Israel im Krieg

Ansichten aus einer Israel-Reise während der Gaza-Offensive „Protective Edge“, Juli 2014

Der folgende Text ist eine Reisebericht und kein journalistischer Report. Er ist kaum recherchiert und beschreibt hauptsächlich eigene Erfahrungen und die Aussagen bestimmter Personen in Israel. Er kann keine Beschreibung der Leiden und Zerstörungen, Emotionen und Stimmungen auf der Seite der Palästinensergebiete liefern, da der Autor Julian Bindewald nicht dort war.

Der Luftschutzalarm wirft mich aus dem Bett. Okay, es ist schon später Vormittag hier in Tel Aviv, aber es war auch spät gestern. Weniger als 30 Sekunden haben wir um uns ins Treppenhaus zu flüchten und zu warten bis die Rakete unter dumpfen Explosionen zerstört wird. Bis jetzt ist noch jede auf israelische Städte gefeuerte Hamas-Rakete getroffen worden, aber die Raketenteile haben doch einige Schlagkraft. „Gehen der Hamas die Raketen nicht bald mal aus?“ fragt meine israelische Gastgeberin Gehudert (1). Und ich hoffe, dass dem israelischen „Iron Dome“ die Abwehrraketen nicht ausgehen, denn so fühle ich mich doch relativ sicher. Der Spuk ist jeweils schnell vorbei – und doch könnte es jederzeit passieren und mich irgendwo draußen oder auf dem Klo erwischen.

Die Angst der Israelis ist spürbar. Erst bei genauerem Hinsehen und Hinhören, aber sie ist da. Schaut man oberflächlich scheint es die ideale Reisezeit – wenig Menschen am Strand, wenig Menschen an den Sehenswürdigkeiten. Das Leben scheint normal weiter zu gehen an diesen Orten, die weiter weg liegen vom unmittelbaren Geschehen in Gaza. Kontrollen gibt es fast keine, Angst vor persönlichen Angriffen muss ich keine haben.

Der Krieg wirkt weit weg, hat aber deutlichen Einfluss auf das Leben: Menschen gehen nicht zur Arbeit, Kulturveranstaltungen werden abgesagt, Einnahmen aus dem Tourismus brechen ein. Jede_r Israeli_n hat nahestehende Menschen in der Armee, kennt zumindest über Ecken auch einen der über 50 gestorbenen Soldaten. Das Fernsehen ist voll von Expert_innenrunden zum Krieg, Bildern von abgeschossenen Raketen, verletzten Soldat_innen im Krankenhaus, von der bildschirmgesteuerten Zerstörung von Häusern in Gaza, Soldat_innen in der Bodenoffensive und Zerstörungen der Hamas-Tunnel. Leichen werden nur unkenntlich dargestellt, Zahlen von getöteten Palästinenser_innen selten genannt.

Auf der Friedensdemo in Tel Aviv sehe ich ca. 3000 Menschen (die Medien sprechen von 1000), die die militärischen Operationen verurteilen, die wollen, dass Palästinenser und Israelis in Frieden zusammen leben und andere Lösungen für den Umgang mit der Hamas suchen. Mehr sind es nicht. Mehr Menschen haben nicht mehr den Mut und die pazifistische Überzeugung um hier auf die Straße zu gehen. Zu Zeiten Yitzhak Rabins waren es noch hunderttausende. „Die Angst seine Meinung frei zu äußern besteht jedoch nicht wegen der Gesetze“, so Chana, eine Aktivistin für Feminismus und LGBT-Rechte, die ich auf der Demo tref­fe. Das Recht auf freie Mei­nungs­äußerung werde auch in diesem „demokratischen“ Land gesetzlich geschützt.

Es ist der größer und aggressiver werdende rechte Mob, der nach linken Demonstrationen durch die Straßen zieht. Eine aus unserer Gruppe hätte fast ein Ei getroffen, das aus einem fahrenden Auto geworfen wird. Eine andere Gruppe hat es schlimmer getroffen: Prügel mit Gesichtshämatomen und Verletzungen durch Pfefferspray. Ich habe leider kein Maalox und keine Milch dabei um zu helfen. Ein T-Shirt mit politischem Aufdruck anzuziehen („Arabs and Jews refuse to be Enemies!“, „Combatants for Peace“, „Free Gaza“) sei undenkbar, sagt Chana. Schilder und Fahnen versteckt man lieber schnell, und wir sind nur in größeren Gruppen unterwegs. Jede noch so kleine Provokation gegenüber der Polizei werde von den Teilnehmer_innen dieser „extrem linken“ Demo vermieden, aus Angst vor Prügel und Verweigerung des Demonstrationsrechts, schätzt Chana die Situation ein.

Die Stimmung auf dem rechten Flügel, der Gegendemonstration, ist furchterregend und grotesk: wie in Deutschland nach einem Fußballspiel. Es werden Israel-Fahnen geschwenkt, muskelbepackte kahlrasierte Männer laufen durch die Straßen, das Hupen der beflaggten Autos erfolgt im Rhythmus der Fangesänge („Ole-eh, ole, ole, oleeh“). Absurd und doch irgendwie Augen öffnend ist diese Sportfeststimmung angesichts von über 1000 tausend getöteten Menschen in diesem bewaffneten Konflikt. Und der Ruf „Tötet alle Araber!“ wird hier laut und ohne Angst vor Konsequenzen skandiert.

Die Struktur rechter und linker Gruppierungen in Israel zu charakterisieren fällt schwer. Chana beschreibt die „echte“ Linke Israels als eher intellektuelle, weiße Elite deren Ursprung eher europäischen Aschkenasim-Juden (2) entspricht, deren Sozialstatus eher ein akademischer und Wohnort ein urbaner ist. Die Anhänger der rechten Kriegs-Parteien (nicht unbedingt religiöse Juden!) seien offenbar eher den orientalischen Mizrachim (3) oder den arabischen Sfaradim (4) zuzuordnen, die auf dem Lande lebten und in die Stadt kämen, um Tel Avivs Linken zu zeigen, wo es lang gehe, so Chana.

Aber die Unterstützung des Militärs sitzt tiefer in der israelischen Gesellschaft und wird nur von wenigen hinterfragt. Fast jeder in Israel muss zwei Jahre (Männer drei Jahre) dem Militär dienen, ausgenommen sind bspw. Muslime, Christen und ultraorthodoxe Juden. Jahrzehnte lang hat man als Reservist jährlich wochenlange Übungen und muss sich bereit halten. Einfach verweigern geht nicht, es bleibt bspw. sich eine schwere körperliche oder eine psychische Krankheit attestieren zu lassen. Die soziale Außenseiterstellung die man durch eine Verweigerung einnimmt, sei nicht zu vernachlässigen, sagt die israelische Musikerin Yael, die sonst in Berlin lebt. Ein Freund von ihr müsse bei der Rückkehr nach Israel eine Gefängnisstrafe wegen der Verweigerung fürchten.

Anfangs wundert mich eine Aussage der eher linksliberalen Aktivist_innen und Personen, die ich hier treffe: dass Gaza zwar unter Israel leidet, aber noch mehr unter der Hamas. Meine Gastgeberin sieht einerseits die Ursachen auf Seiten der israelischen Führung: die Besatzung, das „Freiluftgefängnis“, die Einschränkung des Zugangs zu Wasser, Elektrizität, Nahrung, die permanente militärische Überwachung. Und dennoch kritisiert sie auch die perfiden, brutalen und chauvinistischen Methoden der Hamas: Raketen werden in Schulen gelagert, Zivilisten werden als Schutzschilder missbraucht, UN-Gelder werden in den Bau von Tunneln und militärische Zwecklosigkeiten investiert. Zumindest ein Sohn aus jeder palästinensischen Familie werde zum Kämpfer ausgebildet und zur Auslöschung der Israelis erzogen („Werft die Juden ins Meer!“). Dinge, die in westlichen Medien selten genauer beleuchtet werden. So äußert Jehudith auch den Wunsch nach einem Eingreifen der USA gegen die Hamas – in einem Atemzug mit dem Ruf nach einem Kriegsverbrechertribunal gegen Netanjahu und seine Helfer und dem Wunsch nach einem Regimewechsel.

Woher kommt der tiefsitzende Patriotismus und Militarismus der israelischen Gesellschaft, und die Unterstützung des (wie Chana es nennt) „Apartheid-ähnlichen“ (5) Regimes gegen die Palästinenser? Die linke/feministische Aktivistin Leah, bei der wir nach der Demo zu Gast sind, beschreibt eine Ursache in der kollektiven Erinnerung des Holocaust. Schon von Kindesbeinen an werde gelehrt, dass Juden zu allen Zeiten in allen Ländern verfolgt waren und die Hilflosigkeit der jüdischen Glaubensgemeinschaften in die Verbrechen der Schoah mündeten. Ohne einen schützenden Staatsapparat, einer Nation und einer Armee, die gegen die Angriffe der Gojim (6) schützen konnten, seien Juden immer wieder ausgeliefert gewesen. Es solle nie wieder passieren, dass das jüdische „Volk“ nicht geschützt und das heilige Land nicht von diesem bewohnt sei, das ist offenbar Staatsräson und common sense. Und so erzeuge hier jede Kritik am Militär und am Staate Israel Wut und teils heftige Reaktionen beim Gegenüber, sagt Leah.

Ich kann mir den Blick auf den Nahostkonflikt nicht leicht machen. Beide Seiten sind zu verstehen, beide Seiten verurteile ich innerlich, auf beiden Seiten sehe ich auch Potential zu Veränderung. Es ist ein unheimlich emotionaler Konflikt, bei welchem mich schon einzelne Worte tierisch auf die Palme bringen können und ich ganz schnell überschießend reagiere. Und dann erst hinterher feststelle, dass ich zu weit gegangen bin und meine Aussagen relativiere. Ich kann mir keine feste Meinung zu dem Konflikt machen – aber ich kann empfehlen mit den Menschen hier ins Gespräch zu kommen und sich ein Bild von der Situation zu machen. Israel ist (neben seiner Schönheit) eine Reise wert.

Julian

(1) Alle Namen von der Redaktion geändert.

(2) Aschkenasim: Juden, die seit der Spätantike in Nord- und Mitteleuropa gelebt haben.

(3) Mizrachim: Juden aus asiatischer, insbesondere kleinasiatischer Herkunft.

(4) Sfaradim: nordafrikanische und südeuropäische Juden.

(5) „Als Apartheid wird jede institutionalisierte Form einer Politik der Rassentrennung zur Unterdrückung einer Rasse durch eine andere bezeichnet“. Otto Trifterer, Bestandsaufnahme zum Völkerrecht in Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, ISBN 3-930908-10-7, ISBN 3-930908-10-7

(6) Gojim: Nichtjuden/Andersgläubige

Schreibe einen Kommentar