Plaque e.V. kauft Industriestraße 101

27. Oktober, 11 Uhr, Amtsgericht Leipzig, Raum 101:

Die zweite Zwangsversteigerung (1) von Haus und Hof in der Industriestraße 101 beginnt und im Laufe der Verhandlung wird sich der Gerichtssaal noch mit ca. 30 Bewohner- und Unter­stützer_innen des linken Hausprojektes Plaque füllen. Der junge Herr Vorsitzende betet die Formalitäten im teilweise kryptischen Amtsdeutsch runter, Rechtsanwalt und Gläubigervertreter Günter von der Florian Vermögensgesellschaft lächelt immer wieder verschmitzt in die Zuschauerrunde und Zwangsverwalter Helmut kommt 10 Minuten zu spät.

Es ist sehr still im Raum als um 11:12 Uhr die auf eine halbe Stunde angesetzte Versteigerung ihren Anfang nimmt. Das große Warten beginnt und es wird unruhig im Saal. Ein Vertreter des Vereinsvorstandes muss vortreten und Unterlagen wie Bürgschaft und Auszug aus dem Vereinsregister etc. vorlegen. Um 11:30 Uhr wird dann das Gebot des Vereins bekannt gegeben: 100.000 Euro. Die Nervosität wächst und die Frage, ob nun noch andere Mitbieter zu dieser Versteigerung erscheinen werden, hängt schwer und unausgesprochen in der Luft. Um 11:43 fällt endlich der (imaginäre) Hammer – verkauft! Herzlichen Glückwunsch lieber Plaque e.V., Ihr seid neuer Hausbesitzer und Eigentümer.

RM943

Eigentlich wäre das Plaque im Oktober diesen Jahres bereits mutige 15 Jahre alt geworden. Von Frühjahr bis Herbst 1994 kam es zu einer Besetzung der Häuser in der Aurelienstr. 56-58, gleich hinterm heutigen Jahr­tau­send­feld und so im Grenzbereich Plagwitz/Lindenau im Leipziger Westen. Die neuen Bewohner­innen der zuvor leer stehenden Altbauten wollen zusammen leben und gründen den Verein RM943 e.V. Sie richten Werkstätten, Kneipe und Lesecafé ein, veranstalten Konzerte und suchen jenseits der starken Naziaktivitäten in Grünau, bürgerlichen Einzimmerwohnungen sowie Conne Island in Connewitz sich selbst zu finden.

Was fehlte und auch nicht vermisst wurde, machte den ca. 14 Be­wohn­er_innen letztlich doch den Strich durch die Rechnung. Unerwartet und unvorbereitet wurden sie am frühen Morgen des 20. Oktober 1994 mit gezogener Waffe aus dem Bett gezerrt, eingefahren, ED-be­handelt und erst am Abend wieder frei ge­lassen. Ganz in jämmerlicher Manier der Leip­ziger Linie fand diese Hausbe­setzung so ein abruptes Ende. Anklagen auf Haus­friedensbruch, illegalen Gast­stätten­betrieb, Ruhestörung usw. folgten.

Was blieb, war die Verhandlungsbereit­schaft der Stadt, die dem Verein Ausweichobjekte anbot. Einige Ex-Besetzer_innen entschieden sich nach Connewitz zu ziehen, andere wollten in Plagwitz bleiben und auch den Verein nicht aufgeben und zogen so im April 1995 in das LWB-verwaltete Haus in der Industriestraße 97 ein. Aus RM943 wurde das Plaque.

1995 – 2010

Der erste Cafébetrieb fand im Keller des Hauses statt und erst ab Mitte 1996 im Erdgeschoss. Es war der Ort, wo über die Zeit die legendären Halloweenparties und Bingonächte, der Suppendienstag und Punkertresen ihren Anfang nahmen. Ansonsten waren die ersten Jahre mehr braun als rosig. Mindestens drei Mal schafften es Nazis sogar bis in’s Haus hinein. Das Café und auch die Wohnungen wurden verwüstet und nicht nur nagelneue Springerstiefel geklaut. Die Stahltür im unteren Hausflur, Fensterläden und Plexiglas im Erdgeschoß waren daraufhin nur eine Konsequenz. Heldenhaft wurde sich weiter – und nicht nur vor dem Plaque – den Nazis in den Weg gestellt.

Weniger Stress gab es mit der LWB, die all die Jahre keine wirkliche Rolle spielten, außer dass sie wahrscheinlich froh war, die eine oder andere Miete der 6-11 Bewohner_innen zu verzeichnen. Diese versuchten aber schon damals von der LWB weg zu kommen. Das Thema Hauskauf kam immer wieder zur Sprache. Es gab Optionen wie Erbpacht und Zusammenarbeit mit der Connewitzer Genossenschaft, doch konnten diese nie umgesetzt werden.

Haus und Hof in der Industriestr. 97 schien auch nicht so optimal zu sein. Der Riss in der Wand des Hausflures wurde stetig breiter und war nur eine Baustelle im Haus, die durch Reparaturmaß­nahmen vom Vermieter hätte behoben werden müssen. Ende des Jahres 2005 war es dann soweit, dass aufgrund maroder Bausubstanz und akuter Einsturzge­fährdung die LWB das Mietverhältnis auflöste. Auch wenn diese Ausweichobjekte anbot, wurde das neue Plaque eher aus Eigeninitiative zwei Häuser weiter in der Industriestr. 101 gefunden.

Bereits seit dem Jahr 2000 stand dieses Haus leer. Der ehemalige Eigentümer hatte sich damals (wohl nicht nur im Immo­bilienhandel) verspekuliert und ist heute mit 1,5 Millionen Euro bei der Bank verschuldet. Im Laufe der Zeit soll es zwar andere Kaufinteressenten gegeben haben, die jedoch in den laufenden Zwangs­versteigerungsverfahren nie mitgeboten haben. Der Verkehrswert lag bei 250.000 Euro, doch letztlich und glücklicherweise erhielt der Plaque e.V. mit einem 100.000-Euro-Gebot (2) den Zuschlag.

Wie geht’s also weiter? Die 100.000 müssen bis Anfang Dezember überwiesen sein. Damit nicht genug, kommen noch Zinsen, Gerichtskosten, Versicherungsgebühren sowie allgemeine Erwerbskosten wie für Notar und Grundbucheintrag hinzu. Vielleicht müssen ja die Mieten erhöht oder mehr Konzerte, Voküs, Bingonächte oder politische Veranstaltungen organisiert oder einfach mehr Bier getrunken werden. Wichtig ist erst mal, dass es auch weiterhin „Willkommen im Plaque“ heißt – ob nun zum Sonntagsfrühstück von 12-16 Uhr oder abends zur Vokü, zum Suppendienstag, Punkertresen am Mittwoch, Edelvokü jeden Donnerstag jeweils ab 20 Uhr oder zu den nun auch zukünftig stattfindenden Tanzflächen, Bühnen­shows, Zockerfreuden und Trinklaunen.

(droff)

(1) Dies war bereits der 3. Termin im letzten Zwangsversteigerungsverfahren. Die ersten Verfahren liefen ohne Beteiligung des Plaques und wohl ohne jegliche Kaufinteressent_innen.

(2) Ein erster Ersteigerungsversuch scheiterte Anfang April 2009, da der einzige Bieter Plaque mit 95.000 Euro unter dem Min­dest­ge­bot lag und so das Angebot ab­ge­lehnt wurde. Der nächste Termin am 10. August wurde vom Gericht verschoben, weil ein Brief an den Eigentümer nicht zugestellt werden konnte.

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