… leave our kids alone!

Notizen zur Schulkritik

Jede/r von uns hat 10 bis 13 Jahre lang ähnliches erlebt: Der Tag begann zwischen sechs und sieben Uhr mit einem durchdringenden Wecksignal. Einem schlechtgelaunten Frühstück folgte der hektische Aufbruch in eine Institution, in der wir bis nachmittags mit 25 Gleichaltrigen den Vorträgen älterer Mitmenschen zuhören mussten. Jeden verdammten Tag die Lehrplan-Endlosschleife aus Stoffdarbietung, Einübung und Lernzielkontrollen. Jeden Tag dem Minutenzeiger zusehen und hoffen, dass die Zeit irgend­wie vorbei geht. Eeeendloooooos dehnten sich die Stunden, Tage, Wochen… Bis auf einmal alles vorbei war.

Wir rieben uns verdutzt die Augen und stellten fest, dass wir unser Leben nun, mit 13 Jahren Verspätung, tatsächlich vor uns hatten. Und in der Tat waren wir für dieses Leben ausgesprochen qualifiziert. Wir hatten nicht nur passives Rumsitzen gelernt, wir konnten auch Präpositionsformen, Integralrechnung und die Definition der innertropischen Konvergenzzone auswendig aufsagen!

Aber der Mensch ist anpassungsfähig, und so haben wir uns alle irgendwie im „echten Leben“ eingerichtet. Nun konnten wir uns selbständig Bildung aneignen, manch­mal sogar gesellschaftskritische Literatur, dicke Bücher, die das geheiligte politisch-ökonomische System als das enttarnten, was es ist: ein autoritäres Machtgefüge, das für sein Fortbestehen vor allem den Glauben, die Angst und die Bequemlichkeit seiner InsassInnen benötigt.

Erhellend sind z.B. die Ausführungen, die Michel Foucault in seinem Buch „Überwachen und Strafen“ zur Entstehung der Institution Schule macht. Mit der Verfeinerung des staatlichen Herrschaftssystems legten die Herrscher des 18. Jahrhunderts zunehmend Wert auf die Nutz­barmachung der Untertanen als Menschenmaterial. Dass es dabei höchstens sekundär um deren Alphabetisierung ging, wird aus den damaligen Dokumenten deutlich. Mit der jahrelangen Halbtagskasernierung der Kinder und Jugendlichen in der Volksschule sollten vielmehr brave, und nach 1800 auch patriotische Unter­tanInnen gezüchtet werden, wie sie sich die Staatsoberhäupter für ihre imperialistische Politik wünschten.

Natürlich ist die Schule von heute nicht mehr die von damals. Die Prügelei wurde beendet, der Umgangston verbessert, die Inhalte modifiziert, die didaktische Methodik verfeinert, die Wände neu gestrichen und sogar Computer eingeführt. Das sind Fortschritte, die hart erkämpft werden mussten. Generationen von Päda­gogInnen und ReformerInnen haben daran gearbeitet, die Institution Schule „vom Kinde aus“ zu humanisieren. (Die bekanntesten unter ihnen, wie Leo Tolstoi, Maria Montessori oder A.S. Neill, hielten dabei die autoritären Staats- und Kirchenschulen für nicht reformierbar und versuchten, alternative Systeme aufzubauen, die den staatlichen Schulen teils bis heute erfolgreich Konkurrenz machen.)

Die entscheidenden Grundsätze der Schule sind von diesen Reformversuchen aber größtenteils unberührt geblieben: Der Anwesenheitszwang, das Prinzip von Befehl und Gehorsam, die verbindlichen Lehrplaninhalte, die Leistungsbewertun­gen, die Selektion in „starke“ und „schwache“ SchülerInnen usw.

Dabei mangelt es natürlich nicht an Begründungen für das Pflichtschulsystem (jedes autoritäre System versteht sich selbst bekanntlich als alternativlos). Dass wir junge Leute zwingen, zehn ihrer für die Sozialisation entscheidenden Jahre in einer weitgehend geschlossenen Anstalt zu verbringen, wird so etwa mit der Notwendigkeit begründet, sie einerseits für den Arbeitsmarkt „fit zu machen“ und sie andererseits vor dessen frühzeitigem Zugriff zu bewahren. Als ob es heute kein Jugend­schutzgesetz gäbe und die Kinder die Gemeinheiten des Kapitalismus nicht auch innerhalb der Schule abbekämen…

Die Schule gibt es nicht aus humanistischen Erwägungen, diese wurden erst nachträglich erfunden. Die Pflichtschule ist einfach ein notwendiges Teilsystem im autoritären Staat. Die logische Konsequenz aus dieser Einsicht wäre die Forderung nach ihrer Abschaffung.

Denkbar wäre es etwa, die Schulpflicht der SchülerInnen durch eine Bildungspflicht des Staates zu ersetzen: Alle jungen Menschen würden diesem Modell nach das Recht genießen, staatlich finanzierte, aber unabhängige Bildungseinrichtungen aufzusuchen und dort Angebote wahrzunehmen, um selbstmotiviert zu lernen, Abschlüsse zu erwerben etc. Die Freiwilligkeit des Schulbesuchs würde auch den Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen fördern. Schlechten Unterricht dürfte es in diesem System nicht mehr geben, durch die Abstimmung mit den Füßen würde vielmehr interessante und kreative Bildungsarbeit honoriert.

Dagegen ließe sich natürlich einwenden, dass eine solche Entwicklung doch eher unrealistisch ist. Stattdessen solle mensch lieber den Reformprozess an den Schulen vorantreiben, freie demokratische Schulen unterstützen, Lehrplaninhalte und Fach­didaktiken weiter verbessern, um so die Schule zu dem zu machen, was sie sein könnte: kein Fluch, sondern ein Geschenk für die Menschheit.

Alles Quatsch, würden nun die Anar­chistInnen sagen: An den Staat zu appellieren, doch bitte seine Machtbasis aufzugeben, ist absurd. Und die Reformen im Bildungssystem haben noch nie was Grundsätzliches verbessert. Sie suggerieren nur Veränderbarkeit und modernisieren den Machtapparat. Die einzig mögliche Perspektive bleibt eben die Verweigerung und Emanzipation von den autoritären Systemen. Wenn möglich nicht allein, sondern gemeinsam.

Aber ob wir uns die Realität nun eher sozialdemokratisch, anarchistisch oder doch lieber nach postmodernem Muster erklären, ob wir als SchülerInnen, Eltern oder gar als PädagogInnen mit dem autoritären Bildungssystem konfrontiert sind, grundsätzlich gilt: Wenn wir dieses als alternativlos verteidigen, entsolidarisieren wir uns nicht nur mit den Kindern von heute und uns selber als Kindern. Wir stellen uns auch auf die Seite der Macht, die früher Menschenmaterial für Arbeiter- und Soldatenheere brauchte und heute Hu­man­kapital für den Standort benötigt.

Was wir dagegen immer brauchen, ist der Blick von unten, die empathische Perspektive der Unterdrückten, die Solidarität mit denen, die in der Hierarchie ganz unten stehen – also Menschen, die jetzt an demselben Punkt sind wie wir vor 20 Jahren. Auch beim Erziehungssystem heiligt der Zweck nicht die Mittel. Und auch wenn es für den konkreten Umgang mit dem autoritären System leider kein Patentrezept gibt, gilt auch hier: Geht nicht gibt‘s nicht!

soja

Bildung

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