EURO.PA – Die dunklen Seiten der Macht

Mit der Initiation der Verfassungsgebung für die Europäische Union ist klar geworden, die EU ist kein Elitenprojekt mehr, sondern wird in naher Zukunft den Alltag jedes und jeder Einzelnen betreffen. Ein Grund für Feierabend! dieser neuen Macht auf Spur und Schliche zu kommen.

„Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (…) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtsscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (…).“

Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden“, S. 20 (1)

Als Immanuel Kant diese Zeilen 1795 aufs Papier bringt, hat er folgenträchtig liberale Ideen mit ideal-rationalistischen verquickt – auf die politische Geschichte angewendet und damit die Ideologie des bürgerlichen Liberalismus ausalphabetisiert. Wie in abstracto die Idee der Autonomie (Völkerrecht) der Idee der Ordnung (Weltrepublik) widerstreitet, so steht auch in concreto dem Glauben (Hoffnung auf ) die Neigung des Menschen entgegen. Vor der utopischen Perspektive kann mensch sich dabei nur gruseln. Die Durchsetzungsgeschichte der positiven Idee einer Weltrepublik wäre die der Machtergreifung einer allgemein herrschenden (gesetzgebenden) Vernunft, die via öffentlichen Zwangsgesetzen die Freiheiten und Neigungen (Bedürfnisse) jedes einzelnen derart beschnitte, daß es zum ewigen Frieden in der Gesellschaft bzw. Welt käme. „Schöne neue Welt“ hat Huxley später zynisch geantwortet.

Wenn sich heute unsere Politiker anschicken, einen Verwaltungsbereich zu katalogisieren, der rund eine halbe Milliarde Menschen umfaßt, heute, fast 60 Jahre nach dem der Kontinent im Kriegsrausch der Großmächte versunken war, heute – fast 15 Jahre nach dem Untergang der technokratischen Regime im Osten, dann kann getrost vom Projekt Europa bzw. der EU-Erweiterung als dem ambitioniertesten Großmachtprojekt der europäischen Neuzeit gesprochen werden. Jede/r Einzelne mag über die politische Kaste unserer Lande denken was will, ihre stabsgeplanten Großprojekte waren immer zweierlei: größenwahnsinnig und unplanbar. Zumindest insoweit stellt das Projekt „Europa“ eine Kontinuität politischer Geschichte dar.

Einst als gemeinsame Basis – quasi Seziertisch großwirtschaftlicher Interessen – war die Idee „Europa“ nicht mehr als der Geschäftssinn einiger übler Kriegsprofiteure. Im Kalten Krieg dann avancierte sie zum ideologischen Kampfmittel – zur Ermutigung gegen den gemeinsamen Feind. Eine Wirkung im übrigen, die nur selten die Bevölkerungen erreichte. Europa, das war die kleinste Gemeinsamkeit, die größtmöglichen Nutzen für alle beteiligten Seiten versprach. Und so kam es, daß sich Vertreter der Großmächte des Kontinents an und wann trafen, daß um die Verwaltungen dieser Treffen Institutionen wucherten – vollgestopft mit Lobbyisten und Machtfanatikern, Bürohengsten, Papiertigern und Schreibtischlöwen, Verträgen und Einzelvereinbarungen – und dabei noch so getan wurde, als wäre die ganze Kumpanei nicht gar schon all zu oft gesehen worden. Heute dagegen sitzt in Brüssel eines der modernsten Verwaltungsregime der Welt und verkörpert die letzte Hoffnung des bürgerlichen Liberalismus auf Gestaltung der Geschichte (hier im Sinne einer verwalteten Welt).

Mit dem verfassungsgebenden Prozeß, der durch die Einberufung des Konvents initiiert wurde, mit der Vorlage des „Vertrags über eine Verfassung Europas“ (2) zur Abstimmung am 04.05. 2004 droht nun der Aufstieg Brüssels zur Supermacht. Die Verfassungsgebung könnte im Handstreich die verfaßten Nationalstaaten entmachten und zu einer effektiven Destabilisierung der Binnengrenzen beitragen. Genau deshalb wird es wahrscheinlich auch nicht so weit kommen. Entweder es wird Aufgeschnürt oder Verwässert, aber am besten gar nicht erst darüber abgestimmt. Nichtsdestotrotz zeigt sich, die Macht in Brüssel wächst, keine taktische Überlegung darf dies übersehen. Die kritische Diskussion dreier Fluchtlinien dieses neuen Großmachtprojektes soll im Folgenden beim Durch-, Nach- und Weiterdenken Hilfe bieten.

Konfrontation contra Subversion / Große Macht, Supermacht, Allmächtig…

Wenn Immanuel Kant in dem Zitat aus seiner Flugschrift „Zum ewigen Frieden“ von einem sich „… immer ausbreitenden Bund…“, einem „…immer wachsenden Völkerstaat…“ redet, scheint er in eigenartiger Weise das vorwegzunehmen, was an utopischem Gehalt in der Europäisierung bzw. EU-Erweiterung begründet liegt. Die Ausdehnung gemeinsamer Normen, Werte und Standards, die tendenziell erst mit der Etablierung der Weltrepublik abgeschlossen ist. Indes brauchen wir die europäische Karte gar nicht soweit auszureizen, denn jedem und jeder dürfte klar sein, daß, welche Form der weltweiten Verwaltung auch immer, sie auf den Institutionen der Vereinten Nationen beruhen wird. Wir haben es also bei der Europäischen Union keinesfalls mit einem Projekt zu tun, das keine Grenzen kennt. Im Gegenteil sind paramilitärische Einheiten gerade dabei, eine neue Grenze um den Kontinent Europa zu ziehen, welche der amerikanisch-mexikanischen, der israelisch-palästinensischen oder chinesischen in nichts nachsteht.

Und die EU-Erweiterung war ja auch nicht ein sich gegenseitiges Annähern, jedes der kleinen Länder hat teuer für den Platz an ‚der Herren Tische‘ bezahlt. Der Preis für Kredite, Subventionen, Handelsverträge waren Privatisierung, Aufhebeln lokaler Märkte, Rechtsuniversalismus und militärische Aufrüstung. Von gleichberechtigten Verhandlungspartnern kann dabei in Brüssel nicht die Rede sein. Die Debatte um die Verfassung der Europäischen Kommission zeigt, manches Land wäre mit einem ständig (stillen) Beobachter schon zufrieden und noch auf lange Sicht wird keine innereuropäische Politik gegen die drei Großen (D, F, GB) zu machen sein. Beim Thema der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird schließlich am deutlichsten, als was dieses Projekt Europa zu verstehen ist. Eine gemeinsame Armee, ein Grenzregime, eine einheitliche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, verstärkter Binnenhandel und eine gemeinsame Währung, schließlich eine übergreifende Verwaltung, eine Verfassung. Nach dem Vorbild einer Bundes-Nation sind die politischen Führer der nationalen Regime Europas dabei, eine neue Großmacht zu etablieren, die ihnen neue Handlungsspielräume eröffnet. Sowohl im Ringen mit den transnationalen Konzernen, als auch in Sachen transatlantischen Handels, sowohl zum Schutz europäischer Kapitalinteressen im Nahen Osten, als auch zum Durchstarten beim Run auf die letzten Ressourcen. Mit dem liberalen Schwindel einer Ausdehnung bis ins Unendliche (die ganze Welt, ein Europa) kaschieren die Politiker unserer Lande die Realisation einer Großmacht, der nach der begrenzten Ausdehnung und fallenden Profitraten die direkte Konfrontation mit anderen Großmächten folgt.

Viele Menschen in Europa glauben, daß eine Konfrontation mit den USA ein historisch notwendiges Korrektiv der weltweiten Politik darstellt und vergessen darüber, daß eine Konfrontation von Großmächten in der Geschichte letztendlich immer auf den Rücken der Menschen ausgetragen, auch Krieg bedeutet hat. Anstelle der Konzentration von Macht in den Händen weniger, der Zentralisierung von Verwaltung, anstelle des Prinzips der Konfrontation sollte das der Subversion treten, hüben wie drüben, die zielgerichtete Zersetzung aller Macht des Menschen über den Menschen.

Integration contra Destruktion / Nationalstaat vs. Europa

Die Balance zwischen den Nationalstaaten Europas und einer einheitlichen europäischen Verwaltung, zwischen nationaler und europäischer Verfassung (3), wird zu einem der Schlüsselmomente der weiteren politischen Entwicklung werden. Sollte es tatsächlich gelingen, am 04. Mai eine einheitliche Verfassung der Europäischen Union zu verabschieden, wird wohl die juristische Praxis der Auslegung des Verfassungstextes erweisen, inwieweit den Advokaten der Spagat zwischen nationaler Souveränität und europäischer Rahmengesetzgebung gelungen ist. Es gibt nicht unbegründete Hoffnung darauf, daß eben jene Auslegungspraxis den nationalen Souverän weiter zersetzen wird. Die Rede von der Integration zeigt jedoch schon an, daß es bei diesem Prozeß keineswegs um die Auflösung national verfaßter Territorien gehen soll, im Gegenteil erhalten diese so noch zusätzliche Legitimation, quasi „von oben“. Aber was noch viel schlimmer ist und sich bei der Integration weiterer Beitrittsländer zeigt, diese müssen sich erst zu einem modernen Nationalstaat generieren, damit ihnen überhaupt die Chance des Beitritts offensteht. Alles in allem heißt die europäische Supranationalität die Integration von Nationalstaaten in einen Staatenbund und nicht die Auflösung des Nationalstaates, nicht die Zerstörung der Brutstätte von systematischer Repression und Terror, von Rassismus und Faschismus.

Legitimation contra Partizipation / Von Bürgern, Bürgern und Menschen

Das Europäische Parlament kann bürger seit 1979 direkt wählen, wohl eine vorbeugende Maßnahme, um die Kritik am Projekt „Europa“ frühzeitig zu unterbinden. Die Stellung dieser Institution ist dann auch nach wie vor sehr niedrig. Kein Initiativrecht, keine Öffentlichkeit, keine Macht – nur die Arbeit an den konkreten Gesetzestexten ist parlamentarisch. Der Rest liegt größtenteils in den Händen der Regierungschefs und Lobbyverbände, der einzelen Minister und Lobbyisten. Daß, woran der moderne Nationalstaat in seiner demokratischen Herrschaft schon krankt, zeigt sich auf europäischer Ebene noch drastischer: die mangelnde Partizipation (Teilhabe) vieler, vieler Einzelner an der Politik und damit an der Gestaltung der Geschichte. Wird Legitimation als ein nachgelagerter Prozeß verstanden, bei dem in einem repräsentativen System wie der Demokratie bereits bestehende Projekte gerechtfertigt werden, befindet sich die Zukunft der bürgerlich-liberalen paneuropäischen Idee in einer Zwickmühle, deren Tendenz nur schwer prognostiziert werden kann. Der Souveränitätsverlust der Nationalstaaten könnte diese derart destabilisieren, daß sie der Bürger einfach nicht mehr genügend legitimiert bzw. ihr Vorhandensein als legitim empfindet (4).

Auf der anderen Seite spielt aber gerade das Vorhandensein eines abstrakten, weil ungenügend legitimierten Souveräns den Nationalpolitikern in die Karten. So kann eigenes Unvermögen mit den Restriktionen aus Brüssel begründet werden, das Versagen des Souveräns mit der fehlenden Souveränität (5). Gerade dies könnte Nationalismen wieder befördern, die Legitimität von Nationalstaaten stärken. Unabhängig davon aber, ob nun mehr Legitimation für die EU oder mehr für den einzelnen Nationalstaat oder ein ausbalancierter Mix aus beidem, mehr Partizipation der einzelnen verfaßten Individuen ist in keinem der möglichen Fälle zu erwarten. Beim Europaprojekt schon deshalb nicht, weil die zentrale Bürokratie von dem individuellen Geschehen noch weiter entfernt ist als im Nationalstaat – eine Generation von Technokraten, gespeist aus den verschiedenen nationalen Eliten, wird uns verwalten. In der gestärkten Nation nicht, weil ihrer Geschichte die Tendenz zur Führerschaft innewohnt, eine Dynamik die immer mit Partizipationsverlusten verbunden ist. Und auch und gerade in einer Balance von Europäischer Rahmengesetzgebung und nationaler Souveränität nicht, weil es auf der Seite der Regierenden einfacher wird, sich den schwarzen Peter gegenseitig zuzuschieben, und für jeden und jede schwieriger, dieses Spiel zu durchschauen, zu kritisieren, einzugreifen, zu verändern und mitzugestalten – an einer gemeinsamen Politik eben zu partizipieren.

Aus dem zuvor Gesagten ist wohl leicht zu entnehmen, daß das Europäische Projekt eher zum Scheitern neigt, denn für alle Menschen dieses Kontinents eine selbstbewußte Zukunft bietet. Anstelle des modernen Großmachtprojekts müßte die freie Initiative konkreter Einzelner treten, um Mächte nicht zu konfrontieren sondern zu zersetzen, um Nationalstaaten nicht zu generieren und zu integrieren sondern aufzulösen, um politische Projekte nicht zu legitimieren sondern an ihnen zu partizipieren. Hier scheiden sich bürgerlicher Liberalismus und selbstkritischer Anarchismus. Und hier ist der Kampf in abstracto auch schon zugunsten letzterem gewonnen.

clov

P.S.: Wer glaubt, die Europäische Union würde mehr Beschäftigung schaffen, irrt. Sie wird sie auf lange Sicht nur besser verteilen, was soviel heißt wie: innerhalb der europäischen Grenzen gilt dann wohl jeder Job als zumutbar.

(1) Kant, Immanuel, „Zum ewigen Frieden“, Reclam, Ditzingen, 1999
(2) Den Text gibt’s unter: www.european-convention.eu.int und im Europahaus, Katharinenstraße 11 (über der sixtina) Mo-Fr 12.30-17.00 Uhr auch als Freiexemplar
(3) Der Widerspruch der liberalen Vorstellungen von Autonomie (Völkerrecht) und Ordnung (Völkerstaat) kehrt hier wieder.
(4) Warum soll ich Schröder wählen, wenn er doch nur auf die Verantwortlichkeit der EU verweist.
(5) Österreich zeigt beim Streit um eine Verlängerung des auslaufenden Transitvertrags wie es geht: Eine Fraktions- und Kantons-übergreifende Koalition wird im nationalen Feuer geschmiedet, um die drohende Gefahr von Einnahmeverlusten und (mensch höre und staune) Umweltschäden von der Nation noch abzuwenden.
(Die schwierigenVerhältnisse der ökonomischen Verflechtung wurden im Text weitestgehend u. zugunsten einer klaren machtkritischen Perspektive ausgeblendet.)

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