Nachbetrachtung zum Naziaufmarsch am 1. Oktober in Leipzig
Es war ein ganz schön verregneter Samstag und man hätte sich wahrlich angenehmere Tätigkeiten vorstellen können, als bei gefühlten fünf Grad und strömendem Regen einen Naziaufmarsch zu verhindern. Das Wetter griff ein wenig in die Gestaltung der Gegenaktionen ein; so kam es wegen der nassen Strassen nicht zur angekündigten Sitzblockade. Blockiert wurde dennoch, weswegen Christian Worch und seine ca. 150 KameradInnen kurz nach 17 Uhr unverrichteterdinge den Heimweg antreten mussten, ohne einen Meter der eigentlichen Marschroute nach Connewitz gelaufen zu sein – sehr ärgerlich, wo doch bereits in der Nacht zum 1.10. die Kameradschaftsseiten freier-widerstand.net und fw-sued.net von Antifas gehackt und zahlreiche empfindliche Daten auf indymedia veröffentlicht worden waren. (1)
Der Tag hatte mit einer etwa 300-leute-starken linksradikalen Demonstration durch die Südvorstadt begonnen, zu der BgR (Bündnis gegen Realität), LeA (Leipziger Antifa) und das Jugendcafé tomorrow unter dem Motto „Wer Deutschland liebt, den können wir nur hassen“ (2) aufgerufen hatten. Nicht ganz unumstritten war bei einigen TeilnehmerInnen die von den OrganisatorInnen angedachte antideutsche Ausrichtung, die nicht nur im Motto deutlich wurde, sondern auch schriftlichen Spruchvorschlägen wie „Deutschland von der Karte streichen – Polen muß bis Frankreich reichen“, die sich neben intellektuelle Kleinode wie „Hurra, hurra – die Antifa ist da“ reihten. Eine Minderheit der Demonstrierenden wäre aber vermutlich zu einem Diskurs über die Intentionen von LeA und BgR gar nicht mehr in der Lage gewesen, denn bereits zu diesem Zeitpunkt war bei manchen reichlich Alkohol im Spiel.
Nach dem Ende der Demo zogen die meisten relativ geschlossen in Richtung Listplatz, dem geplanten Startpunkt der Nazis, an dem sich bereits etwa 200 Menschen eingefunden hatten, um die Naziroute zu blockieren. Die Blockade am Listplatz schwoll in den folgenden Stunden auf etwa 800 bis 1.000 Menschen an, die damit unter anderem dem Aufruf des „Sitzenbleiben“-Bündnisses (3) folgten, das im Vorfeld offensiv zu einer Sitzblockade am Nazistartpunkt aufgerufen hatte. Das Bündnis begründete sein Vorhaben damit, dass es einerseits nicht ausreiche, sich an symbolischen Aktionen zu beteiligen, dass aber andererseits dezentrale Aktionen nicht für alle in Frage kämen, die effektiv etwas gegen Naziaufmärsche tun und deren Verhinderung auch gegen die Staatsmacht durchsetzen wollten. Am 1. Oktober scheint dieses Konzept jedenfalls dank günstiger Umstände umgesetzt worden zu sein. Autonome, Studierende, SchülerInnen, Punks, aber auch einige ältere Leute und Familien ließen sich auf eine gemeinsame friedliche Aktion ein, hörten per Lauti ein wenig Radio Blau, (ein freies und selbstorganisiertes Radioprojekt) und lauschten den diesmal besser funktionierenden Info-Durchsagen; einige beschäftigten sich leider wiederum sehr exzessiv damit, Bier zu trinken. Und nach vier Stunden wurden die wenigen eingetroffenen Nazis schließlich wieder nach Hause geschickt. Eine Eskalation blieb diesmal auch deshalb aus, weil die Polizei es unterließ, am Listplatz einen Räumungsversuch zu unternehmen, und so wurde es denn am Ende ein geruhsamer Nachmittag, für den die Polizei von vielen Seiten gelobt wurde, allerdings nicht von allen. Schließlich hatte es bereits im Vorfeld eine wahre Propagandaschlacht gegeben:
Polizei-PR
Sachsens Innenminister Thomas de Maizière und Leipzigs Polizeichef Rolf Müller, denen die Kritik nach dem brutalen Polizeieinsatz am 1. Mai offenbar noch nicht gereicht hatte, kündigten für den Fall einer gerichtlichen Genehmigung der Nazidemo ein „konsequentes“ Vorgehen gegen alle Störungsversuche durch AntifaschistInnen an. Das „Sitzenbleiben“-Bündnis konterte mit einem offenen Brief an die Polizei, in dem diese davor gewarnt wurde, „die Sitzblockade zu gewaltbegleiteten polizeilichen Exzessen oder als Plattform für erlebnisorientierte Übergriffe gegen Demonstranten zu nutzen“ (4). Daß sich der offene Brief stark an einer Vorlage aus der Feder der Staatsmacht orientierte, die vor einiger Zeit an potentielle TeilnehmerInnen der „Bunten Republik Neustadt“ (ein Stadtteilfest in der Dresdner Neustadt) versandt wurde, schien zumindest der LVZ nicht aufzufallen. Herr Müller konnte einen Wiedererkennungseffekt hingegen kaum öffentlich zugeben und erstattete lieber Strafanzeige gegen das Bündnis, da er sich in seiner Entscheidungsfindung genötigt gesehen habe. (5)
Zugleich warnte er vor der Anreise von mehr als 1.000 gemeingefährlichen SteinewerferInnen aus ganz Deutschland, eine Zahl, die wenig später vom Landesamt für Verfassungsschutz auf 400 nach unten korrigiert wurde und nach dem 1. Oktober in der Berichterstattung von LVZ und anderen gegen null tendierte. Es konnte ja schließlich nicht sein, daß sich militante AntifaschistInnen an der friedlichen Verhinderung eines Naziaufmarsches beteiligten, während sich die groß angekündigte Symbolveranstaltung „Mit weißer Rose gegen braune Gewalt“ von Parteien, Kirchen, „Courage e.V.“ und Stadt am Bayrischen Platz nicht nur wegen der mangelnden Beteiligung (ca. 350 Leute) als bedeutungslos erwies. Von den dort angebotenen 1000 weißen Rosen wurden wohl nur etwa 200 verkauft (!), was einige der VeranstalterInnen nicht daran hinderte, sich die Verhinderung des Naziaufmarsches auf ihre Fahnen zu schreiben. (6)
Bereits in den Tagen vor dem 1.10. wurden die AnwohnerInnen der Demonstrationsstrecke mit kleinen Zettelchen von der Polizei darauf hingewiesen, dass auf der Strecke am 1.10. komplettes Halteverbot herrsche und etwaigen Aufrufen, dass es an dem Tag zu einer Sperrmüllsammlung komme und man sein Gerümpel einfach auf dem Gehweg abladen solle, keineswegs Glauben zu schenken sei! Vermutlich handelte es sich um eine besonders clevere, wenngleich etwas späte Reaktion auf einen vergleichbaren Aufruf zum 1. Mai.
Besonders stolz waren Stadt, Ordnungsamt und Polizei auf ihre neue Wunderwaffe, die „Kommunikationsteams“, für die insgesamt 24 Leute von Ordnungsamt und Polizei abgestellt wurden. Deren konkreter Beitrag zur „Deeskalation“ erschöpfte sich im Wesentlichen darin, schicke Handzettel zu verteilen, in denen hauptsächlich zur „räumlichen“ Distanzierung von Gewalttätern aufgefordert wurde.
Auch der Rest der 2000 eingesetzten BeamtInnen war nicht ganz untätig, sondern stellte über den gesamten Tag 2754 Identitäten fest, durchsuchte dabei 705 Personen und 1012 mitgeführte Gepäckstücke, erteilte mindestens 452 Personen einen Platzverweis für eine Zone, die sich ca. 100 Meter zu beiden Seiten der Naziroute erstreckte, und entzog 78 Leuten vorübergehend die Freiheit. Angesichts der 22 unterstellten Straftaten am 1.10., von denen 14 auf vorhersehbare Verstöße gegen das Versammlungs- und das Betäubungsmittelgesetz sowie auf Beleidigungen entfielen, schien das wohl angemessen, irgendwie muss die Zeit ja rumgehen, wenn man (aus Angst vor dem nächsten Skandal?) nichts gegen die antifaschistischen BlockiererInnen unternehmen darf. (7)
frau lutz
(1) www.de.indymedia.org/2005/10/129338.shtml
(2) www.nadir.org/nadir/initiativ/bgr/pages/011005.htm
(3) www.linxxnet.de/sitzenbleiben/
(4) www.linxxnet.de/sitzenbleiben/offener_brief.html
(5) LVZ-Online 09.10.2005
(6) z.B.: www2.igmetall.de/homepages/leipzig/courage.html
(7) www.polizei.sachsen.de/pd_leipzig/2795.htm