mindestens 300 russische ZivilistInnen ums Leben. (2000 wurde der von Jelzin eingesetzte Putin in Wahlen „bestätigt“. (7)

Bei all diesen Vorfällen ist bis heute unklar, wer dahinter steckt. Es gibt Vermutungen und Anklagen sowohl der Russen, die die Tschetschenen beschuldigen und mit diesen Vorfällen den Krieg rechtfertigen, wie auch umgekehrt. Inzwischen wurden mindestens 100.000 Menschen ermordet, das ganze Land zerstört, mindestens die Hälfte der tschetschenischen Bevölkerung lebt im Exil und zurückgekehrte Flüchtlinge leben in Ruinen und Kellern. Die Repressionen gegen die Zivilbevölkerung sollen aus Sicht der russischen Regierung „die soziale Basis des Widerstands unterminieren“. (8)

In diesen zehn Jahren hat sich eine eigene Kriegswirtschaft entwickelt, aus der die Militärs, wie auch die pro-russische Regierung unter Kadyrov ihre Einkünfte beziehen. (Kadyrov wurde im Oktober letzten Jahres mit Putins Hilfe zum tschetschenischen Präsidenten „gewählt“. (9) Täglich wird Erdöl lastwagenweise aus Tschetschenien nach Rußland transportiert, woran die Förderunternehmen, wie auch die Militärs (russische wie tschetschenische), die die LKWs passieren lassen, gut verdienen. Ein weiteres blühendes Geschäft ist der Frei-/ Verkauf von lebenden oder getöteten Gefangenen und der Dienst an Checkpoints.

Der jüngste Anschlag fand am 6. Februar 2004 in der Moskauer U-Bahn statt. In einer Rede am darauf folgenden Tag, erklärte Putin, Untersuchungen zu den Hintergründen des Anschlags, bei dem 50 Menschen starben und 150 verletzt wurden, seien nicht notwendig, da es sicher sei, dass „Maßchadov und seine Gangster“ dahinter steckten. Damit verweigerte sich der russische Präsident auch jegliche Verhandlungen mit den „Terroristen“. (10)

Es ist derzeit Wahlkampf in Rußland. Wie schon 1999 scheint Putin seine Wahlkampfstrategie beizubehalten: Um die Bevölkerung aus ihrer Wahlapathie zu reißen, explodieren Bomben und Menschen sterben. Hinterher werden „tschetschenische Terroristen“ als Schuldige bezichtigt und der zu wählende Präsident erklärt, er werde Ordnung schaffen. (11) Die Witwe des sowjetischen Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow, Jelena Bonner, bezichtigt die russische Führung, mit dem neuen Tschetschenienkrieg innenpolitische Probleme zu überdecken. Sie sagte am 4.11.1999 vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Senats: „Der erste Krieg wurde gebraucht, damit Präsident Jelzin wieder gewählt wurde. Dieser [zweite] Krieg wird gebraucht, um die Popularität des jetzigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin in den Meinungsumfragen zu erhöhen, den Boris Jelzin als Nachfolger ausgewählt hat. Für die russische Armee ist der Krieg attraktiv, weil er den Generälen die Möglichkeit gibt, Rache zu nehmen für die Niederlagen in Afghanistan und im ersten Tschetschenienkrieg. Sie meinen, dass Alexander Lebed (5), die freie Presse und die öffentliche Meinung Schuld haben an der Niederlage. Das Regime hat keinen anderen Weg gefunden als den Krieg, um die Öffentlichkeit hinter sich zu scharen, von ein Drittel von 51 Millionen unter der Armutsgrenze lebt.“ (12)

Doch dieser Krieg wird nicht nur von Rußland und Tschetschenien geführt, sondern auch von all jenen hingenommen, die nichts zu seiner Beendigung tun. Auf internationalem Parkett versucht man mit dem ehemaligen Geheimdienstchef Putin Polka zu tanzen. Zwar kritisieren die westlichen Regierungen den Krieg, der auch gelegentlich Genozid genannt wird, beeilen sich aber zu erklären, dass ihnen die Hände gebunden seien, da es sich um eine innere Angelegenheit Rußlands handele.

Doch hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass Verhandlungen diesen Krieg nicht beenden. Welchen Sinn können Verhandlungen haben, die von den Profiteuren des Leidens geführt werden? Derweil bemüht sich Putin und mit ihm der ganze russische Informationsapparat, keine Informationen nach außen dringen zu lassen. Ließ das russische Fernsehen schon in den Jahren 1994 bis 1996 nur regierungstreue Meldungen in die Nachrichten, hört man nun so gut wie gar nichts mehr über die eigentlichen Zustände in Tschetschenien. Nicht selten werden ReporterInnen vom russischen Geheimdienst verfolgt und bekommen Morddrohungen. Von russischen anarchistischen Kreisen wird die Bevölkerung als passiv beschrieben. Trotzdem dieser Krieg auch der ihre ist, können sich nur die wenigsten vorstellen, mit ihrer Stimme Einfluß zu nehmen. Der sich verbreitende Nationalismus tut ein übriges.

Kritische Stimmen kommen vor allem von Menschenrechtsorganisationen und den Soldatenmüttern. Dies sind Mütter russischer Soldaten, die in diesem Krieg keinen Sinn sehen und ihre Kinder, die oft 18/19-jährig als Wehrdienstpflichtige in den bewaffneten Konflikt geschickt werden, schützen wollen. Die Soldatenmütter beklagen vor allem die Informationsblockade, die seit 1999 eine totale ist und dass die russische Regierung sich nicht zum Verbleib der Soldaten und der rechtlichen Grundlage, auf der dieser Krieg geführt wird, äußert. (13) Eine Möglichkeit wie das Blutvergießen beendet werden könnte, beschreibt Usmanow (14): „Um den Krieg zu beenden, braucht man nur eine oder zwei Wochen. Einfach über das zentrale Fernsehen Rußlands, welches Putin völlig untergeordnet ist, die Leiden der tschetschenischen Frauen und Kinder zeigen! – Das reicht! Genau in einer Woche würde sich in Rußland die öffentliche Meinung ändern…“ (15)

Was bleibt, ist einmal mehr die Notwendigkeit von unten Druck auf die Regierungschefs auszuüben, damit diese wenigstens aufhören zu morden. Ob der Hungerstreik des EU-Abgeordneten Depuis ausreicht, das Wegsehen der Mehrheit der Menschen als einen ersten Schritt zum Frieden zu beenden, bleibt fraglich. Selbst wenn die russische Armee abziehen würde, was eine Voraussetzung für Frieden ist, gibt es genug innertschetschenische Probleme, die zu neuen Auseinandersetzungen führen könnten. Nur indem die Menschen aufhören, sich von anderen regieren zu lassen, kann es Frieden geben. Die, die unter dem Krieg leiden, müssen ihn beenden.

volja

Ständig aktualisierte Informationen auf Englisch unter: www.chechenpress.com
(1) www.uhn-online.de/tschetschenien.htm
(2) Anna Politikowskaja, in ihrem Buch „Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg“, Dumont 2003, 16,90 Euro.
(3) Nachbarepublik, die zu Rußland gehört. Dagestan ist die östliche Nachbarrepublik von Tschetschenien. Es besitzt eine lange Küste am Kaspischen Meer und ist wichtig für den Transitverkehr von Russland nach Aserbaidschan und in den Iran.
(4) Eine war eine Pipeline, welche durch Dagestan und Tschetschenien die reichen Ölfelder des Kaspischen Meeres mit dem russischen Schwarzmeer-Hafen Noworossijsk verbindet. Diese Pipelines gibt es nicht mehr. (www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/kriege/243ak_tschetschenien.htm).
(5) Bezieht sich auf das Abkommen von Chasavjurt, dass der damalige Chef des russischen Sicherheitsrates, General a.D. Alexander Lebed, am 22. August 1996 mit dem tschetschenischen Stabschef Maßchadov ausgehandelt hatte. Die Kernpunkte des Abkommens bestanden in dem vollständigen Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien, sowie in der Bestimmung, eine Entscheidung der Statusfrage erst Ende 2001 zu fällen. Der eigentliche Konfliktpunkt aber wurde weder durch das Übereinkommen, noch durch den am 12. Mai 1997 unterzeichneten Friedensvertrag gelöst. (www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/Ipw/Akuf/kriege/210_tschetschenien.htm).
(6) www.chechenpress.com: „On situation about act of terror in „Nord-Ost“ Theatre“.
(7) Entgegen den Voraussagen von Wahlforschern wurde er schon im ersten Wahlgang am 26. März 2000 zum Präsidenten gewählt. Nach umfangreichen Recherchen der regierungskritischen Zeitung „The Moscow Times“ war dies nur durch massiven Wahlbetrug möglich. So wurden in vielen Regionen säckeweise gefälschte Wahlzettel in die Wahllokale geschleppt oder die Gouverneure massiv angehalten, für Putin Stimmen zu sammeln, um an der Macht zu bleiben. The Moscow Times, 14.10.2000. (Statement of Elena Bonner for the Senate Foreign Relations Committee, 4.11.1999, verbreitet durch Institute for Democracy in Eastern Europe, Washington, www.idee.org).
(8) Adlan Beno, Chechenpress, 30 January 2004.
(9) Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2003 schaffte es Putin, der diese Wahlen angeordnet hatte, seinen Kandidaten durchzusetzen, indem er die Nichtkandidatur aller, die in den Umfragen vor Kadyrov lagen erwirkte. A. Alsachanow bekam als Gegenleistung einen Posten als Putins Beauftragter in Tschetschenienfragen, M. Saidullajews Kandiatur wurde gerichtlich für ungültig erklärt. Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien. Aus vertraulicher, teils zuverlässiger Quelle heißt es, bei diesen Wahlen hätten 90% der Wahllokale gebrannt.
(10) Mayrbek Taramov, for Chechenpress, 9. February 2004 www.chechenpress.info/english.
(11) www.livejournal.com/users/stilo, 10.02.04.
(12) www.gfbv.de/voelker/europa/tschetschenien/t_background_1.htm.
(13) magazine.orf.at/report/int/sendungen/000223/000223_4.htm.
(14) Lema Usmanow, ständiger Vertreter der tschetschenischen Regierung in den USA.
(15) Zitat aus einem Interview mit Lema Usmanow, vom 2. Juli 2002.

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