Gesamteuropäische Schreckgestalt

Ein Gespenst geht um in Europa – nämlich das Gespenst des „Euro­anar­chismus“. Momentan spukt es freilich nur in den Fluren der europäischen Sicherheitsbehörden herum. Und obwohl es dort gar schröcklich mit den Ketten rasselt, kann es über seinen gespenstertypischen Mangel an Substanz nicht hinwegtäuschen.

So sei der „Euroanarchismus“ nur ein „Arbeitsbegriff“ des Bundeskriminalamts, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage* der LINKEN erklärte: „Der Komplex der ‘europäischen Anarchisten’ bzw. ‘Euro-Anarchisten’ ist dem BKA seit fast vier Jahren bekannt.“ Allerdings sei die Bezeichnung bislang nicht definiert – vor allem weil in Deutschland „keine Ausprägung des Phänomens ‘gewaltbereiter Anarchisten’ mit organisierten Strukturen und terroristischen Straftaten zu beobachten“ ist, für das der Begriff irgendwie stehen soll.

Die europäische Polizeibehörde Europol macht sich weniger Umstände beim Definieren: Für sie bezeichnet der Begriff „Euroanarchismus“ die ganze Spannbreite von „anti-capitalism, anti-militarism, anti-fascism and the ‘No Border’ campaign“, also schlicht das gesamte linke/autonome Spektrum, das damit als europaweite, potentiell terroristische Vereinigung halluziniert wird.

Damit die Spukgestalt ein wenig Fleisch auf die Rippen bekommt, veranstaltete Europol am 25. April 2012 eine Konferenz in Den Haag, an der Behör­den­vertreter_innen aus 14 europäischen Ländern teilnahmen. Gesprächsthema war die Europol-Datenbank „Dolphin“, in der die Polizeibehörden der verschiedenen EU-Staaten Informationen über „extremistische“ und „terroristische“ linke Zusammenhänge sammeln.

Das betrifft nicht nur solche Gruppen, die in den letzten Jahren tatsächlich mit Anschlägen auf sich aufmerksam machten, etwa die italienische Federazione Anarchica Informale (siehe FA! #11) oder die griechische „Verschwörung der Feuerzellen“. Ein Thema waren auch „strafrechtlich relevante“ Aktionen der italienischen No-TAV-Bewegung, die sich gegen eine geplante neue Zugstrecke quer durch die Alpen zur Wehr setzt, und aus diesem Kontext mög­liche „Straftaten gegen Schienennetz­werke“. Aber auch das schon erwähnte anti­ras­sis­­tische No-Border-Netzwerk gilt den Sicherheitsbehörden mindestens als gefährlich und potentiell von gewaltbereiten Anarchist_innen unterwandert.

Es könnte also sein, dass die terroristische Spukgestalt des „Euroanarchismus“ künftig an Kontur gewinnt: Ab Mai 2012 sollen die gesamten Europol-Dateien neu sortiert werden, wobei dann genau zwei Oberkategorien zur Verfügung stehen: „Organisierte Kriminalität“ und „Terrorismus“. Dreimal darf man raten, in welcher Kategorie sich die No-TAV– und No-Border-Aktivist_innen dann wiederfinden…

(justus)

* als PDF zu finden unter www.andrej-hunko.de/start/download/doc_download/223-kriminalisierung-von-internationalem-linken-aktivismus-und-anarchismus-durch-europol

Schreibe einen Kommentar