Freikörper unerwünscht? Burka für Männer!

Ein Nachtrag zum Reclaim the Fields/ Anti B87n – Camp; Juli 2014

Liebe LeserInnen,
wir, die Redaktion, haben das Gefühl, dass der folgende Text kontroverse Diksussionen auslösen kann. Er wurde uns zugeschickt und wir fanden die persönliche Perspektive auf geschlechtsspezifische Dresscodes interessant. Wie immer hoffen wir natürlich auf diskursfördernde LeserInnenbriefe.


Sehlis, ein kleines Dörfchen nordöstlich von Leipzig. Das Netzwerk „Reclaim the Fields“ und eine Bürgerinitiative gegen den geplanten Bau der Bundesstraße B 87n hatten zu einem einwöchigen Aktions- und Protestcamp eingeladen. Nachdem ich es leider erst am Freitag zum Camp geschafft hatte, verpasste ich wegen einer Orga-Aufgabe auch noch das Plenum. Beim Anstehen an der Essensschlange dann plötzlich doch die ersten warmen Sonnenstrahlen des Tages. `Hemd aus!` war mein Reflex, denn ich liebe warme Sonne auf der Haut. Es dauerte keine Minute, bis eine Bekannte auf mich zukam und mir sagte, das Camp sei ein `Kein-freier-Oberkörper-Bereich`. Ich war ziemlich geschockt und weigerte mich spontan, mein Hemd wieder anzuziehen. Als ich dann am Tisch saß, kam eine andere Frau, jetzt mit dem orangefarbenen Armband des Awareness-Teams, und forderte mich ebenfalls auf, meinen Oberkörper zu bekleiden. Ich solle Rücksicht nehmen. Einige Frauen würden sich beim Anblick nackter biologisch männlicher Oberkörper unwohl fühlen, da es sie an sexuelle Gewalt gegen Frauen erinnern würde. Und überhaupt: Frauen könnten ja auch nicht einfach ihren Oberkörper freimachen. Das Plenum hätte es nach langen Diskussionen so beschlossen und wenn ich mich nicht daran halten wollte, wäre das wohl nicht der richtige Platz für mich. Ich verteidigte mich ebenso empört wie erfolglos. Irgendwie macht es einen fassungslos, mit dem Rücksichtnahme-Argument in so einer ureigenen und elementaren Sphäre wie der der Kleidung angegriffen zu werden. Erinnerungen schossen hoch, an eine Zeit, in der ich mit buntem Iro und zerfetzten Klamotten herumlief und meine Mutter mich inständig bat, doch Rücksicht auf sie zu nehmen und sie mit meinem Aussehen nicht so zu verletzen. Damals die flehenden, nun die fordernden Augen. Textile Rücksichtnahme scheint mein Thema zu sein. Der Versuch einer theoretischen Auseinandersetzung …

Freiheit als Individuum und Rücksicht als Mitglied eines sozialen Gefüges sind seit jeher Spannungsfelder menschlichen Lebens. Meine Freiheit endet dort, wo ich andere Menschen schädige, belästige, behindere, whatever. Naturgemäß herrschen über die konkreten Sachverhalte oft unterschiedliche Auffassungen der Beteiligten. Im Idealfall kommt es via Aushandlung zu einer gütlichen Einigung, meist zu einem Kompromiss. Am Ende ist die Grenze meiner Freiheit sowie die Grenze meiner Rücksichtnahme in einem zeitlichen und situativen Kontext definiert. Wichtig dabei ist, dass ich mich mit der Rücksichtnahme auch identifizieren kann, sie mir nicht als Schikane oder Anmaßung vorkommt. Im Fall von Nacktheit zum Beispiel finde ich ein Ideal anstrebenswert, welches den nackten Körper grundsätzlich bejaht und die Einschränkung erklärungsbedürftig macht. Andersherum wäre es für mich eben nicht akzeptabel, weil ich es nicht verstehen würde, warum Menschen per se ein Problem mit ihrem nackten Körper haben sollten. (In diesem Zusammenhang sollte mensch sich auch mal an die jahrzehntelangen Kämpfe erinnern, beispielsweise öffentlich nackt baden zu dürfen.) Die „Lust am Nacktsein“ als „Gegenbewegung zu einem als „muffig“ empfundenen Bürgertum und einer beengten, städtischen Lebens- und Wohnsituation mit wenig Luft und Licht“ (1) ist mir persönlich sehr sympathisch.

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis von Freiheit und Rücksichtnahme im konkreten Fall? Beim RTF-Camp sollte das Unwohl-Fühlen der betroffenen Frauen schwerer wiegen als mein Unwohl-Fühlen (und das aller anderer betroffener Menschen), bei hochsommerlichen Temperaturen meinen Oberkörper nicht frei machen zu dürfen. Welches Ideal liegt dieser Argumentation zugrunde? Es ist das der größtmöglichen Rücksichtnahme, zumal in einem so sensiblen Bereich, wie dem der sexuellen Gewalt gegen Frauen. Orientierung an der/dem Schwächsten, Sensibelsten, Schutzbedürftigsten. Als ad hoc-Problemlösung wird darüber hinaus das Ziel der Angezogenheit proklammiert. Kleidung bedeckt nackte Haut, Synonym für Körperlichkeit und Sexualität, eben auch für Missbrauch von Sexualität. Möglichst umfassende Kleidung ist also gut, viel nackte Haut ist schlecht. Bis einfach alle Frauen mit männlicher Nacktheit klar kommen, müssen wir da halt durch.

Aber warum dann eigentlich nur den nackten Oberkörper verhüllen? Alles Sichtbare am Mann erinnert doch sichtbar an Mann, oder? Es könnte doch genauso gut um die nackten, stark behaarten, Beine oder Arme gehen, die die Sommergarderobe ans Licht bringt? Oder um den Bart? Muss der ab, wenn frau sich unwohl fühlt? All das gehört explizit zu Männern und könnte damit an männliche Gewalt erinnern. Würde eine Frau Rücksichtnahme fordern, dann wäre es soweit. Dann wäre die Burka für Männer wohl irgendwann die einzig logische Konsequenz?! Und was wäre denn auch schon dabei? Mal die paar Tage? Das lässt sich doch aushalten. Immerhin begleitet dieser Sack viele Frauen weltweit ihr ganzes Leben! Und noch dazu in viel wärmeren Ländern! Also habt euch bloß nicht so! Und ihre Redebeiträge beim Workshop oder bei der Kundgebung sollten Männer auch lieber von Frauen vorlesen lassen. Schließlich könnte auch eine männliche Stimme …

Ja, sorry, ich bin polemisch geworden. Denn wo ist die Grenze? Wer wird die nächste Forderung stellen, die unser Leben tendentiell beengter, anstatt befreiter macht? Kann Rücksichtnahme Selbstverleugnung als Basis haben? Schon die Forderung nach einem bedeckten Oberkörper in einem Sommercamp auf dem Land überschreitet die Grenze der Rücksichtnahme. Als Mensch bewege ich mich normalerweise immer in einem Raum, in dem ich mich mit anderen Menschen und den natürlichen Bedingungen arrangieren muss. Soll das für Frauen etwa nicht mehr gelten? Ich bin weiterhin immer mit einer Welt konfrontiert, die nie vollkommen meinen Erwartungen entspricht, die oft sehr unangenehm und sogar verletzend sein kann. Es ist einer der klassischen Irrwege emanzipatorischer Bewegungen, den jeweils Versklavten und Entrechteten quasi das Himmelreich auf Erden zu versprechen, wenn, ja wenn, erst Feind X oder Phänomen Y besiegt ist. (2) Die Erwartung einer Welt, die mich nicht verletzt, an der ich mich nicht reiben und abarbeiten muss, ist naiv. Biologische Männer gehören nun mal zu dieser Welt. Ergo muss frau sich mit ihnen auseinandersetzen, und zwar auf Basis einer grundsätzlichen Akzeptanz, auf Basis von Freiheit und Ratio und nicht auf Basis von Anmaßungen und Verboten. Hätte im Camp nicht ein sensibler Raum sein können, auch am femininen Unwohl-Fühlen zu arbeiten?

Neben dem Rücksichtnahme-Argument kam immer wieder das `Glotzargument`. Männer würden ja glotzen, wenn Frauen ihren Oberkörper frei machen. Da würden die Männer im Camp auch keine Ausnahme sein. Wohlgemerkt: Es handelt sich um jene Menschen, mit denen frau wahrscheinlich gerade noch im Workshop gesprochen hat, mit denen frau oft in gemeinsamen Wohnprojekten zusammenlebt, gemeinsam politische Arbeit macht, gemeinsam die Vokü schmeißt … Allen, allen steht der Mund offen, sobald sie paar nackte Titten sehen! Menschen nicht mehr als komplexe Persönlichkeiten wahrzunehmen, sondern auf ihre sexuelle Sphäre zu reduzieren, ist, mit Verlaub, sexistisch. Warum `glotzen` diese Männer eigentlich nicht am FKK-Strand? Nicht mal der, per Augenschein und Ohrenklang identifizierte, ganz gewöhnliche Durchschnittsmann glotzt am Strand! Jedenfalls nach meinen Erfahrungen. Alle scheinen entspannt zu sein. Gerade linke feministische AktivistInnen, die bei jeder Gelegenheit die sozio-kulturelle Konstruktion von Geschlechterrollen betonen, sollten doch klar sehen, dass es sich beim `Verbot` für Frauen, mit freiem Oberkörper rumzulaufen, um einen geradezu idealtypischen Fall dieser kulturellen Vorgaben handelt. Zugegeben: Es würde sehr viel Mut erfordern, die erste Frau oder eine der ersten Frauen mit freiem Oberkörper zu sein. Allen und damit auch sich selbst die Freiheit zu verbieten, scheint einfacher zu sein. Frauen, die eigentlich den Mut hätten, das Tabu anzugreifen, werden so ebenfalls ausgebremst.

Abschließend soll hier noch ein technischer Aspekt erwähnt werden: Über passende und zweckmässige Kleidung haben sich Menschen schon früher ihre Gedanken gemacht. Sie erfanden für den weiblichen Oberkörper an warmen Tagen den Bikini. Was ist eigentlich damit? Dieses Stück Textil sollte doch genügen? Oder wird mensch dann sagen: „Bikinis könnten aber unter Umständen zu aufreizend wirken.“ Dann weiß ich auch nicht weiter. Dann lasst uns alle graue Burkas anziehen! Egal ob Mann, Frau oder wie immer sich Menschen definieren. Gleichentrechtigung eben.

A. Schmidt

(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Freikörperkultur
(2) Vgl.: Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte; Reinbeck bei Hamburg; 1969

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