Leserbrief

Hallo!
Wieder ein super Feierabend!! Und wieder habe ich was zu kritisieren und mach das endlich schriftlich. Das Interview zum „christlichen Anarchismus“ finde ich voll daneben:
Ein allmächtiger Gott, der Gnade (= unverdiente Milde gegenüber Straftätern) den Menschen nach Gutdünken gewährt, ist das Feindbild jedes selbstbewussten, denkfähigen Menschen. Darauf basiert aber jede Gottgläubigkeit, also ist jede Gottgläubigkeit unbedingt unanarchistisch. „Christlicher Anarchismus“ ist also die Quadratur des Kreises, vielleicht mal nicht aus Böswilligkeit, wie es bei den meisten Pfaffen o.ä. der Fall ist, sondern aus Dummheit (= mangelnde Logikfähigkeit). Wenn jemand diesen Schwachsinn in ein Buch packen will, ist das schade, aber mensch muss das ja nicht lesen. Wenn dieses dumme Buch aber in einer ansonsten super-guten Zeitung besprochen wird, liest das einer erstmal und ärgert sich grün und schwarz, dass der richtige Satz „Religion ist scheiße“ als bloße Rhetorik diffamiert wird, unwidersprochen!! Sieht momo den Wald vor lauter Bäumen nicht? Ist die Kirche mit ihren Kreuzzügen etc. nicht etwa eine logisch entstandene Konsequenz aus dem Axiom des gnadespendenden Gottes mit seinen Gesetzen (!!!) und deren menschlichen Verkündern und Interpreten?!?!
Okay, sorry für meine Heftigkeit, aber ich hab 10 Jahre als Krankenpfleger bei der Diakonie gearbeitet und weiß jetzt genau, warum es Nationalsozialismus gibt, wie die Hexenverfolgungen funktionierten und dass Heuchelei, Hetze und Verleumdungen zentrale und essentielle Bestandteile jeder gottgläubigen Religion sein müssen.
Dieses Interview ist ein leider unkritisches, also Gefälligkeitsinterview gewesen, bitte sowas nicht mehr!!
Venceremos, Otto
*nix für ungut, ihr macht ´ne super Zeitung (jeder langt mal in die Schüssel)

Hallo Otto!
…Erst einmal vielen Dank für deinen Leserbrief – Feedback ist uns wichtig, gerne auch kritisch. Und deinen Beitrag verstehen wir als eine wichtige Position zur kontroversen Debatte um christlichen Anarchismus, die wir auch gerne fördern wollen. Eben weil sie viele anarchistische Herzen bewegt. Das haben wir auch bei der Lesung zum besagten Buch hier in Leipzig feststellen können. Gerade deshalb wollten wir auch den Herausgeber inhaltlich zu den behandelten Themen und seiner Motivation sprechen lassen. Nicht als Propaganda, sondern als Darstellung einer existierenden anarchistischen Strömung.
Da der Fokus dieses Buches in der Verbindung (nicht in den Unterschieden) zwischen christlichem Glauben und Anarchismus liegt – bisher ein ziemlich blinder Fleck in der hiesigen Literatur – ging es auch im Interview vor allem um die inhaltlichen Schnittstellen zwischen christlichem Glauben und Anarchismus, obgleich auch nach den Grenzen gefragt wurde.
Natürlich, das Thema ist umstritten und nicht wenige Anarchist_innen vertreten eine Position, wie du sie beschreibst. Auch innerhalb der Redaktion gibt es sehr unterschiedliche und religionskritische Haltungen dazu. Dass die institutionalisierte Kirche mit Anarchismus unvereinbar ist, darüber brauchen wir uns nicht streiten, nicht einmal mit christlichen Anarchist_innen. Allerdings ist Glaube auch was sehr Persönlich-Individuelles und wird auch abgekoppelt von institutionalisierten Herrschaftsverhältnissen von einigen praktiziert. Und nicht jede_r Gläubige betet zu Gott, weil er_sie sich nach Gnade und Vergebung sehnt. Wie bei allem in der Welt hilft ein pauschales Schwarz-Weiß-Denken m.E. hier nicht weiter. Um so begrüßenswerter finde ich den Versuch mittels eines Buches herauszuarbeiten, wo Glaube mit Anarchismus vereinbar ist und welche Argumente die christlichen Anarchist_innen verwenden. Ein weiterführendes Buch, das inhaltlich die Grenzen dieser Vereinbarkeit beleuchtet, wäre aber genauso begrüßenswert. Mir geht es da eher um die individuelle Ebene, vielleicht bringt ja der Diskurs Einige dazu, seinen_ihren Wertekanon mit Anarchismus in Verbindung zu bringen. Anarchismus ist in meinem Verständnis eine politische Haltung jenseits des Dogmatismus. In diesem Sinne haben dort alle Menschen Platz, die gegen Herrschaftsverhältnisse und Kapitalismus sind. Ob sie privat dann an einen Gott glauben, ist mir ehrlich gesagt egal, so lange sie ihm_ihr nicht die Herrschaft über sich selbst erlauben.
momo und Teile der Redax

…Und noch mal danke für Dein Feedback zum Interview, es ließ mich noch einmal über den sog. Diskurs zum christlichen Anarchismus nachdenken. Im Nachhinein betrachtet waren wir als Redaktion m.b.M.n. nicht kritisch genug mit dem Interview, bzw. den Gefahren, die darin stecken, „den christlich-anarchistischen Diskurs zu verbreitern und zu intensivieren“. In Zeiten, in denen sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und in allen Breiten der Welt ein religiöser Rollback abzeichnet, in denen gerade anarchistische und linksalternative Strömungen mehr und mehr von Spiritualität und Esoterik durchsetzt sind, da obliegt es auch unserer Verantwortung, Diskurse durchaus zu lenken und nicht blind zu befeuern. Sebastian hatte im Interview leider auch nur zwei Argumente auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Gottgläubigkeit und der anarchistischen Idee. Das eine Kropotkins Autoritätsargument, dass andere von Gott gesandt. Doch wer sich Hab und Gut nur teilt, weil es in einer Apostelgeschichte geschrieben steht, der hat mit Emanzipation nichts am Hut, im Gegenteil. Solche vorgeblichen Überschneidungen mit dem Anarchismus, gepaart mit dem undifferenzierten Fokus auf Gemeinsamkeiten, führen schnell zur Religionsaffirmation, mindestens jedoch ist die offene Diskurshaltung religionsoffen. Als kritische Geister sollten wir diese nach Otto „Quadratur des Kreises“ jedoch nicht verschweigen, negiert sie doch alle vorgeblichen Gemeinsamkeiten des Christentums mit dem Anarchismus. Viele kleine Gemeinsamkeiten machen eben den entscheidenden Unterschied nicht wett. Man mag mir Dogmatismus vorwerfen, doch die „Dogmatismus ist Scheiße“-Rhetorik nervt!
shy

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