Pro & Contra: Schick ich mein Kind auf eine staatliche Schule?

Für politisch interessierte Eltern ist die Entscheidung über die Schulform des Nachwuchses sicher keine leichte. Denn diese hat nicht nur ganz individuell etwas damit zu tun, was mensch sich bei Themen wie Freundschaften, Umfeld, Lernerfahrungen, zukünftige Perspektiven und die Vorbereitung auf die sog. „reale Welt“ für das Kind verspricht, sondern ist auch eine kollektiv-politische Frage. Denn welche Chancen haben noch die Kinder staatlicher Schulen, wenn sich alle engagierten Eltern (sofern es die geografische Lage und der Geldbeutel zulässt) auf Privatschulen wie bspw. Freie Schulen zurückziehen? Aber muss deshalb das eigene Kind zum Märtyrer werden? Wäre es das überhaupt? Diesen und weiterführenden Fragen widmen sich im Folgenden unsere Pro&Contra-Kontra­hent_in­nen:

PRO:

Spätestens mit dem Infobrief zur Schulanmeldung wurde mir klar, dass nun eine neue Epoche beginnen wird, unser Sohn wird bald ein Schulkind sein. Aber dann stand da: Einzugsgebiet Ernst-Pinkert-Schule, Martinstraße. Ich hatte von dieser Schule schon gehört, ihr schlechter Ruf eilte ihr bereits meilenweit voraus. So ging ich mit gemischten Gefühlen auf Argu­mentsuche und schaute mir die Schule mal an.

Nach eingehender Recherche und meinen bislang gesammelten Erfahrungen habe ich mich gegen den Besuch einer staatlich anerkannten Ersatzschule (Freie Schule) und für die Martinstraße entschieden, und zwar aus folgenden Gründen: Freie Schulen haben ein bestimmtes Klientel. Selbst wenn freie Schulen nicht teuer sein müssen, erfolgt dennoch eine Art soziale Segregation. Die Eltern entscheiden sich bewusst für eine freie Schule und nehmen den Mehraufwand von Zeit (Suche, Anmeldung) und Kosten in Kauf. In der Regel gehen Kinder aus sozial schwächeren, ‘bildungsfernen’ Schichten seltener auf freie Schulen. Dies fördert die Spaltung der Gesellschaft.

Doch soll mein Kind nur auf eine staatliche Grundschule gehen, um meine gesellschaftliche Idealvorstellung zu befriedigen? Nein, denn der Besuch einer freien Schule in Leipzig bedeutet nicht gleichzeitig eine bessere Lernatmosphäre.

Freie Schulen werben z.B. mit kleinen Klassen, Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung, teilweise mit altersdurch­mischtem Stammgruppen­unterricht. Schaut man allerdings genauer hin, so schneiden staatliche Grundschulen diesbezüglich nicht unbedingt schlechter ab.

Die durchschnittliche Klassenstärke liegt in Sachsen bei 19,6 Kindern. Freie Schulen haben ähnliche, u.U. sogar größere Klassen, da sie meist, trotz großer Nachfrage, einspännig laufen (z.B. Waldorfschule). Damit fällt das Kriterium der Klassenstärke bei der Entscheidung, ob freie Schule oder nicht, für mich weg.

Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung spielen auch mittlerweile in staatlichen Schulen eine große Rolle. Ein wichtiges Argument für die Wahl einer freien Schule wäre für mich tatsächlich ein klassenübergreifender Unterricht, der Stammgrup­pen­unterricht. Al­ters­gemischter Unterricht ist eine große Herausforderung für alle Teilnehmer und eine tolle Möglichkeit zum Wissenserwerb. Thüringen (z.B. Jena-Plan-Schulen) hat gezeigt, dass dieses Konzept durch­aus auch staatlich konfiguriert werden kann.

Die freie Schulszene bietet für mich in Leipzig diesbezüglich keine echte Alternative. In unserer Stadt gibt es al­ler­dings nur genau zwei Ersatzschulen, die einen Stamm­gruppen­unterricht anbieten. Die Grundschule des evangelischen Schulzentrums unterrichtet die erste und zweite Klasse gemeinsam. In der kleinen Grundschule Auguste lernen sogar insgesamt 47 Kinder der Klassen 1-4 gemeinschaftlich.

Ein weiteres Kriterium für den Besuch einer staatlichen Schule ist die Motivation bzw. Qualifikation der Lehrkräfte, denn ich behaupte, dass die Qualifikation der Lehrer an staatlichen Schulen oftmals besser ist als an staatlich anerkannten Ersatzschulen. Für viele frisch examierte Anwärter ist eine Stelle an einer freien Schule nur zweite Wahl. Stellen an staatlichen Schulen sind rar und heißbegehrt. Lehrer an freien Schulen erhalten nur 80% des staatlichen Lehrertarifs. Ich kann mir schon vorstellen, dass sich das auf die Motivation der jeweiligen Lehrkraft auswirken kann. Dies führt u.a. dazu, dass freie Schulen häufiger von Lehrerwechsel betroffen sind als staatliche Einrichtungen.

Nun, nach diesen ganzen Überlegungen wird mein Sohn auf die Martinschule gehen, ich werde mich aktiv am Elternrat beteiligen und versuchen den Schulalltag mit anderen gemeinsam mitzugestalten. Nach wie vor finde ich altersgemischten Stammgruppenunterricht gut, und ich bin durchaus der Überzeugung, dass auch in Sachsen ein derartig alternatives Schulkonzept staatlich realisiert werden könnte.

molly

# Soziale Segregation verhindern

# Qualifikation der Lehrer_innen ist gesichert

# Motivation der Lehrkräfte höher durch tarifliche Löhne

# Auch Stammgruppenunterricht und kleine Klassenstärke ist organisierbar

CONTRA:

Anweisungen, Abfragen, Lob, Tadel, Drohungen, Strafmaßnahmen, Beurteilungen, Beschimpfungen – ca. 90 % einer Schulstunde in einer dauernden Endlosschleife… Während diverser Praktika und Hospitationen im Leipziger Grundschullehramts­ studium hatte ich mehr und mehr das Gefühl, per Zeitmaschine in die schönsten wilhelminischen Jahre abzutauchen – wenn sich die Klassenzimmertür hinter den versammelten Kindern schloss und die Reglementierungen, Zurechtweisungen und sonstigen Monologe der Lehrkraft wieder losgingen. Ein paar Jahre Unterricht dieser Sorte hatten sich erkennbar bei den Kindern ausgewirkt: Unterwürfigkeit gegenüber den Lehrerinnen, Unehrlichkeit in Bezug auf Regeln und latente Mobbing-Atmosphäre gegenüber Schwächeren herrschten vor. Genau die Stimmung also, die auch das Arbeitsleben so vieler Erwachsener prägt, hier wurde sie in ihrer Entstehung sichtbar – der Unterwerfung der Subjekte quasi.

Nachdem ich ähnliche Beobachtungen von autoritärem und langweiligem Unterricht an immer mehr Schulen gemacht hatte, beschloss ich das Berufsziel „Lehrer“ zu streichen. ReferendarInnen und junge LehrerInnen können zwar immer wieder versuchen das System Regelschule zu reformieren, erwartet wird in der Praxis aber ihre lückenlose Anpassung. Die reformorientierten Ansätze im Lehramtsstudium werden nämlich größtenteils im praktischen Teil der Ausbildung fallen gelassen. Sprüche wie: „Jetzt vergessen Sie mal was Sie im Studium gelernt haben!“ kennen wohl die meisten jungen Päda­gogInnen. Und mensch passt sich dann eben doch an.

Die Zusammenfassung von Otto Herz, an deutschen Regelschulen würden Kinder des 21. von Lehrkräften des 20. in einem System des 19. Jahrhunderts unterrichtet, ist also naheliegend. In diesen Schulen wird allzu oft die kollektive Resignation des Kollegiums während des Unterrichts auf die sonst so lebendigen Kinder übertragen, bis diese, kurz gesagt, der Mehr­heits­gesellschaft angepasst sind.

Es wäre sicher ungerecht, der Regelschule jede Reformierbarkeit abzusprechen. Viele engagierte LehrerInnen arbeiten teils seit Jahrzehnten daran und es wurden und werden durchaus Fortschritte erzielt. Leider werden diese Ansätze oft verwässert – so bedeutet „Freiarbeit“ meist nur noch, dass Arbeitsblätter „frei“ ausgefüllt werden dürfen, bis alle Kinder dieselben Blätter bearbeitet haben – oder können durch simple Ge­gen­re­for­men wie­der aufgehoben wer­den. Ein Beispiel für ein solches roll-back ist die Einführung des ADH-Syndroms (1): Kinder die sich ungenügend dem Frontalunterricht fügen, sind dann eben krank. Kein Wunder dass ein solches Modell in den altmodischsten Schulen am eifrigsten zur Rettung und Modernisierung althergebrachter Diszi­plinierungspraxis aufgegriffen wird. (2)

Wenn ich also nicht 20 Jahre warten will, bis die sächsische Regelschule vielleicht mal erträglich geworden ist, weil ich jetzt ein Kind im schulpflichtigen Alter habe, bleibt nur eine alternative, freie bzw. demokratische Schule übrig.

Diese Schulen sind bestimmt keine paradiesischen Inseln und laborieren seit eh und je an diversen Problemen, wie zum Beispiel Leistungsnachweisen. Es scheint nicht leicht zu sein, den Bildungserfolg von Kindern objektiv zu messen, wenn keine Lehrplaninhalte anhand von benoteten Tests abgefragt werden können. Die Vorteile äußern sich eher subjektiv:

Dadurch, dass die Kinder keinem fremden System unterworfen werden, sondern Räume, Inhalte, Zeitplan und Methoden selber beeinflussen können, werden andere Kompetenzen erlernt – nicht Anpassung, sondern Selbstwirksamkeit, nicht Konkurrenz sondern Kooperation, nicht Befehls­ ausübung sondern Mitbestimmung. Diese Unterschiede sind nicht deshalb so drastisch, weil in freien und demokratischen Schulen die besseren Leh­rerInnen oder Kinder wären, sondern weil ihre Struktur auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit ausgelegt ist und sich damit den Bedürfnissen der Menschen anpasst.

Zwar wird freien Schulen oft vorgeworfen, einer gewissen bildungsaffinen Schicht eine Wohl­fühleinrichtung zu bieten und alle anderen in der Regelschule allein zu lassen. Aber was soll daran elitär sein, wenn ich meinem Kind jahrelangen autoritären Unterricht ersparen will? Die Perspektive einer demokratischen Schule ist es ja gerade, offenen Unterricht exemplarisch vorzuleben und damit langfristig auch die Reform der Regelschule zu beeinflussen.

Um diese Entwicklung voranzubringen und gleichzeitig eine allgemeine Bildungsgerechtigkeit herzustellen wäre es natürlich wichtig, Schulen in freier Trägerschaft den staatlichen Schulen rechtlich und finanziell gleichzustellen. Dadurch gäbe es keine „alternativen“ oder „Regelschulen“ mehr, sondern alle Eltern und Kinder hätten die freie Wahl der Bildungseinrichtung. Bis es soweit ist, müssen sich Leute wie ich eben gegen die Mehrheitsgesellschaft entscheiden.

soja

(1) Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperakti­vitäts-Syndrom. Mit Aufmerksamkeits-Defizit ist aber nicht gemeint, dass die Kinder zu wenig Aufmerksamkeit bekämen, sondern aufbringen würden.
(2) Die so abgestempelten Kinder können dann wieder speziell „integriert“, sprich diszipliniert, werden. So kann sich der Unterricht „integrativ“ und die Schule „Integrationsschule“ nennen, aber das ist wieder eine andere Geschichte…

# Förderung von Haltungen der Unterwürfigkeit, Unehrlichkeit und Ungleichwertigkeit

# Als Lehrkraft wenig Gestaltungsfreiheit beim Unterricht

# Freie Schulen setzen auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit

# Alternative Schulen zeigen Reformmöglichkeiten für staatliche auf

Schreibe einen Kommentar