Marokko: Menschenrechtsverletzungen im Namen des EU-Grenzregimes

Wenig mehr als ein Jahr nach dem Sturm von TransitmigrantInnen auf die spa­nischen Enklaven Ceuta und Melilla im Oktober 2005, als mindestens 11 Men­schen zu Tode kamen und Massen­ab­schiebungen in die Wüste stattfanden, sowie sechs Monate nach der Euro-afrikanischen Regierungskonferenz „Mi­gra­tion und Entwicklung“ in Rabat bewies die marokkanische Regierung erneut, wie sie ihre Rolle als Grenzwächter Europas wahrnimmt und dabei selbst die von ihr unterzeichneten Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen sowie marok­kanische Gesetze mit Füßen tritt. Über 500 Menschen schwarzer Hautfarbe wurden seit dem 23.12.06 bei Razzien festgenommen und an der algerischen Grenze ausgesetzt. Die marokkanische Regierung erhofft sich von der EU Visaerleichterungen für einige ihrer BürgerInnen, wenn sie sich als Hilfs­polizist der EU betätigt und die Transit­migrantInnen abschiebt, statt sie in die EU einreisen zu lassen. Aber es gibt auch Widerstand gegen diese Politik, der unsere Unterstützung braucht.

Hintergründe der Versuche erneuter Massenabschiebungen aus Marokko

Auch nach den Massenabschiebungen im Herbst 2005 befinden sich noch mindes­tens 10.000 Flüchtlinge und Migrant­Innen aus Subsahara-Afrika in Marokko, die meisten von ihnen ohne einen recht­lich anerkannten Status. Einige, vor allem Flücht­linge aus der De­mo­kra­tischen Republik Kongo und der Elfen­bein­küste, ha­­ben beim UNHCR Asyl be­an­tragt und z.T. auch eine Anerkennung durch ihn be­kommen, nicht jedoch Auf­ent­halts­papiere von den marok­kanischen Behörden. Sie leben ohne juristische Ab­sicherung, politische Rechte und soziale Versorgung vor allem in den Ar­beiter­vierteln der großen Städte und in den Wäldern rund um Ceuta und Melilla. Die provisorischen Lager dort wurden allerdings von den Sicherheits­kräf­ten weitgehend zerstört. Nach inter­na­tionalen Protesten gegen die Aus­setzungen in der Wüste und aufgrund der Schwierig­kei­ten, Her­kunfts­länder zur Rück­über­nahme zu bewegen, fanden eine Zeitlang keine Massen­ab­schiebungen aus Marokko mehr statt.

Dies änderte sich im Dezember 2006, und über die (Hinter-)Gründe kann nur spe­ku­liert werden: Ein Grund ist wahr­schein­lich der Druck, von der EU bis zum Jahresende für Abschiebungen zur Ver­fügung gestelltes Geld noch auszugeben. Die Wahl des Zeitpunkts um das christ­liche Weihnachts­fest herum hatte sicher da­mit zu tun, dass dann die meisten Büros so­­wohl des UNHCR als auch inter­na­tio­naler Menschenrechts­organisationen und Me­­dien geschlossen haben und so Proteste aus­­bleiben würden. Evtl. ging es aber auch um eine gezielte Beleidigung und Schi­kane der überwiegend christlichen Flücht­linge aus Subsahara-Afrika, als Ausdruck einer re­aktionären islamistisch-rassis­tischen Kam­pagne, die in Marokko gegen be­stimmte MigrantInnen geführt wird. An­dererseits fielen die Tage um Silvester in diesem Jahr mit einem mos­lemischen Fest zu­sammen, so dass auch Mitglieder marokkanischer Organisationen in Urlaub wa­ren. Ein weiterer Grund für die Re­gierung, noch vor Jahresbeginn 2007 mit spektakulären Aktionen gegen so­ge­nannte „illegale Migration“ ihre Kooperations­bereitschaft zu zeigen, waren anstehende Verhandlungen mit der EU über Ein­wanderungskontingente für Marok­kaner­Innen als benötigte Billigarbeitskräfte, z.B. in Spanien.

Die Ereignisse seit Weihnachten 2008

Seit dem 23. Dezember 2006 wurden in Marokko über 500 Personen, die aus Ländern südlich der Sahara stammen, bei Razzien durch Sicherheitskräfte fest­genommen, zunächst in Rabat, dann in Nador (bei Melilla), Lâayoune (West­sahara) und Ende Januar in Casablanca. Dabei wurde nicht beachtet, ob sie eine Auf­ent­halts­erlaubnis oder Flücht­lings­papiere vom UNHCR besitzen, ob sie schwanger, krank oder behindert sind. Ihr einziges „Vergehen“: ihre schwarze Hautfarbe. Alle wurden am frühen Morgen aus den Betten gerissen, in Busse gesetzt und nach kurzem Aufenthalt im Polizeikommissariat in Oujda in ein Wüstengebiet an der algerischen Grenze (die offiziell geschlossen ist) gefahren, mitten in der Nacht bei Tempera­turen um die 0 Grad dort ausgesetzt und mit Schüssen ge­zwungen, Marokko zu ver­lassen. Algerien vertrieb die MigrantInnen seinerseits mit Schüssen.

Vierzehn Tage nach Beginn dieser Ver­haftungen war es ca. 200 Personen gelungen, nach Oujda zurückzukehren, wo Menschen­rechts- und Flüchtlings­organisationen ein provisorisches Camp errichtet haben, das inzwischen aber mehrfach von der Polizei zerstört wurde. Nach Zeugenaussagen der an der Grenze abgesetzten MigrantInnen wurden den meisten von ihnen ihre Wertsachen abgenommen (Handys, Geld) und vielen ebenso ihre Pässe (Personal­aus­weise und Bescheinigungen des UNHCR). Einige von ihnen wurden gewaltsam angegriffen und Frauen Opfer von Ver­gewaltigungen. Viele sind körperlich sehr schwach, eine Frau aus der Republik Kongo, im fünften Monat schwanger, verlor ihr Baby. Busunternehmen und Taxifahrer weiger­ten sich, Schwarze mitzunehmen, so dass sie sich nur zu Fuß fortbewegen konnten.

Die zwiespältige Rolle des UNHCR

Erst durch (späte) Intervention des UNHCR schafften es einige als Flücht­linge oder AsylbewerberInnen re­gis­trierten Personen, wieder in ihre Wohn­orte zurück zu gelangen. Mehrere von ihnen sind jedoch erneut von Razzien betroffen. Die Regierung behauptet, es seien keine AsylbewerberInnen und anerkannten Flüchtlinge unter den Ver­hafteten. Die von der Polizei eingezogenen bzw. zerrissenen UNHCR-Papiere seien gefälscht. Der UNHCR ist nicht in der Lage, die bei ihm registrierten Flüchtlinge zu schützen. Er wird von der EU unter Druck gesetzt, die Politik der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes mitzutragen und dient mehr und mehr als Alibi für diese Politik. Von der marokkanischen Re­gierung, die seinen Status nicht voll anerkannt hat, wurde dem UNHCR-Repräsentanten vorgeworfen, im Herbst 2005 eine Presseerklärung herausgegeben zu haben, dass er keinen Zugang habe zu den am Zaun von Ceuta und Melilla festgenommenen registrierten Flücht­lingen (die es nach Behauptungen der Regierung auch dort nicht gab), und auf Druck aus der UNHCR-Zentrale in Genf musste er sich dafür entschuldigen. Anfang Januar gab es Gespräche des UNHCR-Vertreters mit der marok­kanischen Re­gierung, in denen vom UNHCR u.a. zugesichert wurde, fäl­schungs­sichere Flüchtlingsausweise her­aus­zugeben, Ab­kommen mit der Re­gierung über die Registrierung der Flüchtlinge zu treffen und Proteste nicht mehr öffentlich zu äußern.

Regierungspositionen und Rechtlosigkeit der Migranten

Die marokkanischen Behörden stellten die Razzien als Maßnahmen auf Grundlage der Beschlüsse der Regierungskonferenz zum Thema Migration dar, die am 10. und 11. Juli 2006 in Rabat stattfand. Da sie keinerlei Interesse haben, trotz Un­ter­zeichnung der Genfer Flüchtlings­konven­tion und der Konvention über den Schutz der Wander­arbeiter und ihrer Familien durch die marokkanische Re­gierung sowie Ve­r­abschiedung eines entsprechenden na­tio­nalen Gesetzes (02/03), menschen­würdige Aufnahme- und Lebensbe­ding­ungen für Flüchtlinge und MigrantInnen zu schaffen, wird einfach geleugnet, dass es schutz­bedürftige Personen gibt. Men­schen­rechts- und Flüchtlings­organisa­tionen sollten bei der Sortierung in „gute“ und „schlechte“ MigrantInnen mitwirken, weigerten sich aber, dies zu tun und forderten stattdessen eine menschen­wür­dige Behandlung aller MigrantInnen, was z.B. das Recht auf Wohnung, Arbeitssuche und gesundheit­liche Versorgung ein­schließt. All diese Rechte werden Migrant­Innen aus dem sub­saha­rischen Afrika in Marokko ver­weigert. Sie sind gezwungen, in Ab­bruch­häusern oder auf der Straße zu schlafen, zu betteln, im Müll nach Nahrungsmitteln zu suchen und/oder sich zu prostituieren, um zu überleben.

Widerstand

Auf der euro-afrikanischen NGO-Kon­ferenz „Mi­grationen, Grundrechte und Be­­­we­gungs­­freiheit“, zu der sich am 30.6./1.7.06 mehr als 150 VertreterInnen von Flüchtlings- und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen aus Europa, Subsahara- und Nord­afrika bei Rabat trafen, stellten Flüchtlinge und MigrantInnen ihre Si­tua­tion dar, es wurde über die EU-Mi­gra­tionspolitik diskutiert und ein Manifest mit gemeinsamen For­­derungen ver­ab­schie­det (siehe Bericht auf www.fluecht­lingsrat-hamburg.de unter dem Kon­ferenzdatum). Be­wegungs­­frei­heit wurde als Grundrecht und Vor­aussetzung zur Wahr­neh­mung anderer Grund­rech­te de­fi­niert. Eine Kund­ge­bung vor dem Par­la­ments­ge­bäude, in dem eine Woche spä­ter die Re­gierungs­kon­ferenz statt­fand, wurde or­ga­ni­siert. Ein „Nachfolge-Ko­mi­tee“ (co­mi­té de suivi) und eine E-Mail­liste wurden ein­ge­richtet, über die seitdem ein Infor­ma­tions­aus­tausch und die Ko­ordi­nierung von Aktivitäten, u.a. zum trans­nationalen Aktionstag am 7.10.06 und zum Weltsozialforum Ende Januar 2007 in Nairobi, laufen. Auch die Unter­stützung der von den Razzien und Abschiebungen be­troffenen Migrant­Innen und die Herstellung internationaler Öffentlichkeit darüber wurden erst durch diese Vernetzung möglich.

Am 22.1.07 fand im Unterausschuss für Menschenrechte des EU-Parlaments ein Hearing zu den Vorgängen in Marokko statt. Der ausführliche Bericht dafür ist auf terra.rezo.net/IMG/doc/VALLUY060107.doc nachzulesen (leider nur auf Französisch). Weitere Berichte und Dokumente, auch auf Deutsch, sind auf der oben angegebenen Website des Flücht­lingsrats Hamburg (unter dem Datum 23.12.06) zu finden.

Die aktiven Menschenrechts- und Flücht­lingsorganisationen in Marokko, die durch die dortige Regierung ständig über­wacht und von Festnahmen und Ent­führungen bedroht sind und kaum über finanzielle Mittel verfügen, benötigen dringend unsere Unterstützung und haben dafür auf einer Versammlung am 4.1.07 in Rabat einen Offenen Brief ver­ab­schiedet, der ebenfalls auf unserer Home­page steht und verbreitet werden sollte.

Conni Gunßer

Flüchtlingsrat Hamburg

(Der Artikel basiert auf Berichten von AktivistInnen aus Marokko)

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