Reisebericht: Turkey – Imagined Community II

Von der Istanbuler Bronx in die Anatolische Einsamkeit

Ich bin umgezogen. Mich hat es aus dem touristenüberwucherten, hippen Avantgarde-Viertel Galata (FA! #32 „Turkey – Imagined Community”) in das Istanbuler Armenviertel Tarlabasi im Stadtteil Beyoglu, auch Taksim genannt, verschlagen, der seit jeher von Ungläubigen bewohnt wurde. Tarlabasi ist die Bronx von Istanbul und sein Ruf eilt ihm voraus. Wenn ich erzähle, dass ich dort lebe, reichen die Reaktionen von betretenem Schweigen bis hin zu ungläubigem Entsetzen. Kurden, Rum (Griechen), Roma, Drogen, Transsexuelle, billige Absteigen ist, was die Mehrheit Istanbuls allgemein mit Tarlabasi verbindet. Was ich damit verbinde?

Faltige, gegerbte Gesichter mit Kippenstummel zwischen zahnlosen Lippen, den billigsten und lautesten Wochenbazar Istanbuls jeden Sonntag direkt vor der Tür mit Türmen von frischem, lachenden Obst und Gemüse und geklauten Klamotten. Das Lachen der ungeschminkten Transen vor mir an der Kasse im Supermarkt, in dem ich nie genug Geld dabei hab und trotzdem alles bekomme. Der Panzer und die permanente Polizeipräsenz in der Nähe des DTP-Büros („Partei der demokratischen Gesellschaft“: Partei für die nationale Anerkennung der Kurden und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage). Dutzende kleine Barbiergeschäfte, in denen eitle Männer und die, die es noch werden wollen rasiert und gestylt werden. Der kurdische Bakkal-Verkäufer, der Plastikhandschuhe für die Hygiene trägt und immer eine mit mir raucht, wobei er sich manchmal ein Loch in seine Handschuhe brennt. Der braune Stuhl vor unserem Haus, auf dem jeden Tag unser Apfelverkäufer sitzt und minikleine gelbe und rote Äpfelchen loszuwerden sucht, die manchmal von vorbeiziehenden halb­starken Horden, aus den Kisten geklaut werden, während der Alte nachsichtig lächelt. Im ca. 2,5 m² großen Elektronikladen, der von oben bis unten und von vorne bis hinten mit Dingen voll gepackt ist, hat weder ein Kunde, geschweige denn der Besitzer Platz, auch nur einen Fuß in den Laden zu setzen. Und die verschmitzt lächelnde alte Frau mit den weißen Haaren, die in der Unterführung neben der Mülltonne die paar Habseligkeiten verkauft, die sie (gefunden) hat, neben ihr ein Mann, der nicht mal Habseligkeiten hat, sondern nur eine Waage, auf der mensch sich wiegen kann.

Und dann gibt es da noch den kurdischen, alten Schneider, der in jungen Jahren in Paris gearbeitet hat. Hinter Fensterscheiben, die aussehen, als hätten sie ihren letzten Putz vor 20 Jahren erhalten, sitzt er vor seinem Schneidertisch auf dem sich Spulen, Garne und Klamotten türmen. Als wir das erste Mal von Jungs aus dem Viertel durch einen Moschee-Innenhof zu ihm gelotst wurden, um unsere verschlissenen Klamotten reparieren zu lassen, hat er anstatt der Kleidung zunächst unser Gesicht vermessen. Er mache Physiognomie-Studien, sagte er und presste kurz und fest beide Daumen gegen eine Stelle oberhalb unserer Augenbrauen. Er bat uns etwas zu schreiben, um aus unserer Handschrift auf unsere Persönlichkeit zu schließen. Ich schrieb und sein erster Kommentar: „Hässlich, sehr hässlich”. Ich lächelte ihn verlegen an. Ich war noch nie be­sonders stolz auf meine Buchstaben-Trümmerhaufen-Handschrift, die ein bisschen der Steno-Schrift meines vom Dokumentationsgeist besessenen Großvaters ähnelt und die ich manchmal selbst nicht entziffern kann. „Ich sollte die Dinge langsamer angehen”, so der gut gemeinte Ratschlag des Schneider-Psychologen, „nicht so sehr durchs Leben hetzen”. Ich muss grinsen und an Leipzig und Projektneurosen denken.

Wahlkampf

Jede befahrbare Strasse der 20 Millionen Metropole ist behangen mit bunten Plastik-Fähnchen auf denen Glühbirnen und Pfeile gedruckt sind. Sie hängen über Brücken, zwischen Straßenlaternen, Moscheen und anderen Gebäuden und schmücken die Autobahnen. Die Szenerie hat etwas Karnevaleskes. Nur feiert niemand. Es ist Wahlkampf…und Plastikmüll-Potlatch. Gekämpft wird gegen die Umwelt und ansonsten gegen alles andere, was unrecht ist. Klientelismus par excellence. Erdogans AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung”: islamisch-konservativ ausgerichtet, derzeit stärkste Fraktion im türkischen Parlament) beliefert ihre frierenden Wähler in spe schon mal mit ausreichend Kohle, um ihnen die um 80% gestiegenen Heizgas-Preise zu ersparen. Manche bekommen neues Einrichtungsmobiliar, andere Kühlschränke. Der Fall einer Familie wurde bekannt, die sich über den neuen Kühlschrank theoretisch gefreut hätte, wenn sie denn ans Stromnetz angeschlossen wäre.

Das faszinierendste an diesem Wahlkampf sind die politisierten Massen, die in Bewegung gesetzt werden. Zehntausende strömen zu den einzelnen Kundgebungen und schwenken, als ginge es um ihr Leben, die Fahnen zu Phrasen wie: „Wir werden die Armut in Ostanatolien abschaffen“.

Dort tobt indes seit Monaten die „Schlacht um die Festung Diyarbakir“, der Hauptstadt des türkischen Kurdistans. Im Fernsehen werden unaufhörlich Bilder von Demonstrationen und Gefechten zwischen PKK („Kurdische Arbeiterpartei“: kämpft mit Waffengewalt für politische Autonomie kurdisch besiedelter Gebiete in der Türkei) und Sicherheitskräften mit Toten und Verletzten gesendet, die an Bürgerkriegszustände erinnern. Die der PKK nahe stehende Kurdenpartei DTP, die seit wenigen Jahren Sitze im Parlament hat, hat eigene Wege gefunden dem anhaltenden Konflikt zu begegnen. Die Reformversprechen der AKP, etwa ein freierer Gebrauch der kurdischen Sprache, konterte die DTP geschickt mit einer Ansprache auf Kurdisch im türkischen Parlament. Da das jedoch weiterhin verboten ist, entpuppte sich die von der AKP versprochene neue Freiheit rasch als hohles Versprechen. Die PKK ihrerseits hat in den vergangenen zwölf Monaten wiederholt versucht, mit Gewalttaten Präsenz zu demonstrieren.

Anatolien

Ein Schlagloch reißt mich aus meinem seligen Schlaf. Ich blinzele aus dem Busfenster, der Sonne mitten ins Gesicht. Draußen ist es staubtrocken. Die kubischen Häuser, Palmen, der Boden und Olivenhaine, alles erscheint in demselben Farbton, als hätte jemand mit einer Riesendose Puderzucker über die Landschaft gestreut. Ich schwitze. Nach zweieinhalb Monaten nasser Plörre in Istanbul und einigen gescheiterten Versuchen der Beton-Megapolis für ein paar Tage zu entfliehen, eine Genugtuung. Auf der Straße laufen Muslime mit violetten, lose um den Kopf gebundenen Tüchern und Salvar-Hosen, die bis zum Knie eng wie eine Leggins sind und dann breit wie ein Rock werden. In all den winzigen Dörfern, an denen wir vorbei tuckern, scheinen die Menschen zu arbeiten. Frauen bücken sich über das Feld, während ihnen eine abgemagerte Kuh zuschaut, Ziegel werden getragen, Weizensäcke geschleppt, Teppiche geschüttelt, immer wieder Schäfer und kleine Menschengruppen, die irgendwo im Nirgendwo die Straße entlang spazieren. Seelenruhig. Vorbei an kilometerlangen Steinfeldern, am Horizont schroffe Bergketten und sonst nur Himmel. Dann brechen plötzlich Hochhaus-Bauten aus der Erde. Mitten im Nichts. Brachiale Siedlungsmethoden. Die Erde blutet.

Deutsche Bürokratie auf türkischen Klos

Klopause. Der Bus wird mit einem an einen Besen befestigten Schlauch von oben bis unten geschrubbt, als ginge es um ein re­ligiöses Waschritual. Am Kloschalter sitzt ein etwa 50-jähriger Mann, der mir, nachdem er sich nach meiner Herkunft erkundigt hat, einen Brief aus seiner Kabine entgegenstreckt. „In amtlicher Sache“ steht in deutsch darauf. Ein Scheidungsbescheid mit Zahlungsaufforderung. Was die wollen, will er wissen. Bestimmt werde er sich nicht bei denen melden. Seine Frau…in Ham­burg…dann wieder ein Klokunde auf der anderen Fensterseite, der uns neugierig beobachtet, während er auf sein Rückgeld wartet…er neunmal dort gewesen…keine dauerhafte Auf­ent­halts­genehmigung…ich verstehe nur Brocken, sowohl auf deutsch als auch auf türkisch. Er will, dass ich ihm den Brief vom Anwalt übersetze. Der deutsche Staat schafft es sogar, seine verklausulierten Phantasien in ein Klohäuschen im tiefsten Ana­to­lien zu transportieren und mich dazu zu bringen, den Krampf auch noch zu übersetzen. Dabei wäre es nicht mal das Klopapier wert.

Staudamm im Paradies

Wir leihen uns ein Auto und fahren nach Hasankeyf. Eineinhalb Stunden von der Hauptstadt des türkischen Kurdistan am Tigris liegt das Paradies. Hier soll der Garten Eden gewesen sein. Grüne, saftige Wiesen vor schroffen Bergketten. Felshänge erheben sich aus dem Strom des breiten Flusses, alle paar Meter Löcher im Fels, dahinter Höhlenlabyrinthe. Die PKK-Rebellen sollen hier unter anderem ihre Rückzugsgebiete haben. Nur noch wenige kennen die unterirdische Geographie. Wir halten vor einer alten Mauer. Kinder rennen uns entgegen. Die Mädchen haben riesige Sträuße von irgendeinem Kraut in ihren Armen. Ich habe den Namen vergessen, aber die halbgeschälten Stiele, die sie uns kiloweise anbieten, sind extrem lecker. Wir tollen mit ihnen über die Wiesen, dann zeigen sie uns die Reste osmanischer Grabmäler, Hammams (türkisches Bad) und Burgen aus Zeiten des Reichtums.

Die Geschichte von Hasankeyf vor der christlichen Zeitrechnung liegt im Dunkeln. Danach befand es sich unter wechselnder Herrschaft durch die Oströmer und ihr byzantinisches Reich und die Sassaniden, die das zweite persische Großreich gründeten. 0m Lauf der islamischen Expansion eroberten die Araber diesen Ort. Seitdem lebten die Christen unter islamischer Hand. Später wurde Hasan­keyf von den Mongolen überrannt, die die Stadt verschonten. Anfang des 15. Jahrhunderts beanspruchten die Osmanen das Gebiet für sich. Im 16. Jahrhundert soll die Stadt an die 10.000 Einwohner gehabt haben, davon 60% Christen. Mit der Zeit hat Hasankeyf immer mehr an Größe und Bedeutung verloren. Außer bei den Kurden, wo es den Status einer Kultstätte bzw. eines nationalen Erbes behielt. Während des Genozids an den Armeniern 1915-17 war Hasankeyf Vernichtungsort, da sich Deportationsrouten dort kreuzten. Hassankeyf heute ist ein Dorf, das vom Tourismus lebt, die sich die alten Höhlenlabyrinthe anschauen. Keiner kann mehr genau sagen, wie diese Höhlen entstanden sind. In manchen wohnen noch immer Familien.

Wir sprechen mit einem etwa 50-jährigen Mann, der ein kleines Café am Tigrisufer des Dorfes betreibt und uns hungrigen Mäulern Tomaten und Brot bringt. Er ist in einer der Höhlen geboren und erzählt uns von dem seit Jahren von der türkischen Regierung geplanten Staudamm-Projekt, das das Dorf samt seinen Schätzen, Höhlen und angrenzenden Gebieten in eine pittoreske Unterwasserlandschaft für Tiefseetaucher verwandeln soll. Im März 2007 entschied sich die deutsche Bundesregierung gemeinsam mit der Schweiz und Österreich zur Übernahme einer Exportkreditgarantie. Die Türkei habe sich zu Maßnahmen verpflichtet, die weit über die bisher bei Staudammprojekten geübte Praxis hinausgehen, hieß es. Zu den Zugeständnissen zählen ein detaillierter Umsiedlungsplan sowie die Zusicherung von Arbeitsplätzen für die betroffene Bevölkerung, die Umsetzung bedrohter Kulturdenkmäler aus Hasan­keyf in einen Kulturpark sowie die Garantie eines Mindestdurchflusses gegenüber den Unterliegern Syrien und Irak, von deren Umsetzung bislang nicht viel zu erkennen ist.

Der Cafébesitzer erzählt von Uta Roth, der Grünenvorsitzenden, die Hassankeyf eine Woche vor uns besucht und bestaunt hat. Sie kam im Auftrag der deutschen Regierung, die das Projekt bis dato maßgeblich mitfinanzieren wollte. Aufgrund anhaltender internationaler Proteste und der ungenügenden Einhaltung der geforderten Auflagen durch die Türkei, hat die deutsche der türkischen Regierung mitgeteilt, das sie nicht mehr an der Finanzierung interessiert sei, worauf die türkische Regierung geantwortet hat, dass ihr das herzlich egal sei und sie das Projekt auch ohne die Hilfe Deutschlands in Angriff nehmen werde. Aber auch die Schweizer haben ihre Gelder bis auf weiteres eingestellt. Bis auf weiteres. Viele der Bewohner sind überzeugt, dass das Projekt trotzdem gebaut wird.

Was er machen werde, fragte ich den Cafébesitzer und eigentlich erwartete ich keine Antwort. Er hatte trotzdem eine: „Sagt euren Leuten in Europa, dass sie uns erwarten können, wenn der Staudamm gebaut wird“.

(Klara Fall)

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