Gewerkschaft 2010 (Teil 1)

Zur Lage und Funktionsweise der Gewerkschaften in der BRD heute

 

Die mit der Hartz/Agenda 2010 einhergehenden Diskussionen um Sozialabbau, Sozialdemokratie und Sozialismus, zeugen vom mangelnden politischen Bewußtsein in weiten Teilen der Bevölkerung, die sich politische Aktion nur nach als Stimmkreuzchen vorstellen kann. Deshalb soll hier und im folgenden Heft ein etwas ausführlicherer Exkurs in die Geschichte und Problematik der Gewerkschaften – ehemals wirkungsmächtige Institutionen politischer Aktionen – gegeben werden.

1. Gewerkschaft 2010 – ein Schritt vor, zwei zurück

In diesem Artikel geht es um ganz allgemeine Betrachtungen zur Lage der Gewerkschaften, besonders in der BRD. Es geht nicht so sehr um den einzelnen engagierten Gewerkschaftler oder die berechtigten Interessen der Lohnarbeitenden. Hier geht es um die prinzipielle und wissenschaftliche Einordnung der Gewerkschaften an Hand von Phänomenen, die jedem alltäglich einsichtig sind. Es soll nicht moralisiert, sondern nüchtern der Gang der Dinge analysiert und ausgewertet werden. An Hand unserer Betrachtungen können wir auch die Wurzel vieler Mißverständnisse und Fehlanalysen aufdecken, wenn es um die Interessen von Menschen geht. Etwas, was zu verstehen ja ganz viele Leute vorgeben – und vor allem besser wissen wollen, was für uns alle gut ist, als wir selbst. Das reicht von linksradikalen Sekten bis zum Bundestag, der ja rechtskräftig unsere Interessen beschließt. Als wichtiges Mittel stellt sich im Folgenden die scheidende Betrachtung der Menschen einerseits als Bürger und andererseits als Arbeiter dar. Wir betreiben also hier eine Analyse der verschiedenen Charaktermasken derselben Menschen. So haben Bürger und Arbeiter gleiche, aber auch völlig unterschiedliche, sich widersprechende Interessen. Diese lassen sich nun in Grundzügen besonders gut an Hand ihrer institutionalisierten Interessenvertreter, der Gewerkschaften, zeigen.

1.1. Gewerkschaft der Lohnabhängigen

Von Seiten des (Lohn)Arbeiters hat die Gewerkschaft eine klare Funktion. Sie ist Ausdruck des gemeinsamen Interesses der Arbeiter an Arbeitsbedingungen auf Höhe der Zeit (z.B. Arbeits- und Kündigungsschutz) und einer irgendwie als “gerecht” empfundenen Entlohnung, also Arbeitszeit und Lohnhöhe. Diese Rahmenbedingungen werden in Gesetze gegossen, bzw. in Verträgen zwischen den Gewerkschaften und den Körperschaften des gemeinsamen Interesses der Unternehmer für eine bestimmte Zeit fixiert (Tarifvertrag). Für den ordnungsgemäßen Ablauf von Auseinandersetzungen der beiden Parteien in diesem Spiel gibt es eine Fülle von gesetzlichen Regelungen, bis in die Statuten der Gewerkschaften hinein.

Was sind nun die Grundlagen, auf denen dieses Modell funktioniert? Wenn ich Hoffnung auf einen Anteil auf gesellschaftlichen Reichtum habe, dann muß es:

1. ein Recht auf privates Eigentum (eigener Hände Arbeit) geben und

2. das Recht, einen Vertrag zu schließen (Vertragsfreiheit).

Also habe ich die Freiheit das Unternehmen zu wählen, für das ich arbeiten will, und kann die Bedingungen aushandeln, zu denen ich arbeite. Der Lohn und alles, was sich daraus machen läßt, ist mein Privateigentum, über das ich frei verfügen kann und dessen Schutz gewährleistet ist. Diese Freiheiten haben wir alle und das sind die bürgerlichen Freiheiten, wie sie nicht zuletzt im Grundgesetz verankert sind. Es sind z.B. keine Freiheiten des Feudaladels, welcher nach Gutdünken auf seinem Stück Land Recht sprechen konnte, das ist vorbei. Also Bürger sein heißt hier einerseits Staatsbürger und Rechtssubjekt, andererseits auch Anerkennung der bürgerlichen, demokratischen Spielregeln. Diese Spielregeln werden zu den eigenen gemacht und sie werden als die natürlichen und notwendigen vertreten. Man hat ein Selbstbewußtsein als Bürger, mit Rechtssicherheit und dem Schutz vor Willkür. Das ist in diesem Bezugssystem auch richtig. Der Arbeiter ist so gesehen ein Bürger, wie jeder andere auch, mit seinen Rechten und Pflichten. Wessen Interessen vertritt denn nun die Gewerkschaft? Das sieht man am besten, wenn man in der Geschichte zurückgeht und sich die einfachen Formen ansieht.

1.2. Kurz zur Geschichte

Wie der Name ‘Gewerkschaft’ schon sagt, vertraten diese Vereinigungen im Deutschen Kaiserreich vornehmlich Interessen der Meister, Handwerker, der proletarisierten Handwerker bzw. der Facharbeiter. Sie war also bestimmt durch die Interessen einer privilegierten Schicht innerhalb der Arbeiterschaft. Am Anfang durften auch keine einfachen Arbeiter in die Gewerkschaften eintreten. Im Gegensatz dazu sagt der Name ‘Trade Union’, wie die Gewerkschaften im angelsächsischen Raum heißen, dass diese Art Differenzierung so nicht gegeben war. Man muss allerdings bemerken, dass in den USA z.B. die Gewerkschaften eine völlig andere Entwicklung genommen haben, als in Europa, von Asien ganz zu schweigen. Hier gibt es erhebliche Unterschiede. Auf jeden Fall ist zu sagen, dass die Gewerkschaft als solches einen gewaltigen Fortschritt für die Arbeiter darstellte. Da sie erstmals zusammen mit der Arbeiterpartei den Interessen der Arbeiter eine gesellschaftsweite Organisationsform gab, die in der Folgezeit immer stärker politische Relevanz bekommen sollte. Im Deutschen Reich also vertraten die Gewerkschaften die sehr spezielle Interessen der Besser- und Bestqualifizierten. Bis heute ist es ebenfalls so, dass nichtarbeitende Arbeiter keine Vertretung in der Gewerkschaft hatten und haben.

Das heißt, dass die Parzellierung mit der Borniertheit, Beschränkung auf die eigenen Interessen, ein Grundmoment in den deutschen Gewerkschaften ist und damit die Konkurrenz innerhalb der Arbeiterschichten ausdrückt. Sie schleppt somit den Keim der alten feudalen Kleinteiligkeit der unterentwickelten deutschen Verhältnisse mit sich. Die anfängliche Zusammensetzung der Gewerkschaftler bedeutet aber auch, dass der Handwerkerstolz, und überhaupt der Stolz auf die eigene Arbeit ein konstituierendes Moment darstellen. Das biblische ‘Du sollst das Brot im Schweiße Deines Angesichts brechen’ ähnelt nur zu sehr dem gewerkschaftlichen ‘Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen’. Aber dieser Aspekt gerade der deutschen Arbeitsmoral, und überhaupt des Nationalstolzes bis Patriotismus als Teil gewerkschaftlichen Selbstverständnisses ist eine andere Ebene. Dies bricht erst im Ersten Weltkrieg als offener Widerspruch auf.

Wie aber sahen nun die Interessen aus, die die Gewerkschaften zu vertreten hatten? Zuerst einmal ging es, zusammen mit den Arbeiterparteien, um ganz grundsätzliche demokratische, also bürgerliche, Rechte, wie freies, allgemeines und gleiches Wahlrecht, gegenüber dem feudalen Ständewahlrecht. Das ist grundsätzlich gegenüber der damaligen hinterwäldlerischen Entwicklung im Deutschen Kaiserreich ein Fortschritt. Es ging um den Sonntag als freien Tag, Pausen, Einschränkung von Frauen- und Kinderarbeit, Festlegung von Obergrenzen für die Arbeitszeit. Allgemeine Nothilfeorganisationen hingegen für Arbeiter setzen sich nicht durch. Dagegen gab es wohl solche, deren Hilfe an die Betriebszugehörigkeit gebunden blieb und damit als Disziplinierungsmittel diente. Die Arbeitsbedingungen in der Industrie waren teilweise katastrophal und unterlagen keinerlei gesetzlicher Regelung und Kontrolle. Der Unternehmer war absoluter Herrscher in seinem Privateigentum, der Fabrik, über sein Privateigentum, weil bezahlt, die Arbeiter. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (1863) Lasalles z.B. wollte seinen Verbündeten lieber im preußischen Obrigkeitsstaat sehen, als im liberalen Bürgertum. Politisch gesehen kann man sagen, dass die Gewerkschaften teilweise eine sehr unrühmliche Rolle gespielt haben. Gerade die ‘Freien Gewerkschaften’ waren von ihrer Ausrichtung her streng konservativ. Ihre Ausrichtung war, wie sie heute noch ist, dem Arbeiter einen erträglichen Platz in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft zu verschaffen, nicht diese abzuschaffen. Es war doch das Vaterland, um das es ging. Man war doch kein ‘vaterlandsloser Gesell’. (Natürlich ist der Proletarier ökonomisch betrachtet vaterlandslos.)

Wie auch heute lag damals ein Hauptaugenmerk auf den Gewerkschaftskassen, welche ja jeden Arbeitskampf und die Nothilfemaßnahmen, das Unterstützungswesen zu finanzieren hatten. Richard Müller sagte dazu:

Die Gewerkschaftsführer mußten den Inhalt ihrer Kassenschränke bei jedem Kampfe berücksichtigen. Sie gingen aber weit darüber hinaus und verlegten den ganzen Schwerpunkt ihrer Entscheidung auf diese Stelle. Wesen und Inhalt der Gewerkschaftsbewegung wurde dadurch bestimmt.“

(Richard Müller ‘Vom Kaiserreich zur Republik’, S. 19)

Politische Fragen durften von den einfachen Gewerkschaftsmitgliedern im Gegensatz zu den Gewerkschaftsführern nicht diskutiert werden. Die Führungen hatten immer Angst, dass ihnen das Heft aus der Hand gleiten könnte und die Mitglieder nicht mehr unter ihrer Kontrolle wären. Ihr Einfluß auf die Sozialdemokratie war immer ein mäßigender, z.B. 1906 beim Abwenden politischer Massenstreiks auf dem Mannheimer Parteitag. Es wäre noch eine Menge über Streikverbote, Burgfrieden und den revisionistischen Einfluß auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion dieser Zeit zu sagen. Aber das ist die Aufgabe einer anderen Arbeit. Hier ging es nur darum, ein kurzes Schlaglicht zu geben.

1.3. Zwischen Klientel, Eigeninteresse und Gemeinwohl

Kommen wir nun zu den unterschiedlichen Interessen, welche die Gewerkschaften vertreten. Betrachten wir sie dazu unter jeweils verschiedenem Blickwinkel. Es gibt für verschiedene Branchen verschiedene Gewerkschaften. Diese sind nun die Funktionsträger der dortigen Arbeiter. Schon auf organisatorischer Ebene findet eine Trennung statt und die gemeinsamen Interessen der Arbeiter äußern sich nur in ihren brancheneigenen Forderungen. Weiterhin existiert in der BRD ein Verbot solidarischer Streiks von Arbeitern in verschiedenen Branchen füreinander. Generalstreik ist natürlich ebenso verboten. Denn Generalstreik gilt als politischer Streik und nicht mehr als einer für die vom Staat anerkannten Interessen der Lohnabhängigen. Welche Arbeiter in welcher Gewerkschaft in Vertretung stehen, ist ebenso rechtlich genau geregelt. IG-Metall-Vize Peters [jetzt Vorsitzender, Anm. d. Red.] im ZDF: „Fernwirkungen von Streiks sind nicht das Ziel, aber auch manchmal nicht zu vermeiden“ in der Diskussion um den gerade verlorenen Metallerstreik.

In diese Parzellierung fällt auch das Gerede von ‘ungerechten’ und ‘unsolidarischen Streiks’, bei denen Firmen betroffen sind, deren Belegschaft gar nicht streikt. Zum Beispiel der Cockpit-Streik (er brachte gut 20% Lohnerhöhung für diese Piloten) hat eine wahre Flut von Empörung ausgelöst, ohne dass auch nur die Idee erschien, gleichlautende Forderungen an den eigenen Unternehmer zu stellen. Diese Empörung war einfach nur die Wut und Enttäuschung über sich selbst und seinen eigenen Gewerkschaftsapparat im Deckmantel eines herbeihalluzinierten Gemeinwohles. Das Bewußtsein gemeinsamer Interessen aller Arbeiter über alle Branchengrenzen hinweg, ist so außer Reichweite gehalten. Ihren Köpfen nach sind sie z.B. vorrangig nicht Arbeiter, vielleicht Metaller, aber bestimmt BWM-Mitarbeiter, die Stolz auf “ihren” Betrieb sind. Diese anerzogene und ständig bestärkte Beschränktheit findet Ausdruck in der eigenen Wahrnehmung der eigenen Interessen. Diese Parzellierung ist sowohl organisatorisch, als auch in den Köpfen verwirklicht. Bürger haben zu Recht nur die gemeinsamen Interessen ihres Eigentums der Vertragsfreiheit sowie gesicherter Existenz. Aber mehr noch: Die Parzellierung der Gewerkschaften ist die Institution gewordene Konkurrenz unter den Arbeitern. Nur so und mit der Angst läßt sich erklären, weshalb man sich nicht für andere freut, wenn sie mehr Lohn erkämpft haben und es dann selbst als Ansporn nimmt, dies seinerseits zu fordern. Sie benehmen sich halt wie die Bürger, die ihre Privatinteressen für sich selbst vertreten, z.B. einen Zaun um ihren in Privatbesitz befindlichen Garten zu ziehen. Freiheit, Gleichheit und Konkurrenz sind nicht trennbare Bestandteile der Bürgerlichkeit. Jeder kämpft gegen jeden und nur, wenn es nicht anders geht, findet man sich zum Arbeitskampf zusammen. Solange aber hofft man, dass es einen selbst nicht trifft. Dies beinhaltet aber, dass es jemand anders treffen muss, da man aus Erfahrung weiß, wie der Hase läuft. Man zittert um seinen eigenen, als seinen Besitz betrachteten Arbeitsplatz, weil er das einzige unter den heutigen Bedingungen ist, was die bürgerliche Existenz sichern kann.

Laut Telekolleg (1) ‚Volkswirtschaftslehre‘ ist die Aufgabe der Gewerkschaften auch die, die konkreten Interessen der Arbeitenden zu vertreten. Damit sind die Gewerkschaften in ihrem Tun, die Löhne, Absicherungen zu erhöhen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, genau den Interessen der Arbeitslosen entgegengesetzt. Der Grund ist schlicht, dass damit die Kosten von auch neu zu schaffenden Arbeitsplätzen sich erhöhen und deswegen die Unternehmen keine schaffen würden. Also ist das Interesse der Arbeitslosen im Wesentlichen darauf begrenzt, einen Arbeitsplatz zu erhalten.

In dieser ganzen Konstruktion sehen wir ein weiteres Dilemma. Nicht nur werden die Arbeiter in Brancheninteressen parzelliert gehalten, sondern auch von den keinen Arbeitsplatz habenden Arbeitern, die nun Arbeitslose heißen, getrennt. Diese haben überhaupt keine Vertretung eines gemeinsamen Interesses. In Wirklichkeit haben natürlich die Arbeiter als Bürger immer das gemeinsame Interesse nach einem guten Arbeitsplatz, ob sie gerade arbeiten oder arbeitslos sind. Die Arbeitslosen wollen genauso gute Arbeitsplätze erhalten wie alle anderen auch. Nur wird durch den Druck auf sie erreicht, dass sie immer schlechtere in Kauf nehmen (müssen). Das ist eine Spirale nach unten, da sie hiermit ihrerseits unfreiwillig Druck auf die anderen Arbeitsplatzbedingungen (z.B. Billiglohnsektor) nach unten ausüben. Also strukturell geht hier die Reise mittelfristig nach unten, im Interesse des Kapitals selbstverständlich. Damit sinken auch wirklich die Kosten der Arbeitsplätze tendenziell und damit steigt dies bezüglich der Profit. Man sieht ganz klar in wessen Interesse diese Einteilung der Arbeiter ist.

An dieser Stelle tritt auch wieder die Konkurrenz unter den Arbeitern, als Konkurrenz um den eigenen Arbeitsplatz, also die eigene bürgerliche Existenz, an die Oberfläche. ‘Es geht doch um MEINEN Arbeitsplatz.’ Aber ebenso klar ist, dass die meisten nicht Lohnarbeiten wollen würden, wenn sie nicht müssten. Sie brauchen keinen Arbeitsplatz, sondern unter den heutigen Bedingungen einfach das Geld, um ordentlich leben zu können. Die Kapitalseite weiß das und fordert darum das Abstandsgebot zwischen Grundversorgung und geringstem Lohn. Der Abstand soll so hergestellt werden, dass die Grundversorgung (Sozialhilfe) abgesenkt und nicht der geringste Einstiegslohn erhöht wird. Nicht Arbeit soll sich wieder lohnen, sondern Arbeitslosigkeit soll sich nicht lohnen.

Wie wir also gesehen haben, ist die branchenartige Teilung der Gewerkschaften nicht nur Ausdruck der wirklich unterschiedlichen Interessen von z.B. Chemiearbeiter und Bürokraft. Sie zementiert gleichzeitig die Trennung in den Köpfen und nicht zu vergessen die Trennung in den realen Arbeitskämpfen. Letztere ist sogar juristisch verbürgt. Sie fungiert in der Konkurrenz der Arbeiter untereinander. In anderen Ländern z.B. Frankreich oder Italien sind solidarische Streiks Normalität. Dort herrscht auch auf Grund der Geschichte aber insbesondere der anderen Praxis im Streik selbst, ein anderes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Wie man am Beispiel Ver.di sieht, schließen sich Gewerkschaften unter dem stärker werdenden Druck, wie andere Unternehmen auch zusammen, fusionieren. Hier wird es dann wieder schwerer, die Aktionen und Interessen so zu teilen, dass dies den Arbeitern plausibel ist, wenn sie schon in der selben Gewerkschaft sind. Ebenso kann jeder sehen, dass er sehr schnell selbst arbeitslos werden kann. Dies führt aber im Allgemeinen zu einer Verschärfung der Konkurrenz unter den Arbeitern und fast nie zu einer Solidarisierung.

Wie bei jeder größeren Organisationsform gibt es auch hier ein wichtiges Eigeninteresse des Apparates. Das Interesse des Führungsstabes der Gewerkschaft ist ganz klar Führungsstab zu bleiben und sich somit an diesem exklusiven und besserbezahlten Arbeitsplatz zu halten. Sie haben da keine große Lust auf Veränderungen. Wie die Realität zeigt, gibt es große Differenzen zwischen den Forderungen der sogenannten Basis, also den Arbeitern selbst und dem, was schließlich in offizieller rechtlicher Form, von den Verhandlungsführern der Gewerkschaften als Forderungen der Arbeiter ausgegeben wird. Die Gewerkschaftsführung ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor mit Einfluß und rechtlich abgesichertem Vertretungsanspruch. Sie haben als Führungsschicht, wie jede andere Führungsschicht auch, mehr zu verlieren als diejenigen, die zu vertreten sie vorgeben. Die Gewerkschaften müssen selbst nach betriebswirtschaftlicher Weise handeln, haben innere Hierarchien und Lohnverhältnisse. So kann man sie durchaus als ein Unternehmen betrachten, welches mit bestimmten Interessen handelt und in einem abgegrenzten und verrechtlichtem Gebiet operiert. Der Widerspruch wird eklatant, wenn die Gewerkschaft selbst Leute entlässt.

Dann gibt es noch das Interesse der Gewerkschaft als solcher, an ihrer erfolgreichen Weiterexistenz. Das Bewußtsein dieses Interesses führt dazu, dass die Forderungen der Basis schon einmal gebrochen und gefiltert werden. Wer will schon einen teuren Arbeitskampf riskieren, ohne die Aussicht auf Erfolg zu haben? Da könnte eine Menge Prestige verloren gehen. Außerdem steht für viele in Lohnabhängigkeit bei der Gewerkschaft selbst die Existenz auf dem Spiel, das heißt die Existenz ihres Unternehmens, Arbeitgebers. Aber auch die Geschichte (2) hat z.B. im Ersten Weltkrieg gezeigt, dass den deutschen Gewerkschaften die Gewerkschaftskasse oftmals näher war, als sich in Konfrontation mit dem Kaiserstaat zu begeben. Es gibt in der BRD, wie in vielen Ländern ein Verbot sogenannter wilder Streiks, dass heißt solcher, die im wesentlichen ohne die Gewerkschaft stattfinden, von den Arbeitern selbst ausgehen. Gerade als einzigste Großorganisation kann sie in der Organisierung viel Gegengewicht einbringen. Die Gewerkschaft ist somit nicht an der Selbstorganisation nicht nur nicht interessiert, sondern untergräbt sie systematisch. Jede Selbstorganisation oder eigene, direktere Formen den Arbeiterinteressen Ausdruck zu verleihen, stellt nämlich den Vertretungsanspruch der Gewerkschaft als Gewerkschaft selbst in Frage. Dies gefährdet ihre komfortable Weiterexistenz.

Alleine schon durch die Form der Organisierung und der verschiedenen Interessenschichtungen wird klar, dass es von der Forderung zum Streik ein langer Weg durch die Instanzen ist. Jeder Arbeiter sieht sich seinem Interessenunternehmer Gewerkschaft genauso abstrakt vereinzelt gegenüber, wie dem eigentlichen Unternehmen, gegen welches ihm die Gewerkschaft beistehen soll. Die unterste Schicht der Gewerkschaftsfunktionäre, welche gerade die mit dem härtesten Job sind in der Hierarchie, müssen dies oftmals ausbaden, wenn die Kollegen kommen. So gesehen ist die Gewerkschaft auch ein Mittel und Garant der Stabilität, weicher Forderungen und kurzer Arbeitskampfmaßnahmen.

Was also der Betriebsrat im Kleinen ist die Gewerkschaft im Großen: ein Ausgleich der Interessen der formal gleichen Vertragspartner der Arbeitsverträge: Unternehmer und Arbeiter. Sehen wir uns die Argumentationen der Gewerkschaften an, so findet man Formulierungen wie ‘kostenneutral’ oder ‘den Produktivitätssteigerungen angemessen’. Was das Argumenteschmieden hervorbringt ist, dass man den Unternehmen mit den Argumenten der Wirtschaftswissenschaften und der Statistik vorrechnet, dass die gestellten Forderungen nicht weh tun, oder bezüglich bestimmter ökonomischer Parameter “gerecht” oder “angemessen” wären. Da bleibt die eigene Forderung in einem Wust an Berechenbarkeit und Statistik stecken und man muß sich vielleicht sagen lassen, dass die eigenen Interessen unrealistisch seien. Gerecht ist also ein bestimmter mathematischer Faktor bezüglich einer durchschnittlichen wirtschaftswissenschaftlichen Bezugsgröße. So die Realität. Spätestens hier, an der Oberfläche der wirklich gestellten Forderungen und durchgesetzten Prozente sollte einem klar werden, dass wohl nicht die Interessen der Arbeiter alleinig vertreten werden.

(TEIL 2 folgt im nächsten Heft)

(1) www.telekolleg.de im Kurs Volkswirtschaftslehre bekommt man sehr einfach die Sicht der offziellen politischen Ökonomie geboten und kann sie in all ihrer Schlichtheit bewundern.
(2) Richard Müller : “Vom Kaiserreich zur Republik, 1925, Band I” kann man eine Menge geschichtlicher Fakten bezüglich dem reaktionären Verhalten der Gewerkschaften nachlesen: „ Von SPD und Gewerkschaftsapparat im Stich gelassen, setzen die proletarischen Massen zwangsläufig auf selbstständige Organisierung.“
* Zum Thema „Gewerkschaften“ von Seiten linker Gewerkschaftler: ‘www.labournet.de’.

Theorie & Praxis

Schreibe einen Kommentar