Olympia und Leipzig – war es Liebe?

Die Kandidatenstädte sind New York, Moskau, London, Madrid, Paris und … Nein! Keine sechste Stadt folgte. Erstarrte Gesichter, Buhrufe, Fassungslosigkeit… kurz darauf verlassen die ersten den Platz, auf dem Boden zerknüllte und zerrissene Winkelemente. Noch eine halbe Stunde vorher wurde gejubelt: „Leipzig 2012“ gab der Moderator vor. „one family“ kam es von den sicherlich 5000 Zuschauern zurück. Auch „Leipzig“-Rufe erschallten, wenn teilweise schon gequält klingende Durchhalteparolen („wir schaffen das“) durchgegeben wurden. Anfangs mußten die Animatoren auf der Bühne noch nachhelfen: „wir sind hier nicht zum Spass“, „das könnt ihr aber besser“, „ich will euch toben sehen“ wurden schließ­­­­lich befolgt und der Wunsch einer Mittzwanzigerin („Macht doch mal mit“) erfüllt. Es konnte sogar eine Laola-Welle zustandegebracht werden, die es allerdings nicht mehr zurück zur Bühne schaffte weil sie an einer schwarz abgetönten Containerwand zerschellte. Wer weiß, wer sich dahinter verbarg? Warteten dort Tiefensee und Milbradt auf ihren Auftritt um noch einmal zu bekräftigen, daß in Leipzig niemand gegen Olympia wäre. Als hätte es nicht drei Tage vorher die antiolympische Demo gegeben, die es sogar bis ins ZDF geschafft hat. Doch egal, schon kurz darauf war der Spuk vorbei. OBM und Ministerpräsident mußten gute Miene zum bösen Spiel machen und die guten Verlierer mimen. Tiefensee lobte die tollen Bürger, ihr Engagement und ihre Ideen – und wenn’s denn nicht Olympia ist, so gibts den City-Tunnel als Trostpflaster.

Doch brauchte es wenig Inhalte für kreative proolympische Aktionen. Die Notwendigkeit, das Mega-Event mit Argumenten zu unterfüttern, war bereits kurz nach der Entscheidung des Nationalen Olympischen Komitees obsolet geworden. So klar war die Zustimmung im öffentlichen und medialen Stadtbild vertreten, so marginal die Gegenstimmen, die, wenn sie denn kamen, durchaus rationaler waren als der Jubelbrei. Die Olympia-Bewegung war eine irrationale, ja eine kollektiv emotionale. Man brauchte keine Argumente mehr, denn es ging ja um Leipzig, denn man war ja Leipziger. Der Lokalpatriotismus war das größte Pfund für die Pläne Tiefensees, der sich wie kein Anderer mit Olym­pia identifiziert hat und wurde. 11.000 sollen für Olympia durch Leipzig gejoggt sein, mit Staffelstab, Olym­pia- und Deutsch­land­fahne. Damit ist die Reaktion der Leipziger auf die Olympiapläne nicht zu vergleichen mit den Reaktionen, die ein Redakteur des FA! in London beobachtete. Hier eine Kleinstadt, die sich darauf freut einmal groß zu sein; dort eine Großstadt, die ohne Aufkleber und Fahnen auskam, in der die Menschen an solche Großprojekte gewöhnt sind und erkannt haben, daß diese ihr alltägliches Leben nicht verbessern. Viel­leicht wer­den auch die Leip­ziger eines Tages diese Erfahrung machen.

Woher kommt der Wunsch nach einer kollektiven gemeinschaftlichen Vision? Liegt es an der Vereinzelung innerhalb der kapitalistischen Maschinerie? Am Arbeitsplatz ist mensch doch nichts mehr als ein kleines Rädchen im Getriebe, gehetzt von den Vorgesetzten, sechs bis zehn Stunden Unfreiheit. Mit Olympia können die so Malträtierten plötzlich etwas sein, Teil etwas Größerem, was sie aus ihrer Routine heraushebt. Gerne nehmen sie die kollektive Vision an, die ihnen von oben geschenkt wird. Der schon längere Zeit grassierende Leipzig- und Standortpatriotismus erreichte mit dem Olympiataumel seinen vorläufigen Höhepunkt. Forciert wurde er unter anderem im Zuge der BMW-Bewerbung durch die Stadt, anlässlich der Antinaziaktionen und Montagsdemons­tratio­nen durch zivilgesell­schaftliche Kreise um die Niko­lai­kirche, dem Aktionskreis Frieden und dem Bündnis „Courage zeigen“ und nicht zuletzt auch im Rahmen der alljährlichen Stu­dieren­­den­­proteste der letzten Jahre (der Januarstreik ist weitgehend ohne Standort­argu­mentation ausgekommen). Auch an den Wahlplakaten zur Stadtratswahl am 13.6. sieht man, „Leipzig“ scheint für die Werbeagenturen der wirksamste Köder, um die Leute zu fangen und an die Leine zu legen. Kombiniert mit Deutschland wird das Netz perfekt. Die Nation und eine konstruierte lokale Gemeinschaft bilden für viele den Fluchtpunkt aus den eigenen erniedrigten Lebensumständen. Aber die Menschen hängen am Gummiseil. Es schnellt zurück in die öde Realität, die Nationalismus und Lokal­patriotismus nur übertünchen können. Anstatt zu verdrängen, daß man nur ein kleines Rädchen ist, daß man gezwungen ist, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen und Befehlen Folge zu leisten, sollte man aufhören ein Rädchen zu sein. Dies ist wichtig, um nicht auf die nächsten lo­kal­­patrio­ti­schen „Brot und Spiele“ hereinzufallen.

Es gibt aber auch Leute, die ganz handfeste Gründe haben. So argumentierte ein Bauarbeiter, er sei für Olympia, weil er hoffe, damit seinen Arbeitsplatz zu sichern. Dies zeigt zumindest, daß die Analyse nicht ganz so einfach ist und die Frage noch unbeantwortet bleibt: Gibt es die „One family“ oder ist sie nichts weiter als eine mediale Projektion? Dieser Slogan, kreiert durch die Werbeagentur Heimrich & Hannot, ähnelt, auch wenn er in englischer Sprache daherkommt, dem Konzept der Volksgemeinschaft. In der „einen Familie“ verschwimmen Unterschiede und Gegensätze in der homogenen Gemeinschaft, alle sind einer Meinung und arbeiten an ihrer Position als kleiner Angestellter oder Firmenboß. Es handelt sich hier also um eine Festschreibung der derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die real allein schon durch die ungleiche Mittelverteilung zur Produktion und Konsumtion von Gütern Interessensgegensätze hervorbringt. Diese existieren allerdings in der „einen Familie“ nicht mehr, werden eingeebnet, die kleinen Rädchen sollen mit ihrer Position zufrieden sein.

Nun gibt es diese Umfragen mit den 90 % Zustimmung, deren Pro­paganda­­funktion unübersehbar ist und deren Vertrauenswürdigkeit sicher nicht unhinterfragt angenommen werden kann.

Andererseits haben wir auch die Staffelläu­fer, die vielen Vereine, die Jubelhymnen in der LVZ, der Trauerflor nach der Niederla­ge und eine allgemein starke Leipzig­identi­fikation, die durchaus eine Mehrheits-„one family“ möglich erscheinen lassen. Auch der Gegensatz zu London wurde von uns bereits festgestellt. Dem gegenüber steht die materielle Hoffnung unseres Bauarbeiters, die verlogene Zahl von tausenden Teilnehmern an der Pro-Olympia-Menschenkette anlässlich der Anti-Olympia-Demo, und natürlich auch die passive Mehrheit, die weder proolympische noch antiolympische Neigungen in die Öffentlichkeit getragen hat und deren Position daher nur gemutmaßt werden kann. Es gibt in Leipzig einen starken Lokalpatriotismus, aber ist er tatsächlich so stark, wie ihn „one family“, die Volksgemeinschaft aus der PR-Agentur, erscheinen lässt?

Für uns, die dem Olympia­hype mehr als skeptisch gegenüberstanden, ist dies eine Frage, die uns weiter beschäftigen wird.

kater francis murr

Lokales

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