„Versprich mir, dass Du keine Steine werfen wirst“ verlangte meine Mutter von mir, ehe ich Richtung Heiligendamm aufbrach. Bei ihr konnte ich das verstehen, schließlich hat sie zur 68er-Zeit studiert und von damals sicherlich noch ganz andere Bilder im Gedächtnis. Zum Beispiel das berühmte Bild vom blutenden Benno Ohnesorg, welcher genau 40 Jahre zuvor ermordet wurde, was die Studentenrevolten der 68er und die Entstehung der RAF maßgeblich beeinflusste. Was mir jedoch die Sprache verschlug, war der flapsige Kommentar meiner Großmutter, als ich ihr eine Woche später telefonisch aus dem Erfahrungsschatz des Erlebten berichtete. „Das finde ich richtig, dass man diesen Chaoten mal die Grenzen aufgezeigt hat, wenn die nur Steine schmeißen können…“ sagte sie sinngemäß. Wie sollte ich ihr auch erklären, dass in Wirklichkeit doch alles ganz anders abgelaufen ist, als sie es vermittelt bekam?
Dazu hätte ich erstmal das Hintergrundwissen darüber gebraucht, was während des Gipfels alles geschehen war und wer wie darüber berichtet hat. Als von Zeit zu Zeit journalistisch Tätigem sind mir die Abläufe und möglichen Fehlerquellen des Systems bekannt, die Auftaktkundgebung am 2. Juni in Rostock lieferte ein nur zu anschauliches Beispiel für verzerrte und oftmals grundfalsche Kolportage in den Massenmedien. Darum sehe ich es als meinen Beitrag zu den Gipfelprotesten, den gegenwärtigen Zustand der Massenmedien zu beschreiben und auf die Missstände aufmerksam zu machen.
Die Vorbereitung
Es fällt den meisten Menschen schwer zu realisieren, dass sie in Bezug auf den G8-Gipfel von „ihren“ Medien schamlos belogen und zu Narren gehalten wurden. Das Gipfeltreffen wurde Monate im Voraus sorgfältig geplant und keine der beteiligten Seiten wollte etwas dem Zufall überlassen. Staatliche Stellen haben im Vorfeld mit „Präventivmaßnahmen“ (Stichwort §129a StGB „Bildung terroristischer Vereinigungen“) sämtliche Register gezogen. Auch Bundesinnenminister Schäuble wurde nicht müde, diese Bedrohungskulisse durch regelmäßige Warnungen vor Terroranschlägen noch eindringlicher zu machen und hat damit umfangreiche Überwachungsmethoden ermöglicht und den schleichenden Einsatz der Bundeswehr im Inland weiter vorangetrieben. Dieses Vorgehen diente wohl dem Zweck, sich nicht schon im Vorfeld mit den Argumenten der GipfelgegnerInnen auseinandersetzen zu müssen und wird auch jetzt noch weiter betrieben. Wen verwundert es da, dass durch diese Kriminalisierung ein Mobilisierungsschub in der Autonomen Szene erreicht wurde? Entsprechend vorhersehbar gab es dann zur Auftaktkundgebung in Rostock auch Gewalt zu sehen, welche v.a. im Fernsehen genüsslich ausgeschlachtet wurde, denn sie kam erwartet.
Alles, bloß keine Inhalte
Der Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Presse, die etablierten Massenmedien sind aber keineswegs so frei, wie mensch sich das wünschen würde. Denn jeder Medienkonzern gibt eine bestimmte Linie vor, der sich alle Angestellten unterordnen müssen. Leider wagten nur sehr selten und zaghaft einzelne JournalistInnen, entgegen der eigentlichen Gepflogenheiten das Verhalten der Obrigkeit zu kritisieren, nie aber wurde der Polizeieinsatz als Ganzes in Frage gestellt. Der Konkurrenzdruck innerhalb der Branche führte dazu, dass in den meisten Fällen Pressemeldungen der Kavala (die Einsatzleitung der Polizeikräfte rund um den G8-Gipfel) einfach unreflektiert übernommen wurden. Schnelligkeit geht eben vor Sorgfalt.
Selbst wenn eine Kamera Bilder aufgezeichnet hatte, die eindeutig Gewalt gegen friedliche ProtestiererInnen zeigt, kommentierten viele Sender diese Bilder so, als sei die Gewalt von eben jenen aus-gegangen und der Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Pfefferspray darum gerechtfertigt und notwendig. Am Donnerstag beispielsweise wurde die friedliche Sitzblockade vor dem westlichen Kontrollpunkt geräumt und weil während dessen auch vereinzelt Plasteflaschen in Richtung der vermummten „Robocops“ flogen, wurde daraus kurzerhand der Anlass gestrickt, der die Brutalität notwendig gemacht habe. Tags zuvor wurde schon per Pressemitteilung die Lüge in die Welt gesetzt, am östlichen Kontrollpunkt – ebenfalls eine durchgehend friedliche Sitzblockade – würden sich die DemonstrantInnen mit Molotowcocktails bewaffnen. Wie inzwischen leider üblich, wurde auch die Anzahl der mutmaßlich Gewaltbereiten (festgemacht an jenen, die schwarz gekleidet waren) immer etwas höher als real, die Gesamtmasse der BlockiererInnen ständig zu niedrig eingeschätzt. In Rostock hätte es bei einigen kaputten Scheiben bleiben können, wenn es die völlig überzogene Reaktion der Polizeikräfte nicht gegeben hätte. Aber so wurde daraus die „schlimmste Straßenschlacht seit 20 Jahren“ (BILD vom 4.6.), für die alleine Steinewerfer verantwortlich gemacht wurden. Keine Behauptung klang unglaubwürdig genug, um nicht verbreitet zu werden. In den wenigsten Fällen machte mensch sich die Mühe, diese fehlerhafte „Berichterstattung“ hinterher zu korrigieren. Traurig genug, dass bei über 5.000 angereisten JournalistInnen kaum jemand in der Lage war, das Geschehen einigermaßen wahrheitsgetreu wiederzugeben.
Keine Analyse – Lügen und Gewalt
Die so genannte „Deeskalationstaktik“ war hierfür ein leuchtendes Beispiel. Auch wenn seit Rostock offensichtlich war, dass es diese Taktik seitens der Polizei nie gab (siehe Artikel Seite 12), wurde sie in der folgenden Woche immer wieder zu Propagandazwecken benutzt, um die GipfelkritikerInnen als Provokateure hinzustellen. Als am Montag klar wurde, dass die Kavala die Anzahl der verletzten und schwerverletzten PolizistInnen weit übertrieben hatte und statt angeblich zweien keine einzige Person mit Messern angegriffen wurde, haben die Lohnschreiberlinge dies im besten Falle zur Kenntnis genommen. Noch Tage danach griffen viele Berichte die angeblich 433 verletzten PolizistInnenen auf, während über die Haftbedingungen in den GeSa (Gefangenensammelstellen) erst Tage später berichtet wurde. Mit täglich neu verbreiteten Einschüchterungen und Lügen, die von staatlichen PR-Fachleuten lanciert schnell in der Szene Verbreitung fanden, ist die Masse der GegendemonstrantInnen von Anfang an in die Defensive gedrängt worden. Vielleicht auch, weil die TV- und Zeitungsleute ihren LeserInnen den Willen nicht zutrauten, die komplexe Realität zu verstehen, hat man lieber ein Schreckgespenst und Feindbild „Schwarzer Block“ in den Vordergrund gerückt, das eben darum so wirksam war, weil es so diffus gefasst und flexibel handhabbar ist. Diese Vorliebe von Medienleuten, Sachverhalte zu vereinfachen und an Einzelpersonen festzumachen, hat die OrganisatorInnen der Zeltlager dazu bewogen, eine strikte Informationspolitik zu fahren und Kamerateams nur nach Anmeldung, unter Aufsicht und nur für kurze Zeit in die Camps zu lassen. Denn wie die Praxis zeigt, sorgt der Selektionsdrang in der Flut der Bilder und Gerüchte dafür, dass nur die quotenträchtigsten den Filter passieren können. Mit anderen Worten: was nicht skandalträchtig ist, wird skandalös gemacht. So wurde einer der friedlichsten G8-Gipfel der letzten Jahre zum inszenierten Ausnahmezustand.
Die Rolle der unabhängigen Medien
Mit Pauschalisierungen, der Ignoranz gegenüber Polizeigewalt, Desinteresse an alternativen Praxen und Ideen, sowie dem Kampf um die besseren Bilder sollte die ohnehin zersplitterte Linke anhand der Gewaltfrage gespalten werden. Es steht zu hoffen, dass durch das Internet und des daraus resultierenden vereinfachten Zugangs zu einem breiten Publikum, die Massenmedien diese einseitige Berichterstattung irgendwann überdenken werden. Auch wenn sie nur die Vorurteile ihrer Zielgruppe zu bedienen glauben, haben zahlreiche TV-Stationen und Printmedien an Glaubwürdigkeit eingebüßt, was sich über kurz oder lang auch in den Zuschauer- bzw. Verkaufszahlen zeigen wird. Hier sind alternative Modelle gefragt, die zwar auch schnell, dafür fundiert und aus einem anderen Blickwinkel berichten können. Indymedia hat es vorgemacht und als eigentlich reines Onlinemedium in der Gipfelwoche täglich eine Printausgabe aufgelegt, die den CampbewohnerInnen zusammenfassende Meldungen über das Tagesgeschehen und Augenzeugenberichte bot. Freie Teams aus VideoaktivistInnen haben sich zusammengefunden (beispielsweise g8-tv.org und interpool.tv) und relativ schnell ihre Bilder ins Netz gestellt. Freie Radios waren fast überall präsent und boten Einsichten, die sowohl erfrischend tiefgründig als auch unterhaltsam ein breites Publikum auf dem Laufenden hielten. Es ist wahrscheinlich, dass hiermit auch Leute angeregt wurden, sich selbst zu beteiligen und Neuigkeiten mit Informationswert weiterzugeben. Denn die News können nur so glaubwürdig sein, wie die Person, die sie weitergibt. Diese Modelle der Eigenpartizipation müssen weiterverfolgt werden und ständig die herrschende Medienrealität hinterfragen, wenn künftig die Bevölkerungsmehrheit auch die Positionen systemkritischer Initiativen und Netzwerke zu Gehör kriegen soll.
(bonz)