Leserbrief

Dies ist ein Leserbrief. Ich beziehe mich auf den Artikel „Verdammt lang quer“ in Ausgabe Nr. 47. Adressiert ist dieser Brief an die Redaktion des Feierabend! und auch an die Verfasser des Artikels, in diesen Fall die Rote Hilfe Leipzig.

Liebe Freunde,

diesen oben genannten Artikel abzudrucken ist schon ein starkes Stück. Für mich wäre es das jedenfalls. Heute im Jahr 2013 zeigt sich immer noch, wie wenig Sensibilität für Selbstkritik in eurem (linken) Milieu vorhanden ist. Natürlich haben die letzten 20 Jahre Kampf in und zwischen linken Kreisen ihre Spuren hinterlassen. Aber zu unseren Genossen von der Anarcho-Postille und der Roten Hilfe Leipzig scheinen sie nicht durchgedrungen zu sein. Deswegen nochmal deutlich: Antisemitismus ist kein Irrweg. Antisemitismus ist ein Wahn. Er ist nicht der Irrweg, den „der Kapitalist erfindet um die Arbeiterklasse zu spalten“ (Lenin), er ist eine anti-moderne, pathologische Ideologie. Diese Ideologie ist, man mag es kaum glauben, sehr wandelbar und tritt in verschiedenen Derivaten und Ausformungen als Fundament/elementarer Bestandteil in verschiedenen politischen Strömungen mal mehr, mal weniger offen zu Tage. Es ist nicht meine Aufgabe hier ausführliche Kritik am Antiimperialismus zu betreiben, das solltet ihr selbst tun (www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr248.htm).

Doch was hat das alles mit dem Artikel zu tun? Ich weiß, irgendetwas Bedeutungsschweres, im Gegensatz zu den sonstigen Kinkerlitzchen, muss die Rote Hilfe ja tun, um sich ihrer eigenen Existenz zu versichern. Aber Solidarität für Wahnsinnige, nichts anderes sind eure antiimperialistischen Geiselnehmer und Helfershelfer, einzufordern ist doch ein bisschen zu viel des Guten. Unabhängig davon, dass Sonja und Christian, wie ihr sie liebevoll nennt, keine Juden selektiert haben, haben sie doch zu den RZ gehört und ihnen auf die eine oder andere Art und Weise geholfen (und Waffenlieferung ist da kein Pappenstiel). Da reicht auch eure halbherzige Distanzierung zu Carlos und der Entebbe-Aktion nicht aus. Wer diese Mörder unterstützt macht sich mitschuldig, und das haben die Angeklagten getan. Und wenn ihr, liebe Genossen, sie unterstützt, dann seid ihr dabei zivilisiertes Terrain zu verlassen und euch zu Unterstützern von Wahnsinnigen zu machen. Natürlich sollte der Prozess gerecht und an das Recht gebunden sein, aber handelt es sich hier, wenn sich die Anklage bewahrheitet, nicht um eine an den Haaren herbeigezogene Behauptung.

Schöne Grüße!

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Erst einmal vielen Dank, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, diesen Leserbrief zu schreiben – auch wenn uns der moralische Vorwurf, wir würden uns mit Geiselnehmern solidarisieren, etwas weit hergeholt scheint. Natürlich halten wir terroristische Aktionen und insbesondere Morde und Geiselnahmen weder für ein taugliches, noch ein vertretbares Mittel herrschaftskritischer und antikapitalistischer Politik. Und ebenso selbstverständlich meinen wir aus unserer politischen Überzeugung heraus, dass Antisemitismus kritisiert und bekämpft werden muss.

Zugleich halten wir aber auch die Arbeit der Roten Hilfe für enorm wichtig – und die besteht eben darin, linke Aktivist_innen gegenüber der Justiz zu unterstützen. Im Übrigen ist solche juristische Hilfe etwas anderes als z.B. Beihilfe zu einer Geiselnahme, und Solidarität mit den beiden Angeklagten beinhaltet keine Unterstützung für Leute wie „Carlos“.

Die beiden Angeklagten sind aus unserer Sicht sicher keine strahlenden Helden, auch keine „Wahnsinnigen“, sondern schlicht Menschen, die auch Fehler begangen haben – möglicherweise drastische Fehler. Aus politischer Sicht kann und sollte man diese gegebenenfalls kritisieren. Rechtlich wäre es Aufgabe des Verfahrens, das zu erweisen (von zivilisatorischen Errungenschaften wie der Unschuldsvermutung hast Du sicher auch schon gehört).

Was die Geiselnahme in Entebbe betrifft: der Sachverhalt wurde in dem Artikel klar benannt, und wir halten unsere Leser_innenschaft für intelligent genug, sich selbst ein paar richtige Gedanken dazu zu machen. Dass diese Aktion in keiner Weise zu rechtfertigen ist, sollte offensichtlich sein. In dem Text „Gerd Albartus ist tot“ (www.freilassung.de/div/texte/rz/zorn/Zorn04.htm) haben auch die Revolutionären Zellen selbst eine eingehende Selbstkritik dazu verfasst:

„Wir machten uns die Losungen des palästinensischen Befreiungskampfes zu eigen und setzten uns darüber hinweg, dass unsere Geschichte eine vorbehaltlose Parteinahme ausschloss. Wir interpretierten den Konflikt mit den Kategorien eines an Vietnam geschulten Antiimperialismus, mit denen er nicht zu ermessen war. […] Israel galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus mitten in der arabischen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für die Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit ist, solange eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit von niemandem ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus als historisches und soziales Faktum fortlebt. […] Wo wir unter anderen Voraussetzungen auf der Unterscheidung zwischen oben und unten beharrten, sahen wir im Nahen Osten vor allem gute und schlechte Völker. Am Patriotismus der Palästinenser kritisierten wir ebenfalls dieses Pathos, obwohl uns nicht zuletzt die Geschichte Israels ein warnendes Beispiel hätte sein müssen, dass die Verwirklichung der palästinensischen Maximalforderungen nicht das Ende von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern lediglich deren Verewigung unter anderen Vorzeichen bedeuten würde. Leid und durchlebte Verfolgung bieten keinen Schutz davor, dass Menschen zu Ungeheuern werden, sobald sie sich als Staatsvolk zusammenballen.“

Natürlich kann selbst die ernsthafteste und gründlichste Selbstkritik die Handlungen der Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Aber es zeigt, dass auch antisemitischer „Wahnsinn“ als Irrweg erkannt und verlassen werden kann. In diesem Sinne,

die FA!-Redaktion

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